Home Philosophy Moralkonzept – Bildungsideal – Geschichtskonstruktion: Analogien und Differenzen zwischen Schiller, Schopenhauer und Nietzsche
Article Open Access

Moralkonzept – Bildungsideal – Geschichtskonstruktion: Analogien und Differenzen zwischen Schiller, Schopenhauer und Nietzsche

  • Barbara Neymeyr EMAIL logo
Published/Copyright: November 9, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

1 Perspektiven auf das stoische Ethos bei Schiller, Schopenhauer und Nietzsche: Allianzen und Konfrontationen

In der Götzen-Dämmerung etikettiert Nietzsche den Idealisten Schiller am Anfang des Kapitels Streifzüge eines Unzeitgemässen pauschal und apodiktisch als den „Moral-Trompeter von Säckingen“ (GD, KSA 6, 111). Seine Radikalität erhält dieses Verdikt durch den Titel: Meine Unmöglichen (ebd.). – Zuerst erscheint hier „Seneca: oder der Toreador der Tugend“ (ebd.), und nach Rousseau folgt dann an dritter Stelle „Schiller: oder der Moral-Trompeter von Säckingen“ (ebd.). – Dass Schiller zusammen mit Seneca dem Verdikt Nietzsches verfällt, ist hier sicher kein Zufall. Denn in seiner Schrift Über das Pathetische erweist Schiller gerade Seneca seine Reverenz, wenn er auf das stoische Postulat der Seelenstärke und Affektabwehr durch ‚virtus‘ und ‚constantia‘ rekurriert. Schiller propagiert hier nämlich die erhabene „Gesinnung“ des „vom Schicksal unabhängige[n] Charakter[s]“ und orientiert sich dabei ausdrücklich am Ethos der Stoiker: „Ein tapferer Geist, im Kampf mit der Widerwärtigkeit, sagt Seneka [sic], ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter“ (FA 8, 440).[1]

Leiden und der Kampf um dessen Bewältigung hat eine zentrale Bedeutung für Schillers Dramenästhetik, der zufolge der tragische Dichter „uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht“ (ebd., 423); und daher gelte: „Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund tun und sich handelnd darstellen könne“ (FA 8, 423). In diesem Sinne muss laut Schiller „der tragische Held“ zunächst „als empfindendes Wesen“ gezeigt werden, bevor wir „an seine Seelenstärke glauben“ (ebd.). Eine solche „Seelenstärke“ entspricht dem stoischen Ideal der ‚firmitas animi‘ und offenbart nach Schillers Überzeugung wahre „Größe“ und „eine erhabene Seele“, wie sie der Stoiker „Epiktet“ gezeigt habe (ebd., 458). Signifikanterweise beruft sich Schiller auf antike Beispiele wie den von Winckelmann beschriebenen „Laokoon“[2] und dessen „Stärke des Geistes“ im „höchsten Schmerze“ (FA 8, 434).

Schon in der Hohen Karlsschule wurde Schiller durch seinen Lehrer Jacob Friedrich Abel mit der stoischen Ethik vertraut gemacht, also mit dem Ideal stoischer Affektbewältigung, Selbstdisziplin, Seelenstärke und Geistesruhe (auch unter Rekurs auf Cicero und Seneca); und genau dieses stoische Ethos hat Schiller in seinem klassischen Drama Maria Stuart später auf geradezu idealtypische Weise verwirklicht: durch die Entwicklung der Protagonistin.[3] Bereits in einer an der Karlsschule verfassten Frühschrift reflektiert Schiller über die „wahrhaftig großen Seelen“, spielt damit auf die stoische ‚magnanimitas‘ an und betont exemplarisch „die hohe Tugend eines Brutus und [Mark] Aurels, den Gleichmut eines Epiktets und Seneka“ (FA 8, 123). Dass sich „der tragische Held“ (respektive die Titelheldin Maria Stuart) im Leiden und angesichts der unmittelbar bevorstehenden Hinrichtung schließlich durch eine vorbildliche „Seelenstärke“ (ebd., 423, 440) im Sinne der stoischen Philosophie auszeichnet, entspricht zugleich den wirkungsästhetischen Strategien des Dramatikers Schiller, der ‚Pathos‘ als Leiden ebenso inszeniert wie dessen Bewältigung: Wer „in einem Sturm, der die ganze sinnliche Natur aufregt, seine Gemütsfreiheit zu behalten“ vermag, zeigt dadurch „ein Vermögen des Widerstandes, das über alle Naturmacht unendlich erhaben ist“ (ebd., 423).

