Rezensierte Publikation:
Anne Warfield Rawls, Hrsg., Harold Garfinkel: Parsons' Primer. Berlin: J. B. Metzler 2019, 393 S., gb., 39,99 €
Dies ist die Publikation eines unveröffentlichten Typoskripts, das Harold Garfinkel im Zeitraum von 1958 bis 1963 in mehrfach überarbeiteter Form verfasst hat. Als „Primer“ wird normalerweise eine einführende Handreichung bezeichnet. Angesichts der komplexen Materie – Parsons’ Theorie war Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre in einem Übergangszustand – schien ein niederschwelliger Zugang durchaus angebracht zu sein. „Priming“ hat jedoch auch andere Konnotationen – nicht zuletzt geht es darum, wie die Herangehensweise an einen Gegenstand geprägt wird. Anne Rawls und Jason Turowetz stellen in ihrer ausführlichen und instruktiven Einleitung Garfinkels Ansatz heraus, Parsons Theorie mit den Leitbegriffen Kultur und Interaktion lesbar zu machen. Hier hätte man auch von einer ethnomethodologischen Lesart sprechen können – schließlich wird der „Primer“ abschließend durch „The Program of Ethnomethodology“ ergänzt. Aber tatsächlich geht es Garfinkel auch darum, die große, wenn auch nicht vollständige Übereinstimmung seiner Theorieauffassung mit – der kritischen Rekonstruktion von – Parsons’ Theorie darzulegen.
Der „Primer“ besteht aus neun Kapiteln, die von unterschiedlicher Qualität sind. Das fünfte Kapitel ragt heraus, weil es einerseits eine enge Zusammenarbeit Garfinkels mit Parsons bezeugt, als dieser seine Replik auf Robert Dubins Kritik der pattern variables verfasst, andererseits an einer Schlüsselstelle von Parsons Theorieentwicklung lokalisiert ist, dem Schritt von den pattern variables zum Vier-Funktionen-Schema. Garfinkels kritische Rekonstruktion von Parsons’ Theorie an dieser Wendemarke stellt den interpretativen Höhepunkt des „Primers“ dar. In anderen Kapiteln ist diese kritische Rekonstruktionsarbeit weit weniger ausgeprägt – so in den Kapiteln zum Wirtschaftssystem und zum politischen System (Kapitel 7), zur sozialen Schichtung (Kapitel 8) und zur amerikanischen Familie unter dem Gesichtspunkt struktureller Belastungen (Kapitel 9). Die Kapitel unterscheiden sich auch hinsichtlich der Qualität der Texte bzw. im Hinblick auf ihren editorischen Zustand (den die Herausgeberin im Original belassen hat). So kommt es zur Wiederholung ganzer Passagen, teils besteht der Text nur aus Stichworten oder bricht inmitten einer Argumentation ganz ab.
Bevor ich auf den Kern von Garfinkels kritischer Rekonstruktion von Parsons’ Theorie eingehe, sind weitere Anmerkungen zum „Priming“ notwendig. Rawls und Turowetz stellen in ihrer Einleitung die dominante Lesart vor, mit der sich die Leser:innen den Text aneignen sollen: Anders als oft beschrieben waren Parsons und Garfinkel keine Kontrahenten in Theorieangelegenheiten, sondern haben umfangreich kooperiert. Dies geht so weit, dass Parsons eigentlich als Interaktionist verstanden werden muss. Der „Primer“ zeigt einen Parsons, den wir bisher nicht gekannt haben, und räumt zugleich mit Fehlinterpretationen auf, die über Parsons’ Theorie zirkulieren. Zugespitzt: Parsons war mehr Ethnomethodologe, als man je vermutet hätte. Und auch umgekehrt: Garfinkel war mehr Parsonsianer als man je vermutet hätte.
Warum aber kommt es dann erst posthum zu einer Veröffentlichung von Garfinkels Schrift? Warum haben beide, Garfinkel und Parsons, sich zeitlebens nicht in ihren Veröffentlichungen zu dieser Kooperation bekannt? Warum kam es dann überhaupt zu der Deutung, Parsons und Garfinkel gingen konträre Wege der Theoriebildung? Darauf geben Rawls und Turowetz in ihrer Einleitung leider keine Antwort – die Leser:innen müssen hier selbst Vermutungen anstellen.
