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Zur Reflexion des philosophischen Stils bei Schiller und Nietzsche

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Veröffentlicht/Copyright: 9. November 2024
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Friedrich Nietzsches Abwendung vom einst verehrten Friedrich Schiller fällt in die Zeit ab 1876, in der er sich für einen neuen Stil entscheidet und die Problematik der philosophischen Schreibart eingehend reflektiert. Die Phasen von Nietzsches Bezugnahmen auf Schiller korrelieren mit anderen Auseinandersetzungen und Abgrenzungen, wobei Schiller in mehreren Konstellationen unterschiedliche Positionen und Funktionen ein- beziehungsweise übernimmt: in der Entwicklung von Nietzsches Reflexion über Wagner sowie auch über Beethoven, in der dynamischen Konkurrenzformel Schiller und Goethe oder Goethe und Schiller, in Überlegungen zur Klassik, Klassizität, Weimarer Klassik oder im Kontext der Abgrenzungen und Umschreibungen des Idealismus u. a.[1] Ich konzentriere mich im Folgenden auf den Zusammenhang zwischen der Stilwende in Nietzsches Schaffen und seiner Abwendung von Schiller.

Im Zeichen dieser Wende unterzieht Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, also im ersten Buch, das er im neuen Stil schreibt, Schillers philosophische Prosa konsequenterweise einer radikalen Kritik. Im Aphorismus 123 aus Der Wanderer und sein Schatten, „Affectation der Wissenschaftlichkeit bei Künstlern“ überschrieben, nennt er Schillers „Prosa-Aufsätze […] in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral nicht angreifen dürfe, – und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Muth haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken“ (MA II, KSA 2, 605). Der durch Schiller repräsentierte philosophierende Künstler beherrsche die wissenschaftliche Methode nicht angemessen, doch entfalte er, so fährt Nietzsche fort, „oftmals keine geringe Kunst darin, alle die Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten, wie sie in der wissenschaftlichen Zunft vorkommen, nachzuahmen, im Glauben, diess eben gehöre, wenn nicht zur Sache, so doch zum Schein der Sache; und diess gerade ist das Lustige an solchen Künstler-Schriften, dass hier der Künstler, ohne es zu wollen, doch thut, was seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen Naturen zu parodiren. Eine andere Stellung zur Wissenschaft, als die parodische, sollte er nämlich nicht haben, soweit er eben der Künstler und nur der Künstler ist.“ (MA II, KSA 2, 605 f.)

Die Kritik an Schillers Art zu philosophieren ist also eingebettet in eine Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, die mit Menschliches, Allzumenschliches neu ansetzt: Nicht länger gilt ein Primat der Kunst, eine bloße Umkehrung dieser Relation intendiert Nietzsche aber auch nicht.[2] Im zitierten Kommentar zu Schillers wissenschaftlichen Ambitionen werden Kunst und Wissenschaft als das jeweils Andere verhandelt, wobei der Kunst eine Aufgabe (ein „Amt“) gegenüber der Wissenschaft zuteilwird: die Aufgabe, in einem ‚Gegenlied‘ („Parodie“) eine Entgegensetzung zu sein.

Die vorliegende Kritik an Schillers philosophischer Prosa ist daher eine doppelte: Konkret wirft Nietzsche Schiller vor, er suche die Mängel seiner philosophischen Methodik durch eine Sprache zu kaschieren, indem er den Stil der Fachphilosophen nachahme. Daraus ergibt sich sein zweiter Kritikpunkt: Schiller verfahre nicht als Philosoph, sondern weiterhin als Künstler, ohne dies allerdings zuzugeben oder es wohl überhaupt zu wissen. Beides wurde an Schillers philosophischen Abhandlungen auch bereits kurz nach deren Veröffentlichung bemängelt. Wilhelm von Humboldt etwa beschrieb damals gegenüber Schiller diesen Tadel als „das alte abgeschmackte Urtheil, daß Sie zu dichterisch schrieben.“[3] Die Gebote oder Normen, die Nietzsches Vorwürfen zugrunde liegen, waren jedoch auch für Schiller verbindlich: Das erste Gebot galt einer Professionalität im Denken, die zunächst Talent, Inspiration und Ernst voraussetzt und jegliche Versprachlichung, so eigen sie auch sein mag, durch methodisches Denken grundiert und mithin der Logik verpflichtet. Die zweite Norm verlangte, philosophisches und poetisches Schreiben nicht zu vermischen.[4]

Nun kann es nicht etwa darum gehen, Schiller gegenüber Nietzsches Kritik zu verteidigen. Es gilt zunächst einfach festzustellen, dass Nietzsche Schillers Umsetzung dieser Gebote zumindest von dem genannten Zeitpunkt an nicht mehr überzeugte.[5] Im Folgenden soll daher in einem ersten Schritt überlegt werden, welche Momente des Denkens über den philosophischen Stil beide Autoren teilen und welche feineren Differenzen gerade auch in Bezug auf das prinzipiell Geteilte aufscheinen. Diese Unterschiede gehen zum Teil auf die je unterschiedliche Sprachauffassung von Schiller und Nietzsche zurück, die im zweiten Teil der nachfolgenden Überlegungen zu reflektieren sind. Wie radikal sich die Stile beider Autoren tatsächlich voneinander unterscheiden, ist auf den ersten Blick evident, denn die Handhabung der Sprache zeigt sich bereits an der Organisation und Dramaturgie der Texte. Daher soll drittens die Differenz an einem konkreten Stilelement, das zugleich eine sprachliche Geste darstellt, diskutiert werden: an der von beiden Autoren denkbar unterschiedlich praktizierten Kunst der Sentenz.