Schon die Stoiker setzen die ‚tempestas‘-Metapher topologisch ein, um dieses Ethos zu veranschaulichen: So thematisiert Seneca im 88. Brief seiner Epistulae morales die Stürme der Seele („tempestates […] animi“):[4] Dem Weisen schaden die Lebensstürme nicht,[5] weil das durch die Philosophie mögliche Glück durch keinen Sturm zu erschüttern ist.[6] – Der von Seneca und Schiller verwendeten Sturm-Metapher entspricht übrigens das analoge Bild eines Unwetters am Ende von Nietzsches nachgelassener Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Mit dem Ethos der ‚constantia‘ während des Unwetters verbindet sich auch hier eine stoische ‚probatio‘ (WL, KSA 1, 890): „der stoische, […] sich beherrschende Mensch“ legt „im Unglück“ geradezu ein „Meisterstück der Verstellung ab“, denn „er trägt kein zuckendes und bewegliches Menschengesicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigem Gleichmaasse der Züge […]. Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter ihr davon“.[7]

Zwar inszeniert Nietzsche die Selbstbeherrschung des stoischen Menschen hier durchaus mit positivem Akzent, aber zugleich deuten sich bereits Vorbehalte an, die er später sogar mit erstaunlicher Drastik artikuliert, wenn er die Haltung des Stoikers durch maskenhafte Selbstinszenierung und einen dubiosen Heroismus charakterisiert. Wer in stoischer ‚Ataraxia‘ und ‚Apatheia‘ erstarrt, riskiert laut Nietzsche nämlich den Verlust emotionaler Erlebnisintensität und intellektueller Sensibilität. Schon in seiner Schrift Richard Wagner in Bayreuth betont er, „dass die Leidenschaft besser ist, als der Stoicismus und die Heuchelei“ (WB, KSA 1, 506 f.). Und Die fröhliche Wissenschaft beschreibt die „Selbstbeherrschung“ (FW, KSA 3, 543) der Stoiker dann sogar als eine permanente „Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen“ (ebd.): „immer scheint es diesem Reizbaren, als ob jetzt seine Selbstbeherrschung in Gefahr gerathe: er darf sich keinem Instincte, keinem freien Flügelschlage mehr anvertrauen, sondern steht beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaffnet gegen sich selber, scharfen und misstrauischen Auges, der ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht hat. Ja, er kann gross damit sein! Aber wie unausstehlich ist er nun für Andere geworden, wie schwer für sich selber, wie verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele!“ (FW, KSA 3, 543)

Ein solcher Habitus kann in unvernünftige Exzesse der Selbstdisziplinierung münden, wenn die Resorption sogar des Schädlichsten gegen die unkalkulierbare Fortuna immunisieren soll – als prophylaktische Abhärtung von exzessiver Radikalität, die der Stoiker auch gern vor „Publicum“ zelebriert: „Der Stoiker […] übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet“ (FW, KSA 3, 544).

Anstelle stoischer Radikalkuren zur Selbst-Immunisierung und statt eines allzu demonstrativen Heroismus empfiehlt Nietzsche allen „Menschen der geistigen Arbeit“ lieber ein moderates, epikureisches Lebensmodell: „Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüssen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen“ (ebd.).