Hierbei könnte es hilfreich sein, sich einen zeitlich weiter greifenden Kontext der Beziehung zwischen Garfinkel und Parsons zu vergegenwärtigen. Garfinkel, der schon 1942 Kontakt zu Parsons aufgenommen hatte,[1] kam 1946 nach Harvard, um bei Parsons zu promovieren. Der „Primer“ wurde wohl durch Parsons’ Einladung zu einer Theoriekonferenz 1958 an Garfinkel initiiert, ihre Beziehung war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon längst etabliert – mehr noch: Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte schon Garfinkels Dissertation und die sie begleitenden Diskussionen wichtige Folgen für Parsons’ Theoriebildung.[2] Leider wird dieser Aspekt von Rawls und Turowetz übergangen – er ist jedoch für die Deutung des „Primers“ aus der Perspektive von Parsons’ Theorie wesentlich.
Garfinkel formuliert in seiner Dissertation, „The Perception of the Other: A Study in Social Order“, von 1952 eine radikale Kritik an Parsons’ Ansatz zur Lösung des Problems sozialer Ordnung. Parsons hatte in der Entwicklung des utilitaristischen Denkens eine Erneuerung des Hobbes’schen Problems diagnostiziert, wie ein Krieg aller gegen alle vermieden werden kann, und eine von Hobbes abweichende Lösung für eine stabile soziale Ordnung vorgeschlagen, die in einem von den Gesellschaftsmitgliedern geteilten Wertesystem mit moralisch verpflichtendem Charakter bestand – Parsons’ normative Lösung (Parsons, 1949 [1937]). Garfinkel konnte in seiner Dissertation zeigen, dass die Formulierung des Hobbes’schen Problems auf einer unausgesprochenen Annahme beruhte: dass die – rational – mit den Mitteln der Gewalt und des Betrugs um Befriedigung ihrer Passionen versprechenden Objekte konkurrierenden Akteure das daraus folgende Chaos nur anrichten konnten, wenn sie sich dabei auf eine gemeinsame, normative Ordnung dieser Objekte beziehen konnten – auf eine gemeinsam geteilte soziale Realität.[3] Die radikale Kritik Garfinkels besteht darin, dass eine Lösung für das Problem der sozialen Ordnung die Frage der Konstitution einer gemeinsam geteilten Realität einbeziehen muss. Diese Kritik könnte als Ausgangspunkt eines antagonistischen Verhältnisses gesehen werden – in dem sich Parsons’ unbelehrbarer Normativismus und Garfinkels Fokus auf die Daueraufgabe der Hervorbringung sozialer Realität gegenüberstehen. Doch hier würde ich Rawls und Turowetz zustimmen, dass Garfinkel und Parsons tatsächlich in einem kooperativen Verhältnis standen – nur eben schon zu einem weit früheren Zeitpunkt als 1958, aber durchaus als Reaktion auf Garfinkels radikale Kritik.
Die Einführung des Problems der doppelten Kontingenz in „The Social System“ (Parsons, 1951) erneuert das Problem der sozialen Ordnung radikal, da sich ego und alter in ihrem sozialen Handeln nun nicht mehr auf schon vorhandene Gemeinsamkeiten berufen können, sondern diese erst erbringen müssen.[4] Dies erweitert Parsons’ Theorie um die Frage, wie mit einer stabilen Ordnung uno actu auch eine gemeinsam geteilte Realität, eine gemeinsame Situationsdefinition, hergestellt werden kann und impliziert darüber hinaus einen Begriff der Interaktion. Es ist dieser Neuansatz, der es Garfinkel im „Primer“ ermöglicht, Parsons’ Theorie kritisch aus einer Perspektive auf Interaktion zu rekonstruieren.
Garfinkels Rekonstruktion auf der Basis des Interaktionsbegriffs akzeptiert Parsons’ ausschließlichen Fokus auf eine Seite der Interaktion, auf einen Akteur – man könnte ihn auch ego nennen. Soziale Strukturen entstehen durch das kooperative Zusammenfügen („assemblies of concerted actions“) von Handlungen/Aktivitäten durch den Akteur, der sich dabei in einer Situation/Umwelt an (sozialen) Objekten – hier wäre der logische Ort von alter ego – orientiert. Dabei folgt er normativen Handlungsmaximen, die den aufgebauten sozialen Strukturen Stabilität verleihen.