1 Analogien und Differenzen in der Reflexion des philosophischen Stils

Die Frage nach dem Stil gehört für Schiller wie für Nietzsche zu den „philosophische[n] Kardinalfragen“ des Schreibens und Denkens.[6] Beiden Autoren gemeinsam sind diesbezüglich eine Emphase, ein Enthusiasmus sowie auch eine Dringlichkeit, die jeweils an den Begriff der Mitteilung beziehungsweise an das Gebot einer Mitteilbarkeit gebunden sind.[7] Ausgehen möchte ich von den zehn Thesen „Zur Lehre vom Stil“, die Nietzsche im August 1882 an Lou von Salomé adressiert hat (NL, KSA 10, 38 f.; KSB 6, 243 f.). Wenn Nietzsche später einmal formulierte, „Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der ‚Ewigkeit‘; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche nicht sagt…“ (GD, KSA 6, 153), dann kann man mit Blick auf die zehn Sätze aus seiner „Lehre vom Stil“ Ähnliches behaupten. Denn es handelt sich hierbei um eine Art Rhetorik des Schreibens und des Lesens in zehn Sätzen.

Die briefliche „Lehre vom Stil“ ist für jene Stilwende Nietzsches als „das maßgebliche Dokument“ zu betrachten; sie profitiert von seinen bisherigen Erfahrungen und projiziert diese in die Zukunft, beides in werkbiographischer, philologischer sowie darstellungstheoretischer Hinsicht.[8] Wichtig in letztgenannter Perspektive ist „die neuartige und prinzipielle Problematisierung des textuellen Mitteilungscharakters durch Nietzsche.“[9] Wenn man die zehn Thesen mit David E. Wellbery in „einem kulturellen Programm“ verortet, „das die Rehabilitierung der ethischen Bedeutung sprachlicher Gestaltung zum Ziel hat“,[10] dann ist damit die gemeinsame Basis von Schillers und Nietzsches Emphase und Dringlichkeit in Sachen philosophische Prosa benannt. Intendiert doch Schiller, dass an seinem eigenartigen, aber nicht minder reflektierten philosophischen Stil nicht nur die Möglichkeit eines „schönen Umgangs“ aufscheint, sondern dieser Umgang in und an der Sprache realisiert und somit zum Vorschein der Freiheit wird.[11]

Mit vier Motiven aus Nietzsches „Lehre vom Stil“, die auch den Zusammenhang des Ganzen fundieren, kann man sich Schillers philosophischem Stilbestreben annähern. Das erste Motiv ist prinzipiell sprachtheoretischer Art und liegt in der dynamischen Auffassung des Stils, die sich auf die Vorstellung der Stilzüge als „Gebärden“ beruft. Das zweite Motiv hängt hiermit zusammen. Es ist die Orientierung des Schreibens am mündlichen Vortrag und, insoweit es sich um ein wirkungsästhetisches Gebot handelt, ist es rhetorischer Natur.[12] Ein drittes, Schiller und Nietzsche gemeinsames Motiv zeigt sich in der besonderen Rolle, die der Instanz des Lesers im Rahmen des Aptums zugewiesen wird. Und schließlich gründet eine wichtige Analogie zwischen Schillers und Nietzsches jeweiliger Perspektive auf den philosophischen Stil in der angedeuteten Reflexion über das Verhältnis von philosophischer und poetischer Schreibweise.

Zu einem „Stil der Bewegung“[13] hebt Nietzsche in seiner ersten These an mit der Formulierung „der Stil soll leben.“ (NL, KSA 10, 38) Dies führt er in der fünften These aus: „Der Reichtum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden. Man muß Alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente – als Gebärden empfinden lernen“ (ebd.). Die angeführten Mittel, mit denen die Strategie der Dynamik zu realisieren seien, können nur zum Teil für Schillers philosophische Stilpraxis in Anspruch genommen werden. Jedoch sind die Idee der Sprache als „Gebärde“ sowie auch deren Implikationen beiden Autoren vertraut. Für Schillers Stilbestreben können die Hinweise in Abbé Condillacs Traité de l’art d’écrire (1775) geltend gemacht werden; dieses Buch dürfte dem Stilunterricht von Johann Christoph Schwab an der Karlsschule zu Stuttgart zugrunde gelegt haben, der es unter dem Titel Die Kunst zu schreiben (1777) anonym übersetzte.[14]

Condillac geht in seiner Sprachursprungstheorie, auf der seine Stil-Lehre beruht, davon aus, dass sich die Sprache von den Gesten herleitet und progressiv abkoppelt; von einem (wie er es nennt) langage d’action, das Gesten wie Mienen meint. Im Zeitalter des stummen Lesens, so Condillac, gelte es nun, der geschriebenen Sprache mittels eines besonderen Stils eine solche Qualität der Gebärden (so lautet die Übersetzung von action durch Schwab) wieder zu gewinnen, die dem mündlichen Vortrag analog wäre. Ähnlich formuliert Nietzsche in seiner vierten These „Zur Lehre vom Stil“: „Weil dem Schreibenden viele Mittel des Vortragenden fehlen, so muß er im Allgemeinen eine sehr ausdrucksvolle Art von Vortrag zum Vorbild haben“ (NL, KSA 10, 38); in der dritten These schreibt er: „Man muß erst genau wissen: ‚so und so würde ich dies sprechen und vortragen‘ – bevor man schreiben darf. Schreiben muß eine Nachahmung sein“ (ebd.).