Obwohl auch Arthur Schopenhauer gewisse Vorbehalte gegen den Typus des stoischen Weisen erkennen lässt, zeigt er insgesamt eine recht positive Einstellung zur „stoische[n] Ethik“,[8] die seines Erachtens „ein sehr schätzbarer […] Versuch“ ist, „die Vernunft“ zur Überwindung von „Leiden und Schmerzen“ (WWV I, 145) zu nutzen und „Glück durch Geistesruhe“ (ebd., 140) zu erzielen. Dabei versteht Schopenhauer die stoische ‚Ataraxia‘ (ἀταραξία) als Basis einer ‚Eudaimonia‘, die primär Schmerzreduktion (statt Glücksmaximierung) biete: nämlich infolge der conditio humana, dass „alles Leben Leiden“ ist (ebd., 426). Allerdings reflektiert Schopenhauer auch das Risiko einer psychischen Verhärtung durch den stoischen „Panzer gegen die Leiden des Lebens“,[9] durch den „der stoische Weise“ mitunter wie ein „hölzerner, steifer Gliedermann“ erscheine (WWV I, 147), und präferiert stattdessen die indischen „Weltüberwinder“ (ebd.). Trotz deutlicher Differenzen im Willenskonzept lassen Schopenhauers Ethik und Ästhetik Affinitäten zu den stoischen Idealen erkennen.[10]

Erheblich größere Ambivalenzen als Schopenhauer zeigt Nietzsche in seiner Einstellung zum Stoizismus. So bezeichnet er die Stoiker in Jenseits von Gut und Böse einerseits als „Schauspieler und Selbst-Betrüger“ (JGB, KSA 5, 22) und attestiert ihnen eine emotionale Verarmung, die bis zur „Bildsäulenkälte“ reiche (JGB, KSA 5, 118). Andererseits erscheint ihm das Ethos der Selbstdisziplin, das bereits Schiller unter Berufung auf die „Seelenstärke“ der Stoiker propagiert (FA 8, 423), aber sogar als wichtiges Movens der Kulturentwicklung,[11] da der menschliche „Geist“ sich vor allem „unter langem Druck und Zwang“ ins „Feine und Verwegene entwickeln“ könne (JGB, KSA 5, 61). Wie der mit „jeder Moral“ verbundene Zwang kann laut Nietzsche auch der „Stoicismus“ die intellektuelle Entfaltung und kulturelle Entwicklung vorantreiben (JGB, KSA 5, 108). So konstatiert er im Rückblick auf den Zivilisationsprozess, gerade „dies Gewaltsame“ und „Harte“ habe „dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtlose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet“ (JGB, KSA 5, 109), die sogar bis zu psychischer Selbst-Vivisektion reichen könne: „denn wir experimentiren mit uns […] und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf“ (GM, KSA 5, 357). – Diese Radikalität ist Schiller freilich fremd. – Mit dem identifikatorischen Appell: „bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!“ (JGB, KSA 5, 162)[12] fokussiert sich Nietzsche auf die „Philosophie der Zukunft“, für deren Avantgardisten er die ‚freien Geister‘ hält. Mit dem „Moraltrompeter“ Schiller stimmt er zumindest partiell in positiven Aussagen zum stoischen Ethos der Seelenstärke und Selbstdisziplin überein.