Dieser Phänomenbereich – Garfinkel bezeichnet ihn als „soziale Organisation“ – wird durch zwei weitere Bereiche ergänzt (141ff.): soziale Realität und soziale Ordnung. Der fehlende Ausweis einer geteilten, sozialen Realität kennzeichnete ja die Schwachstelle von Parsons’ ursprünglicher, an Hobbes geschulter Problemformel sozialer Ordnung – so die radikale Kritik in Garfinkels Dissertation. Garfinkel schreibt diese Einsicht im „Primer“ direkt Alfred Schütz zu:
„Schutz argued that for Parsons the conception of a world known in common, “common culture”, was problematic only with respect to the question of what was known in common or whether it was known in common but neglected the question of how a community of understandings was possible in the first instance. This task, said Schutz, is that of clarifying the constitutive expectancies whereby a situation acquired its features ‘known in common with others’.” (157 f.)
Entsprechend erweist sich das „common sense knowledge of social structures” im Alltagsleben als Prüfstein für Parsons’ Theorie – allerdings nun für einen geläuterten Parsons, der diese Schwachstelle durch eine „discovery of culture“ beseitigt hat. Dieser Parsons kann das soziale System als Interpretationsregel benutzen, um reale soziale Strukturen zu postulieren. Wenn die von den Akteuren in der Alltagswelt tatsächlich wahrgenommenen realen sozialen Strukturen mit diesen postulierten sozialen Strukturen übereinstimmen, dann liegt ein empirischer Nachweis für die von der Theorie prädizierte stabile soziale Ordnung vor. Im Fall der Mustervariablen heißt das: Wenn es empirisch unmöglich ist, beiden dichotomen Wahlalternativen zugleich Priorität zu geben (146 f.), dann ist dadurch eine stabile soziale Ordnung empirisch (zumindest partiell) nachweisbar. Das theoretische Problem der sozialen Ordnung ist die Imagination einer realen sozialen Ordnung, das empirische Problem ist die Frage, ob die Realität dieser Imagination tatsächlich folgt. Das Problem der sozialen Ordnung wird für Garfinkel deshalb durch eine empirische Strukturanalyse gelöst.
Es sind drei Theoreme, die für Garfinkel Parsons’ Lösung des Problems sozialer Ordnung wesentlich charakterisieren:
„The real social structures consist of institutionalized pattern of normative culture.”
“The stable properties of real social structures are guaranteed by motivated compliance to a legitimate order.”[5]
“Only those legitimate orders can be enforced as definitions of a real world for members – i.e. can be institutionalized – that satisfy the functional problems as conditions for the production of real, stable structures.” (351)
Garfinkel war im Begriff ein viertes Theorem auszuweisen (351 ff.), das den fraglosen, selbstverständlichen Charakter stabiler sozialer Ordnung aus der Binnenperspektive von „Mitgliedern“ beschreiben sollte – was am besten vielleicht im Sinne eines „Systemvertrauens“ zu verstehen ist. Doch dazu liegen lediglich einige Hinweise im Briefwechsel mit Parsons vor, das vierte Theorem hat keine explizite Form mehr gefunden.
Im dritten Theorem bezieht sich Garfinkel auf die Funktionsprobleme, die Parsons in seiner Theorie entwickelt. Garfinkels „interaktionistische“ Interpretation dieser Funktionsprobleme verweist auf Parsons’ „Herleitung“ dieser Funktionsprobleme aus den pattern variables als Kombination von jeweils einer Objektmodalität und einer Orientierungskategorie.[6] Um dies an der A-Funktion (Adaptation) beispielhaft zu verdeutlichen: Eine stabile soziale Struktur bei adaptiven Handlungen liegt vor, wenn der Akteur ein „Gleichgewicht“ zwischen der objektiven Einschätzung seiner Situation (Universalismus – Objektmodalität) und seiner sachlich eingegrenzten Zielführung (Spezifität – Orientierungskategorie) herstellen kann. „Gleichgewicht“ bezieht sich hier immer auf jene selektive Untermenge an Orientierungen und Objektmodalitäten, die der Akteur (ego) mit anderen Akteuren (alter ego) in einer Weise teilt, die stabile Strukturen von sozialem Handeln bzw. Kooperation („concerted actions“) ermöglicht bzw. auf Dauer stellt. Analoge Beschreibungen für die Bedingungen stabiler sozialer Strukturen liegen für die G-Funktion (goal attainment) in der Kombination Performanz-Affektivität, für die I-Funktion (Integration) in der Kombination Partikularismus-Diffusheit und in der L-Funktion („commitment to legitimate orders of orientation“) in der Kombination Qualität-affektive Neutralität vor (183).