In der Umsetzung dieser Aufgabe, dem Geschriebenen durch den Stil Wirkungen zu verleihen, die der mündlichen actio analog wären, unterscheiden sich allerdings Nietzsche und Schiller maßgeblich. Bei Nietzsche dürften sein eigentümlicher Umgang mit der Interpunktion, mit dem Gedankenstrich, mit Aposiopese sowie überhaupt seine Rhythmik diese Strategie verfolgen. Schiller arbeitet in seinen Abhandlungen der 1790er Jahre dagegen vornehmlich mit der Periode. Er folgt dabei weitgehend den Anweisungen von Condillac und bringt dann jenen besonderen ‚Sound‘ hervor, der den Lesern von Schillers Prosa so vertraut ist. Schiller verwendet prinzipiell zwei Satz-Typen: entweder die symmetrisch aufgebaute, viergliedrige Periode mit einem bedeutenden Ruhepunkt in der Mitte oder ein dreigliedriges Satzganzes, das der Regel der wachsenden Satzglieder folgt. Während der erste Typus die Dualismen, von denen Schiller ausgeht, abbildet, verweisen die dreigliedrigen Perioden auf jene Vermittlung der Gegensätze in einem Ganzen, um die Schillers Denken ringt. Eine besondere Rhythmik und Melodik erhalten dann Schillers Perioden durch metrische Anklänge sowie durch die Satzschlüsse, in denen er kunstvoll verschiedene Möglichkeiten des cursus einsetzt.[15]

Nietzsche dagegen warnt im sechsten seiner Sätze „Zur Lehre vom Stil“ gerade vor der Periode: „Vorsicht vor der Periode! Zur Periode haben nur die Menschen ein Recht, die einen langen Athem auch im Sprechen haben. Bei den Meisten ist die Periode eine Affektation“ (NL, KSA 10, 39). In der eingangs zitierten Kritik Nietzsches an Schillers Art zu philosophieren schwingt womöglich die Abneigung gegenüber Schillers Periodenbildung mit. Auch der Zusatz, die Künstler würden im Stil die Philosophen unwillkürlich parodieren, scheint dies zu bekräftigen. Genau diese Art von Kritik formulierten bereits Schillers Zeitgenossen aus dem Umkreis der Kant-Gegner, zu denen etwa Friedrich Nicolai gehörte. Nietzsches komplexe Kombinationen von Länge und Kürze zusammen mit der von ihm selbst erwähnten Interpunktion erscheinen geradezu als ein Gegenprogramm zu Schillers Praxis des langen Atems sowie der rhythmisch-melodischen Abrundung der Sätze, Absätze und ganzer Texte. Schiller achtete bewusst auf die Kunst der Periode, wie besonders eindrücklich seine Kritik an den Perioden Johann Gottlieb Fichtes zeigt. Und in der anschließenden Diskussion hierzu – der Verteidigung Fichtes sowie den Bemerkungen Wilhelm von Humboldts – spielt gerade das Kriterium des mündlichen Vortrags eine argumentative Rolle.[16]

Das dritte, mit Schillers Intentionen korrespondierende Motiv aus Nietzsches Thesen zum Stil besteht in der zentralen Bedeutung, die im Rahmen des Aptums der Beziehung von Autor und Adressat zugewiesen wird. Diese Beziehung bestimmt er im zweiten der Sätze als wechselseitige Bedingtheit sowie als „Gesetz der doppelten Relation“ (NL, KSA 10, 38) und führt aus: „Der Stil soll dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du dich mittheilen willst“ (ebd.). Ebenso wie der appellative Gestus in der Warnung vor der Periode ist auch dieser mit dem „Du“ versehene Satz thetisch und performativ zugleich, adressieren die Gesten – Gebärden – doch auch konkret die Adressatin und realisieren somit, was sie verhandeln.[17]

Gerade der Bezug auf den Leser in der aptischen Dimension des Schreibens (das heißt im Rahmen der Korrelation zwischen Autor, Gegenstand und Adressat des Textes, die Johann Christoph Adelung einst emphatisch als „Wahrheit des Styles“ apostrophierte)[18] ist für Schillers philosophische Texte zentral. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen setzte er geradezu virtuos die Beziehung des Autors zu einem doppelten Adressaten thematisch um: Der Schreiber wendet sich an den Fürsten und Regenten, dem er die Briefe schreibt und zugleich an das bürgerliche Publikum der Zeitschrift Die Horen, in der die Briefe publiziert werden. Beide Parteien werden involviert, beide sollen davon überzeugt werden, dass die Kunst in der Gesellschaft unverzichtbar sei, da sie eine unabdingbare Funktion im Staat ausübe. Die doppelte Adressierung, die sich im hohen Stil der Briefe über die ästhetische Erziehung manifestiert, erzeugt eine besondere Spannung, wie auch die unmittelbaren Reaktionen auf diese Schrift zeigen.

Schiller ist jedoch weit davon entfernt, eine Individualität des Autors durch den Stil einer philosophischen Schrift aufscheinen lassen zu wollen. Nietzsche hebt dagegen in der genannten These sowie in dem „Gesetz der doppelten Relation“ den Autor nachdrücklich hervor: „Der Stil soll dir angemessen sein“ – und meint dabei zugleich die Hinsicht auf den Adressaten. Diese individualstilistische Grundierung ist Schillers Auffassung fremd. Sein philosophischer Stil ist jedoch denkbar eigentümlich, und zwar in einer Art und Weise, die Schiller selbst zunächst nicht sehen mochte. Erst im Zuge des Streits um diesen Stil, in der brieflichen Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichte, ist ihm allmählich jene Eigentümlichkeit des eigenen Stils bewusst geworden. Entsprechend schwingt er sich am Ende dieser Kontroverse zu einer Charakteristik seiner philosophischen Schreibart als Ausdruck des Individuums empor: Diejenigen Schriften, die einen „von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen, und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt,“ können nach seiner Einschätzung „nie entbehrlich werden“, da sie „ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten, eben weil jedes Individuum einzig und mithin unersetzlich ist.“[19] Zu diesen Schriften zählt nun Schiller auch seine eigenen. Allerdings äußert er dies lediglich im privaten Kontext eines Briefes, den er noch dazu nie abgeschickt hat.