2 Schiller, Schopenhauer und Nietzsche – vereint im Irrtum über Kants Ethik

Im Folgenden wird zu zeigen sein, inwiefern die in der Grundtendenz übereinstimmende Kritik, die Schiller, Schopenhauer und Nietzsche gegen Kants Pflichtethik richteten, auf fundamentalen Missverständnissen beruht, die auch den Forschungsdiskurs prägen.[13] Erstaunlicherweise teilt Nietzsche die Kant-Kritik Schillers, obwohl er ihn so charakterisiert: „Schiller gehört zu jenen Deutschen, welche die großen glänzenden Worte und Prunk-Gebärden der Tugend liebten ( – selbst sein Geschmack an der Kantischen Moral und ihrem unbedingten Commando-Tone gehört hierhin – )“ (NL 36[38], KSA 11, 567). Mit dieser Einschätzung verkennt Nietzsche, wie energisch sich gerade Schiller vom angeblichen Moralrigorismus Kants abgrenzt. Anders, als es Nietzsche suggeriert, besteht die eigentliche Front allerdings gerade nicht in seiner eigenen Opposition zu Kant und Schiller. Denn tatsächlich formuliert Nietzsche seine Kritik an der Kantischen Pflichtethik sogar ganz analog zu Schiller und folgt damit Schopenhauer, der seinerseits die Kant-Kritik Schillers ausdrücklich befürwortet. Insofern gestalten sich die Allianzen völlig anders, als Nietzsche es in seinem Notat voraussetzt.

In seiner Schrift Über Anmut und Würde (1793) beanstandet Schiller bei Kant die „Härte“ einer „grelle[n] Entgegensetzung“ von Pflicht und Neigung (FA 8, 367): Dabei sieht er die „Rigidität“ der „imperative[n] Form des Moralgesetzes“ sogar in „Knechtschaft“ münden (ebd., 369). Stattdessen propagiert Schiller ein Ethos der „Liberalität“ (ebd., 381) und will die Neigung an moralischem Verhalten in dem Sinne beteiligen, dass er die „Tugend“ als „Neigung zu der Pflicht“ definiert (ebd., 366). Dabei führt Schiller „die sittliche Vollkommenheit des Menschen“ allein auf den „Anteil seiner Neigung an seinem moralischen Handeln“ zurück (ebd.). Sein eigenes Ideal der „schönen Seele“ impliziert eine Harmonie von „Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung“ (FA 8, 371), ja sogar von Würde und Anmut.[14] Damit glaubt Schiller eine moderatere Alternative zum vermeintlichen Kantischen ‚Moralrigorismus‘ gefunden zu haben. – Im Zyklus der gemeinsam mit Goethe verfassten Xenien pointiert Schiller seine Kant-Kritik satirisch, und zwar in Epigramm-Form:

  „Gewissensskrupel

Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,

Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

  Decisum

Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten,

Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.“[15]

Mit subversivem Esprit inszeniert Schiller hier seine kritische Perspektive auf die Moralphilosophie Kants. Mit ironischer Übertreibung suggeriert er, ein freundschaftliches Verhalten ‚aus Neigung‘ gerate unweigerlich in Konflikt mit der Kantischen Pflichtethik, so dass nur die strategische Verachtung der Freunde noch Moralität in Kantischem Sinne ermögliche. – Insofern täuscht sich Nietzsche fundamental, wenn er ausgerechnet Schiller eine Präferenz für die „Prunk-Gebärden der Tugend“ und eine Nähe zur „Kantischen Moral und ihrem unbedingten Commando-Tone“ glaubt attestieren zu können (NL 36[38], KSA 11, 567). Eine solche Affinität Schillers zu Kant bestätigt sich hier nämlich gerade nicht: Ganz im Gegenteil attackiert bereits Schiller mit Nachdruck den angeblichen Moralrigorismus Kants.