Die Pointe von Garfinkels Reinterpretation dieser Kombinatorik liegt in der Behandlung von Kontingenzen bzw. „Systemerfordernissen“ („exigencies“). Was sich aus der Perspektive der Akteure als Kontingenz (der Reaktion von alter ego) erweist, die einen kooperativen Ausgang unsicher erscheinen lässt, ist aus der Perspektive des grenzerhaltenden Systems ein Systemerfordernis, dessen Erfüllung prekär ist. Beide Perspektiven verweisen auf die potenzielle Instabilität sozialer Strukturen. Kontingenzen/Erfordernisse sind immer auch Gegenstand eines alltagsweltlichen, begrenzten Wissens der Akteure als „Mitglieder“ der Gesellschaft. Auch der soziologische Theoretiker verfügt nur über ein provisorisches Wissen über sie. Seine Theorie besagt zwar, dass die von ihm entwickelte Beschreibung der Stabilität sozialer Strukturen, die als Befolgung legitimer normativer Ordnungen durch die Akteure konzipiert ist, diese Kontingenzen bewältigt bzw. die Systemerfordernisse erfüllt. Doch die Begrenzung des Wissens über Kontingenzen/Systemerfordernisse hält die Möglichkeit offen, dass die theoretische Beschreibung – die Strukturanalyse – zumindest partiell scheitert. Hätte der Theoretiker ein perfektes Wissen von den Kontingenzen/Systemerfordernissen, wäre ein solches Scheitern unmöglich. Aus seiner deskriptiven Theorie der motivierten Einhaltung normativer Ordnungen würde eine normative Theorie mit Unbedingtheitsanspruch werden. Das alter ego, das die Einladung von ego zur Kooperation ausschlagen kann, würde sich in ein „cultural dope“ verwandeln: die Karikatur eines normativ konformen Akteurs, die in der Parsons-Kritik zeitweise Hochkonjunktur hatte (vgl. exemplarisch Wrong, 1961), aber – so Garfinkel – auf einer eklatanten Fehlinterpretation beruht. Denn ob Parsons’ deskriptive Theorie normativen sozialen Handelns tatsächlich eine zutreffende Strukturanalyse und Rekonstruktion sozialer Integration liefert, ist für Garfinkel eine offene, empirische Frage. So ist er der Auffassung, dass die Liste der pattern variables womöglich nicht vollständig (114) und dass Parsons’ Analyse eines einheitlichen Wertesystems der Vereinigten Staaten („instrumental activism“) womöglich unzutreffend ist (115) – um nur zwei Beispiele für empirischen Revisionsbedarf zu nennen.
Garfinkels Lesart von Parsons’ Theorie – und hier folgt er Einsichten, die er schon in seiner Dissertation entwickelt hatte – führt zu einer Emphase des Alltagswissens („common sense knowledge“). Der Wertbegriff wird mit dem Problem einer gemeinsam geteilten Realität verknüpft. Stabile, geteilte Werte beschreiben konstitutive Erwartungen – vergleichbar mit Spielregeln, die eben nicht nur Spielzüge normativ regulieren, sondern die gemeinsam von den Spielern geteilte Welt des Spiels erschaffen – und sind deshalb auch in ihrem konstitutiven Bezug einklagbar („enforceable“) und motiviert. In diesem konstitutiven Sinn sorgen sie auch für Objektkonstanz. Dies führt Garfinkel im sechsten Kapitel aus.
Dieses Kapitel wird dann durch drei weitere Kapitel ergänzt, in denen Garfinkels kritische Rekonstruktionsarbeit weit weniger stark hervortritt. Insbesondere das siebte Kapitel – „Economy, Polity, Money, and Power“ – wirft die Frage auf, ob Garfinkels Zugang zu Parsons’ Theorie zu eklektisch ist. Das Kapitel bietet eine gute, knappe Übersicht zu den beiden Funktionssystemen der Gesellschaft. Die Austauschmedien Geld und Macht werden zwar auf Interaktionsprozesse bezogen, es bleibt aber bei einer rudimentären Neuinterpretation. Das Kapitel ist beispielhaft für die hochselektive Aufmerksamkeit von Garfinkel für die Entwicklungsdynamik von Parsons’ Theorie. So führt das Schema der Austauschbeziehungen („boundary interchanges“) zwischen den Funktionssystemen, wie es Parsons als Konsequenz seiner Keynes-Interpretation in den Marshall-Lectures in Cambridge 1953 entworfen hat (Parsons/Smelser, 1956: 68), zu einer Abkehr von einem Modell der Normativität, wie es insbesondere im zweiten Theorem von Garfinkels Rekonstruktion identifiziert wird – was von Garfinkel ignoriert wird.[7] Die Ausblendung zentraler Positionen, die für die Entwicklung von Parsons’ Theorie signifikant sind, ist im Umfang beachtlich und beginnt schon mit Parsons’ methodologischer Position in The Structure of Social Action, dem analytischen Realismus.