Während Nietzsches Betonung des Individuellen am Stil nur eine partielle Analogie zu Schiller bildet, gestaltet sich ihr Verhältnis zum Leser und zum Publikum jeweils agonal und in vergleichbarer Intensität. Schiller äußert im bereits zitierten Konzept des Briefes an Fichte, das Kriterium der Popularität sei ihm gleichgültig; sein Publikum suche er dadurch zu gewinnen, „daß ich es durch die lebhafte und kühne Aufstellung meiner Vorstellungsart zu überraschen, anzuspannen und zu erschüttern suchte.“[20] Dies bezeichnet eine Art und Weise, die nach Schillers Aufführung in einem „Krieg“ gegen das Publikum münden könne.[21] Nietzsche geht im letzten Satz seiner „Lehre vom Stil“ von einer ganz anderen Wirkungsstrategie aus: „Es ist nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände vorwegzunehmen. Es ist sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen, die letzte Quintessenz unserer Weisheit selber auszusprechen“ (NL, KSA 10, 39). Gerade an eine solche, mitschöpferische Tätigkeit des Lesers denkt Schiller nicht; vielmehr verlangt er, dass ihm der Leser in aller Anstrengung folgt. Dies ergibt sich etwa aus seiner Antwort auf die Frage Christian Gottfried Körners, ob die philosophische Herleitung in den Briefen über die ästhetische Erziehung, in kompromisslos strengem Stil gehalten, dem Publikum nicht zu viel zumutet: „Der Leser soll denken“,[22] antwortet Schiller darauf. Dort, wo Schiller mit Erschütterung oder aber mit einem Imperativ aufwartet, verweist Nietzsche auf eine Rhetorik sowie eine Kunst des Lesens. In der von beiden ganz unterschiedlich praktizierten Kunst der Sentenz wird diese Differenz manifest, wie später noch diskutiert werden soll.

Ein vierter Aspekt der Stilproblematik, unter dem die Reflexionen von Schiller und von Nietzsche miteinander verglichen werden können, bezieht sich auf das Verhältnis von philosophischem und poetischem Schreiben. „Der Takt des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin, dicht an die Poesie heranzutreten, aber niemals zu ihr überzutreten“ (NL, KSA 10, 39), formuliert Nietzsche im neunten Satz seiner „Lehre vom Stil“.[23] Gerade auch hier leuchtet der prospektive Aspekt seiner brieflichen Skizze auf; thematisiert er doch die Gratwanderung zwischen beiden Ausdrucksmodi später mannigfaltig. In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es unter „Prosa und Poesie“: „Man beachte doch, dass die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Geheimen und für das ‚Kämmerlein‘; und fürwahr, man schreibt nur im Angesichte der Poesie gute Prosa! Denn diese ist ein ununterbrochener artiger Krieg mit der Poesie: alle ihre Reize bestehen darin, dass beständig der Poesie ausgewichen und widersprochen wird; jedes Abstractum will als Schalkheit gegen diese und wie mit spöttischer Stimme vorgetragen sein“ (FW, KSA 3, 447).

Philosophische Schreibweise („Prosa“) ist bei Nietzsche im spielerischen Agon mit der poetischen („Poesie“) inbegriffen („Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa!“ [ebd., 448]). Schiller dagegen meinte dem Gebot, in philosophicis nicht Poesie zu betreiben, zu folgen. Nach Auffassung vieler seiner Zeitgenossen ist es ihm jedoch nicht gelungen. In seiner Apologie des eigenen Stils gegenüber Fichte, der ihm vorwarf, er würde Bilder anstelle von Begriffen setzen, was eben eine Übertretung dieses Gebotes bezeichnen würde, zeigt sich Schiller dieser Problematik bewusst und zugleich auch selbstbewusst. In der Folge dieser Auseinandersetzung mit Fichte hat er jedoch das philosophische Schreiben, also „Prosa“, zugunsten der „Poesie“ (im Sinne der Terminologie Nietzsches) aufgegeben. Einige der philosophischen Gedichte Schillers, die nach seiner philosophischen Phase, also vom Sommer 1795 an entstanden sind, erscheinen nun, im Lichte von Nietzsches Kritik an Schillers philosophischer Prosa sowie eingedenk seines Diktums, Künstler haben Wissenschaft zu „parodieren“, geradezu als „Gegenlieder“ zur Philosophie.

2 Die Differenzen in der Sprachauffassung

Die von Nietzsche thematisierte Spannung von „Prosa“ und „Poesie“ kann historisch auch in der traditionellen Diskussion zum Verhältnis von Bild (und zum Teil Anschauung) und Begriff verortet werden. In der Perspektive auf Nietzsches beziehungsweise Schillers Reflexion des philosophischen Stils ist diese Diskussion sprachtheoretisch zu verhandeln, wobei es ebenso deutliche Konvergenzen wie Divergenzen zwischen beiden Autoren gibt. Beide begegnen sich in der systematischen Unterscheidung von Prosa und Poesie und unterscheiden sich in der jeweiligen Auffassung der Semiose.

Der Prosa eignet der Ausdruck des Allgemeinen, in der Poesie realisiert sich das Individuelle. In Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst etwa, die bekanntlich zu den Quellen von Nietzsches frühen Studien zur Rhetorik gehörte,[24] wird diese funktionale Unterteilung genau ausgeführt: Die Sprache als Mittel diene vier Zwecken: dem Bedürfnis, der Mitteilung, der Prosa und der Poesie. In der Poesie aktualisiere sich „die Sprache des Individuums“, die Prosa sei ein Organon des Allgemeinen, als Sprache „des menschlichen Verstandes“.[25] Bei Schiller geht die Trennung von philosophischer und poetischer Schreibweise auf frühere Normen zurück, die er in der Karlsschule gelernt hat.[26] Während nun jedoch Nietzsche später die höchste Kunst des philosophischen Schreibens in einer agonalen Beziehung zur Poesie beschreibt, strebt Schiller eine Synthese des Verstandesmäßigen – und mithin Intersubjektiven – und des Individuellen an und bringt das Ideal eines gelungenen Stils auf die Formel „generalisierte Individualität“: „Bey Aufstellung des Schriftstellerischen Ideals würde ich vorzüglich auf das Verhältniß der Objectivitaet und Subjectivitaet Rücksicht nehmen, worauf alles anzukommen scheint. In dem lebendigen Umgang wird alles Objektive subjektiviert, weil das ganze Individuum hier mitspricht, und auf ein Individuum gewirkt wird. Bey dem Schriftstellerischen Vortrag soll auf die Gattung gewirkt werden, und das muß durch die Gattung geschehen. Es soll aber zugleich auf jedes Individuum als solches, gewirkt werden, und das muß durch Individualität geschehen. Also ist die Forderung: generalisierte Individualität. Um diese Idee würde ich mich hauptsächlich drehen, wenn ich diese Materie zu behandeln hätte […].“[27]

Die Individualität ist hier allerdings nicht an einen „poetischen“ Stil gebunden, sondern verweist auf die Problematik der Abwesenheit des Autors in der schriftlichen Kommunikation und mithin erneut auf die Notwendigkeit, im Schriftlichen die mündliche Situation zu kompensieren, um ohne das „accompagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken“.[28]

Nietzsches neunte These zum Stil lautet: „Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen.“ (NL, KSA 10, 39) Sie weist nicht nur eine Nähe zu Schillers Rede von einer „generalisierten Individualität“ auf, sondern auch eine Differenz zu dem, wie Schiller die Notwendigkeit einer Rückführung der Begriffe auf Anschauungen denkt. Geht doch die Leistung der Schönheit für Schiller, wie es im 17. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen heißt, darin auf, „als lebendes Bild die abgezogene Form mit sinnlicher Kraft aus[zu]rüsten, den Begriff zur Anschauung und das Gesetz zum Gefühl zurück[zu]führen.“[29] In seiner anthropologischen Ästhetik scheint somit die spätere physiologische Ästhetik Nietzsches in gewisser Hinsicht vorweggenommen zu werden.

Allerdings ist zugleich die radikale Differenz in der jeweiligen Sprachtheorie beider Autoren zu beachten, die, wie bereits angedeutet, in ihrem jeweiligen Verständnis von Semiotik liegt. Beachtung verdient bei Nietzsche die frühe sprachkritische Reflexion, prominent in seinem Text Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ausformuliert, die der Begrifflichkeit prinzipiell eine Metaphorizität und mithin der Sprache eine unumgängliche Rhetorizität attestiert.[30] Diese Art von Sprachkritik, die die Referenzialität des sprachlichen Zeichens in Frage stellt, ist Schiller fremd. Vielmehr vertraut er zuversichtlich auf die Leistungsfähigkeit des arbiträren Zeichens, wenn es darum geht, die Realität aufgrund der Konvention zu repräsentieren. Schillers eigene Sprachkritik, so wie er sie in den sogenannten Kallias-Briefen an Christian Gottfried Körner ausformuliert, gilt lediglich der notwendigen Abstraktionsleistung der Sprache. Diese mache es unmöglich, Individuelles und Präsentisches als solches zu vermitteln: „‚Der eben jetzt vor mir stehende Leuchter fällt um‘ ist ein solcher individueller Fall, durch Verbindung lauter allgemeiner Zeichen ausgedrückt. Die Natur des Mediums, deßen der Dichter sich bedient, besteht also ‚in einer Tendenz zum Allgemeinen‘ und ligt daher mit der Bezeichnung des Individuellen (welches die Aufgabe ist) im Streit. Die Sprache stellt alles vor den Verstand, und der Dichter soll alles vor die Einbildungskraft bringen (darstellen) die Dichtkunst will Anschauungen, die Sprache gibt nur Begriffe“.[31]

Deutlich ist die Differenz dieser Gedanken zu jener Passage aus Über Wahrheit und Lüge, in der Nietzsche die Zuversicht darauf, die Sprache würde die Realität treffen (im Sinne einer adaequatio rei), ironisch verspottet, um zugleich den Part des genuin Schöpferischen am Menschen in der Selbstvergessenheit seines Sprachgebrauchs hervorzuheben: „nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz“ (WL, KSA 1, 883). Der umfallende Leuchter in Schillers Text kann als Beispiel für die Verfahrensweise der Sprache im Sinne der überlieferten Semiotik dienen. Ist diese doch eine Theorie, die in axiomatischer Weise Arbitrarität und Konventionalität des sprachlichen Zeichens setzt. Bei Nietzsche dagegen dienen die Beispiele („diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch“) einer Sprachkritik, die jegliche epistemische Leistung der Sprache in Bezug auf das vermeintlich Bezeichnete zur Disposition stellt.

Gegenstand der Sprachkritik Schillers ist nicht die Referenzialität des sprachlichen Zeichens überhaupt, sondern lediglich die Schwierigkeit der Poesie, die das schlechthin Besondere darstellen will, jedoch mit einem Medium arbeiten muss, das prinzipiell auf die Vermittlung des Allgemeinen aus ist. Schillers Lösung lautet dann: „Die Schönheit der poetischen Darstellung ist ‚freie Selbsthandlung der Natur in den Feßeln der Sprache‘“;[32] es handelt sich um eine Art Sentenz, die allerdings nicht ausgeführt wird, denn die Kallias-Briefe brechen hier ab.

Wilhelm von Humboldt wunderte sich und bedauerte es auch, dass Schiller keine Sprachtheorie ausformulierte.[33] Man könnte Humboldt antworten, dass bei Schiller die Kunst und das sprachliche Kunstwerk an die Stelle der Sprache als Gegenstand und Medium der Reflexion, aber auch als Organon der Weltformung treten – nämlich die schöne „poetische Darstellung“.

Schiller würde daher Nietzsche vielleicht zustimmen, wenn dieser schreibt, für ihn sei „die richtige Perception – das würde heissen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt – ein widerspruchsvolles Unding“ (WL, KSA 1, 884), um dies wie folgt zu begründen: „[D]enn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf“ (ebd.). Was Schiller vermutlich an Nietzsches Gedanken interessiert hätte, durchaus pragmatisch als Dichter und Philosoph zugleich, ist die Frage, inwieweit und wie jene „andeutende Uebertragung“ Erkenntnis vermitteln würde.