Am Ende des „Primer“ findet sich ein kurzer Text mit dem Titel „The Program of Ethnomethodology“ (327 ff.). In diesem Programm wird der Horizont des Alltagswissens und der damit verbundenen „common-sense“-Praktiken als stillschweigende Voraussetzung und ultimative Korrekturinstanz für die professionelle Soziologie generell behauptet, und nicht nur für Parsons’ Theorie – ein Echo der radikalen Kritik, die Garfinkel in seiner Dissertation formulierte.[8]
Damit ist ein Kulminationspunkt erreicht, der eine Einschätzung von Garfinkels kritischer Rekonstruktion von Parsons’ Theorie nahelegt: Es geht Garfinkel nicht um die Weiterentwicklung oder etwa um eine „Ethnomethodologisierung“ von Parsons’ Theorie. Eher geht es ihm um den exemplarischen Nachweis, dass die Ethnomethodologie als eine generelle Kritik konventioneller Theoriebildung in der Soziologie taugt, insofern sie deren stillschweigende Annahme einer gemeinsam geteilten sozialen Realität offenlegt und zum Kriterium ihrer empirischen Überprüfung macht. In den nach dem „Primer“ entstandenen Publikationen von Garfinkel kommt Parsons’ Theorie nicht vor. Die von Garfinkel rekonstruierten Theoreme spielen keine Rolle in seiner weiteren Forschungs- und Theoriearbeit. Auch das fehlende wechselseitige Bekenntnis zu dieser „Kooperation“ von Garfinkel und Parsons ist ein Zeugnis der Zurückhaltung, des unausgesprochenen Vorbehalts und bleibender Ambivalenzen.
Rawls und Turowetz legen in ihrer Einleitung den Fokus auf andere Gründe, die Garfinkel bewogen haben, Abstand von Parsons’ Theorie zu nehmen. Dass Parsons’ Verständnis von Sprache und insbesondere von damit vermittelten Strukturen der Ungleichheit mit einer Ethnomethodologie nicht in Einklang zu bringen war, die die Bewältigung von Handlungskontingenzen gezielt in einer egalitären Situation sprachlicher Kommunikation, in Modellen der Sequenzanalyse und damit verbundenen Regelsystemen erforschen wollte, führt einen Interpretationsrahmen ein, mit dem Rawls und Turowetz weit über den „Primer“ hinausweisen. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse behandelt die in direkter Kommunikation angelegten Möglichkeiten der Reduktion doppelter Kontingenz. Eine theoretische Anstrengung, wie sie Parsons unternommen hat, ist aus ihrer Perspektive schlichtweg redundant.
Mit der Publikation von „Parsons’ Primer“ ist ein erster, wichtiger Schritt vollzogen, um das Verhältnis von Parsons’ Funktionalismus und Garfinkels Ethnomethodologie zu klären. Dafür gebührt der Herausgeberin, Anne Rawls, Dank und uneingeschränkte Anerkennung.
Literatur
Dubin, R. Parsons’ Actor: Continuities in Social Theory. American Sociological Review 1960, 25 (4), 457-466.10.2307/2092931Suche in Google Scholar
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Parsons, T. Pattern Variables Revisited: A Response to Robert Dubin. American Sociological Review 1960, 25 (4), 467–483.10.2307/2092932Suche in Google Scholar
Parsons, T. The Social System: Structure and Function. An Essay in Systematic Sociological Theory, o.D. First Draft; Harvard University Archives, HUGFP 42.45.2, Box 3.Suche in Google Scholar
Parsons, T.; Bales, R. F., Shils, E. A. Working Papers in the Theory of Action; The Free Press: Glencoe/Illinois, 1953.Suche in Google Scholar
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Wrong, D. The Oversocialized Conception of Man. American Sociological Review 1969, 26 (2), 183–193.10.2307/2089854Suche in Google Scholar
© 2022 Harald Wenzel, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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