Denn die Transformation einer cognitio intuitiva in die cognitio symbolica sowie die daraus folgende Versprachlichung (vox) der Begriffe (notiones) stellte Schiller nicht in Frage. Es interessierte ihn, da er dem Ethos der Mitteilung verpflichtet war, wie man entsprechend der neunten These Nietzsches abstrakte Wahrheiten wirksam vermittelt und wie das Verhältnis von Anschauung und Begriff im Text produktiv zu realisieren wäre. Die „Rückführung der Begriffe auf Anschauungen“ war seine Lösung. Gegen den Vorwurf Fichtes, seine „Art“ sei „völlig neu“, denn er setze Bilder anstatt Begriffe und würde daher die Einbildungskraft zum Denken zwingen, was sie jedoch nicht könne,[34] wehrte sich Schiller zunächst vehement und verwies auf die im strengen philosophischen Stil gehaltenen Briefe 19–23 von Über die ästhetische Erziehung, in denen Bild und Begriff sich in einer „Wechselwirkung“ begegneten.[35] Dennoch dürfte Schiller, ähnlich wie die Individualität seines eigenen Stils, auch dieser Einwand von Fichte allmählich als zutreffend und mithin für seine eigenen Überlegungen relevant erscheinen.

In den Gedichten, die auf den Streit mit Fichte folgen, hat Schiller nun jene Idee einer „Rückführung der Begriffe auf Anschauungen“ radikal umgesetzt. Wichtig ist dabei seine implizite Metapherntheorie. Diese wartet mit einer anderen erkenntnistheoretischen Pointe auf als diejenige Nietzsches. Denn Schiller vertraut weiterhin auf die Referenzialität des sprachlichen Zeichens. Seine Metapherntheorie geht prinzipiell – in der Nachfolge etwa von Johann Georg Sulzer – von einer spezifischen epistemischen Dignität der Metapher aus: Die Bildung einer Metapher erlaube es, einen ersten distinktiven Zug an dem zu erkennenden Gegenstand zu identifizieren, und ermögliche somit die Bildung eines ersten, klaren Begriffs (notio clara). Somit wird, folgt man Schiller, auch das Fortschreiten auf einen distinkten sowie dann auch einen komplexen Begriff hin befördert. Die zunächst methodisch gewonnenen Begriffe in einem Text können nach seiner Auffassung auf Anschauungen „rückgeführt“ werden. Dies lenkt den Blick auf die Rolle der Personifikation in Schillers philosophischen Schriften, in denen uns, wie es Ernst Cassirer formulierte, „Schillers Theorie […] selbst in der Art und Form eines Dramas gegenüber[tritt]“.[36] Dabei wird der Leser dazu disponiert, jenen Weg der Erkenntnis selbst eigens zu beschreiten.

Nietzsche setzt die Bildlichkeit – ähnlich wie das Figurale – in radikaler Art und Weise ein, nicht zuletzt zugunsten einer Perspektivik. Er überlässt es eben, wie es die bereits zitierte zehnte These seiner „Lehre vom Stil“ formuliert, dem Leser, „die letzte Quintessenz unsrer Weisheit selber auszusprechen“ (NL, KSA 10, 39). Seine Kunst des Aphorismus, die eine Kunst der Interpretation erfordert, löst dies ein. Schiller rechnet dagegen (wie im nächsten Abschnitt mit Blick auf die Praxis der Sentenz noch präzisiert wird) mit einer prinzipiellen Einspurung des Lesers. Diese manifestiert sich nicht zuletzt durch seine von Anfang seines philosophischen Schreibens an charakteristischen „definitorischen Kraftakte“.[37] Die nach Schillers philosophischer Phase entstandenen Gedichte allerdings verlangen nach einer besonderen Kunst der Interpretation.[38] Und in diesem Anspruch auf einen interpretatorischen Nachvollzug seitens des Lesers sind sie womöglich mit dem Anspruch von Nietzsches „Langaphoristik“[39] und „Kurzessayistik“[40] vergleichbar.

3 Die Kunst der Sentenz

Die Differenzen zwischen Schillers und Nietzsches Auffassung des philosophischen Stils können an den Unterschieden in der jeweiligen Praxis der Sentenz exemplifiziert werden. Als Referenzpunkt seien die Theorie und Praxis der französischen Moralistik ins Spiel gebracht, die ja nicht zuletzt auch für eine spezifische Kunst der Sentenz stehen. Bei Schiller ist eine Rezeption der französischen Moralisten in konkreter Weise nicht belegt.[41] Doch gerade dies ist bei Nietzsche der Fall. Und dieser Bezug, der längst Gegenstand der Forschung ist, gewährt für die Diskussion seiner Stilwende erhellende Einsichten.

Für die folgenden Überlegungen lohnt es sich, eine enge Definition der französischen Moralistik zu verwenden.[42] Diese bezeichnet eine Kunst, Sitten (mœurs) zu behandeln oder zu analysieren, ohne sich von Normen unbedingt binden zu lassen. Praktiziert wird diese Kunst durch mehrere Autoren des 17. und zum Teil auch des 18. Jahrhunderts, die sich offener, fragmentarischer und eher kürzerer Formen bedienen – Maxime, Sentenz, Reflexion, Anekdote, kurzer Essay, Charakterdarstellung, Porträt, Fabel und vierzeilige Gedichte (quatrains). Die französischen Moralisten sind weder Dichter noch Philosophen und sie zeichnen sich durch ihre Vorliebe für eine oppositionelle Haltung aus, besonders gegenüber philosophischen Schulen. Sie gehen dabei, wie es Louis Van Delft formuliert, ihrem goût pour la liberté nach.[43] Eine berühmte Sentenz des von Nietzsche mehrfach erwähnten Vauvenargues lautet dementsprechend: „Le premier soupir de l’enfance est pour la liberté“ („Der erste Seufzer der Kindheit gilt der Freiheit“).[44] Dieses Interesse an der Freiheit kann dazu führen, dass sich der Moralist gelegentlich widerspricht; man solle daher, so folgert Van Delft, dem Moralisten „das grundsätzliche Recht einräumen, von sich selbst manchmal genauso abzuweichen wie von den Anderen“.[45]

Die Formen, Schreibverfahren und Formate, in denen sich die französische Tradition gefällt, weisen zwei Züge auf, die auch von Nietzsche produktiv umgewandelt werden. Der erste besteht in der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Werke und Gesamtwerke, die sich in der Syntax eines style coupé sowie in der Diskontinuität ganzer Texte äußern kann, so dass die Texte eine Tendenz zur Aggregatbildung aufweisen. Dieser style coupé entfaltet sich bei La Bruyère und gipfelt bei Voltaire. Er verzichtet auf die elegante Eloquenz der Periode und erzielt eine maximale Wirkung bei minimalen stilistischen Mitteln. Zweitens tendieren Texte der Moralisten zur Pointe: Aphorismen verschränken sich mit Anekdoten und alles läuft in schnellen und lapidaren Formeln auf den überraschenden, in seiner Plötzlichkeit beglückenden finalen Schlussstrich einer Sentenz zu. Diesem Schlussstrich kann etwas gewaltsam Entschiedenes, geradezu Exekutorisches anhaften; „trait final et exécutoire“ nannte Julien Benda die abschließenden Sentenzen La Bruyères.[46] Mit Blick auf die Parallelen bei Nietzsche dürfte noch die Tatsache interessant sein, dass den Sentenzen über ihre eigene Verquickung kognitiver, ethischer und ästhetischer Funktion hinaus eine Verwandtschaft mit einem Richterspruch eigen ist, der nachdrücklich auf Einlösung insistiert.

Wenn bei Schiller die Rezeption der französischen Moralisten nicht konkret belegt ist, so bedeutet dies nicht, dass er diese Autoren und deren Texte nicht kannte. Denn die Rezeption der französischen Moralisten im deutschsprachigen Gebiet ist zwar bereits relativ gut erforscht,[47] jedoch weithin nur dort, wo es konkrete Belege gibt. Daher wurden jene mannigfaltigen Bezugnahmen auf Texte und Textsegmente der Moralisten, die eben nicht namentlich erwähnt werden, bislang weniger beachtet. So befasst sich etwa Johann Christoph Adelung in seiner bereits erwähnten Abhandlung Über den deutschen Stil eingehend und kritisch mit La Rochefoucaulds Sentenz „man ist niemahls weder so glücklich noch so unglücklich, als man sichs einbildet“.[48] Den Autor nennt er aber nicht und zudem benutzt er diese Sentenz als ein negatives Beispiel: Sie sei nicht gut, weil sie nicht eindeutig ist. Dieses Beispiel kann miterklären, warum die Rezeption der französischen Moralisten gerade bei Schiller namentlich nicht bezeugt ist:[49] Schiller ist mit einer Stil- und Denklehre sozialisiert worden, die eben jene Polyperspektivik sowie den potentiellen Selbstwiderspruch der französischen Moralistik sanktioniert. Entsprechend sind seine eigenen Sentenzen von einer ganz anderen Art als diejenigen Nietzsches.

Die Sentenz kann traditionellerweise als ein allgemeiner Satz (vox universalis nach Quintilian) bestimmt werden, der „unabhängig vom Zusammenhang eines Falles Anerkennung finde[t]“[50] in der argumentativen Invention (probatio) sowie auch in der illokutionären Ausgestaltung (ornatus) der Rede Funktionen übernehmen kann. Im Unterschied zum Aphorismus ist die Sentenz also in einen Ko-Text eingebunden und in mehrfacher Hinsicht an die Autorität ihres Urhebers gebunden. Dies ist auch das Merkmal, das sie vom Aphorismus unterscheidet.

Nietzsche scheint zunächst Sentenz und Aphorismus weitgehend synonym zu gebrauchen, wie seine bereits zitierte Behauptung, dass er darin ein erster Meister unter den Deutschen sei (vgl. GD, KSA 6, 153), bezeugt. Diese Synonymie hängt womöglich einerseits mit dem ursprünglichen Titel von La Rochefoucaulds berühmter Sammlung zusammen, der Maximes, Sentences et Reflexions lautet. Andererseits dürfte die progressive Ausdifferenzierung von Aphorismus und Sentenz bei Nietzsche auch mit dem Einfluss von Lichtenberg zu tun haben.[51] Die Sentenz jedenfalls behält bei Nietzsche den Charakter einer klassischen paradoxen Kleinform, die sich durch die Tugend der brevitas auszeichnet: „Lob der Sentenz. – Eine gute Sentenz ist zu hart für den Zahn der Zeit und wird von allen Jahrtausenden nicht aufgezehrt, obwohl sie jeder Zeit zur Nahrung dient: dadurch ist sie das große Paradoxon in der Literatur, das Unvergängliche inmitten des Wechselnden, die Speise, welche immer geschätzt bleibt, wie das Salz, und niemals, wie selbst dieses, dumm wird“ (MA II, KSA 2, 446).

Offenbar schätzt Nietzsche an der Sentenz außer Präzision und Kürze, die sie mit dem Aphorismus wie mit dem Fragment teilt, dass sie latent an den ursprünglichen Ko- und Kontext der Äußerung gebunden bleibt. Und schließlich scheint Nietzsche gerade auch den exekutorischen, gleichsam hinrichtenden Charakter jenes trait final et exécutoire zu akzentuieren, der die Sentenz zugleich als Richt- und als Denkspruch bestimmt. „La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung […] gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in’s Schwarze treffen“ (MA I, KSA 2, 59), formuliert er hierzu. Die Ausrichtung auf die finale Pointe und mithin auf einen vorläufigen Abschluss der Beobachtungen, die der französischen moralistischen Praxis der Sentenz eigen ist, scheint der Poetik Nietzsches jedoch fern zu liegen.

Schiller ist ein ausgewiesener Meister der Sentenz, und zwar in ihrem Charakter als finaler Schlussstrich wie zugleich in ihrer Eigenschaft, sich von Ko- und Kontext loszulösen und in verschiedene Zitatenschätze auszuwandern. Mit Blick auf diese Prägungen würdigt ihn auch Nietzsche, allerdings durchaus ambivalent, nämlich in kritischer Absetzung von Shakespeare: „Die Sentenzen Schiller’s (welchen fast immer falsche oder unbedeutende Einfälle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark: während die Sentenzen Shakespeare’s seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber für die Augen des Theaterpublicums zu fern und zu fein, also unwirksam sind“ (MA I, KSA 2, 161).

Schiller selbst schätzte die Sentenz in Dramen aus einem bestimmten Grunde: Sie setze die Darstellung auf Distanz und befreie den Leser somit von der Anschauung. Der Zweck dieser Abkühlung besteht für ihn darin, den Leser in (seine) Freiheit setzen. Im Aufsatz Über die tragische Kunst beteuert Schiller ausdrücklich den „große[n] Reiz, welchen allgemeine Wahrheiten oder Sittensprüche, an der rechten Stelle in den dramatischen Dialog eingestreut, für alle gebildete Völker gehabt haben […]. Nichts ist einem sittlichen Gemüthe willkommener, als nach einem lang anhaltenden Zustand des bloßen Leidens aus der Dienstbarkeit der Sinne zur Selbstthätigkeit geweckt, und in seine Freyheit wieder eingesetzt zu werden.“[52] In seinen philosophischen Schriften arbeitet Schiller mit der Sentenz auf eine ähnliche Art und Weise: Die Sentenzen, mit denen er die jeweiligen Briefe über die ästhetische Erziehung abschließt, rücken das bis dahin Besagte auf Distanz und runden es endgültig ab; in ihren ambivalenten Ausformulierungen geben sie allerdings Rätsel auf, wie etwa der letzte Satz des ersten Briefs, der wie folgt lautet: „Die ganze Magie derselben [der Schönheit] beruht auf ihrem Geheimniß, und mit dem nothwendigen Bund ihrer Elemente ist auch ihr Wesen aufgehoben“.[53] Diese Art, ganze Passagen mit einer großen Geste abzuschließen, wurde bereits von Schillers Zeitgenossen als ungebührlich theatralisch moniert.

Nietzsches Abwendung von Schiller geht mit seiner Zuwendung zu einem Stil einher, der auf „definitorische Kraftakte“ verzichtet. Seine Aphorismen mit der ihnen eigenen Tendenz zur Entgrenzung gehen ganz andere Wege als Schillers Sentenzen.[54] Letztere sind in ihrem Ko- und Kontext angemessen zu verstehen. Sie tendieren jedoch dazu, sich zu verselbständigen und ihren Charakter als ein trait final et exécutoire auszustellen, indem sie zu moralischen, von Trivialität bedrohten Parolen herabsinken. Dagegen fordern Nietzsches Aphorismen eine eigene Kunst der Interpretation.

Online erschienen: 2024-11-09
Erschienen im Druck: 2024-11-08

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. 10.1515/NIFO-2024-026
  3. Teil I: Schiller, Nietzsche und die Genealogie der Moderne
  4. Zum Themenschwerpunkt:
  5. Schiller und Nietzsche – Gegenstrebige Fügung
  6. Der Wille zur Würde oder: Tanz der Sprachkörper
  7. Rationalismuskritik bei Schiller und Nietzsche
  8. Asketische Ideale und Metaphysic der Kunst
  9. Ethik und Ästhetik in Moderne und Spätmoderne: Von der „schönen Seele“ zur „erschöpften Selbstverwirklichung“
  10. Moralkonzept – Bildungsideal – Geschichtskonstruktion: Analogien und Differenzen zwischen Schiller, Schopenhauer und Nietzsche
  11. Zur Reflexion des philosophischen Stils bei Schiller und Nietzsche
  12. Singularisierung
  13. ‚Gegenwart‘ bei Schiller und Nietzsche
  14. Von steilen Thesen. Nietzsche, Schiller und die Physiologie der Kultur
  15. Teil II: Nietzsche-Werkstatt: Friedrich Nietzsche – Die Basler Vorlesungen (31. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta vom 05. bis 08. September 2023) Wissenschaftliche Leitung: Carlotta Santini und Enrico Müller
  16. Friedrich Nietzsche – Die Basler Vorlesungen: Zur Einführung
  17. Philology as an aesthetische Wissenschaft
  18. Nietzsches Mysterien einer Philosophie des Tragischen
  19. Auf der Suche nach der Instinktsprache in der Tragödie: Gebärden- und Tonsprache in Nietzsches Basler Vorlesungen
  20. Die Bedeutung von Nietzsches Empedokles-Lektüre für die Ausbildung seiner dionysischen Naturauffassung
  21. Nietzsche’s Basel Lectures on Plato: Unveiling the Revolutionary Figure of the Philosopher as Legislator
  22. Die Nachplatonischen Philosophen: Über eine nie gehaltene Basler Vorlesung
  23. Was ist ein ‚wahrer‘ Lehrer?
  24. Zur „Genesis des jetzigen Philologen“ anhand der Basler Schriften von Friedrich Nietzsche (1869–1875)
  25. Teil III: Beiträge
  26. Vom Porträt zur Ikone – Die Online-Datenbank NietzschePics
  27. Nur ‚Künste und Listen der Selbst-Erhaltung‘?
  28. Nietzsches Umwertung der platonischen und augustinischen Lichtmetaphorik
Heruntergeladen am 17.12.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/NIFO-2024-007/html
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