Der Suggestivkraft von Schillers satirisch pointierter Kritik an Kants Pflichtethik erlag übrigens auch Schopenhauer: Er attestiert der Kantischen Ethik einen „Fehler“, der „oft gerügt und von Schiller in einem Epigramm persifliert“ worden sei (KKP, 704).[16] Unter Berufung auf Schillers „Gewissensskrupel“ in den Xenien kritisiert Schopenhauer Kants Auffassung, eine gute „Tat“ müsse „allein aus Achtung vor […] dem Begriff der Pflicht“ erfolgen (KKP, 704): weder „aus Neigung“ noch aus „Mitleid oder Herzensaufwallung“, die „wohldenkenden Personen, als ihre überlegten Maximen verwirrend, sogar sehr lästig sind; sondern die Tat muß ungern und mit Selbstzwang geschehn“ (ebd., 704 f.).[17] – Allerdings bedarf Schopenhauers Kant-Paraphrase hier einer Korrektur: Denn Pflicht und Neigung betrachtet Kant keineswegs per se als inkompatibel. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten differenziert er nämlich zwischen drei Handlungstypen, die das Kriterium moralischen Handelns erfüllen: Handlungen ‚aus Pflicht‘ und ‚gemäß der Neigung‘ oder ‚ohne Neigung‘ oder ‚entgegen der Neigung‘.[18] Der Fall eines Handelns ‚aus Pflicht‘ und ‚gemäß der Neigung‘ in Abgrenzung vom Handeln ‚aus Neigung‘ und ‚gemäß der Pflicht‘ hat dabei sogar eine besondere systematische Relevanz: nämlich als Basis für die Unterscheidung von Moralität und Legalität, die Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten am Beispiel eines ehrlichen Kaufmanns erläutert.[19]

Schopenhauer jedoch attackiert als angebliche „Forderung Kants, daß jede tugendhafte Handlung aus reiner, überlegter Achtung vor dem Gesetz und nach dessen abstrakten Maximen kalt und ohne, ja gegen alle Neigung geschehn solle“ (KKP, 705), übersieht dabei aber – wie zuvor bereits Schiller – den von Kant mitgedachten und sogar systematisch bedeutsamen Fall eines Handelns ‚aus Pflicht‘ und ‚gemäß der Neigung‘. Daher meint Schopenhauer der Pflichtethik eine „Apotheose der Lieblosigkeit“[20] vorwerfen zu können und behauptet sogar dezidiert, dass „Kant in die eigentliche Bedeutung des ethischen Gehaltes der Handlungen keineswegs eingedrungen sei“ (KKP, 706).[21]

Nietzsche schließt offenbar an Schopenhauers Kant-Kritik an, wenn er in der Morgenröthe die unhaltbare These aufstellt: „Zu verlangen, dass die Pflicht immer etwas lästig falle – wie es Kant thut – heisst verlangen, dass sie niemals Gewohnheit und Sitte werde: in diesem Verlangen steckt ein kleiner Rest von asketischer Grausamkeit“ (M, KSA 3, 236). – Nachweislich verfälschen Schopenhauer und Nietzsche die Aussage Kants, der in der Kritik der praktischen Vernunft Neigungen allein als die entscheidende Triebfeder moralischer Handlungen ausschließt, sie dabei aber keineswegs prinzipiell als Hindernisgrund von Moralität betrachtet. Zu beachten ist nämlich Kants einschränkender Konditionalsatz: „Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Theilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte[n] Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein“ (AA 5, 118).

In seiner Kritik der Kantischen Philosophie intensiviert Schopenhauer Kants Wertung „lästig“ zu „sogar sehr lästig“ (KKP, 705). Und Nietzsche ergänzt sie in der Morgenröthe durch „immer“, wenn er behauptet, Kant verlange, „dass die Pflicht immer etwas lästig falle“ und nie zum Ethos werde, so dass sein Pflichtpostulat einen „Rest von asketischer Grausamkeit“ offenbare (M, KSA 3, 236). Beide ignorieren jedoch den wichtigen Konditionalsatz Kants, der einen Pflicht-Purismus allein im Hinblick auf den konstitutiven Bestimmungsgrund moralischen Handelns beansprucht, aber eine Beteiligung von Neigungen dadurch keineswegs kategorisch ausschließt. Denn in der Kritik der praktischen Vernunft erhebt Kant zur Bedingung von Moralität eine „Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegursachen unseres Begehrens“ (AA 5, 117). – Demnach akzeptiert Kant Neigungen durchaus als Begleitphänomene, solange das Pflichtgesetz als eigentlicher Bestimmungsgrund der moralischen Handlung fungiert. Daher klassifiziert Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auch Handlungen ‚aus Pflicht‘ und ‚gemäß der Neigung‘ als moralisch – entgegen der Ansicht von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche.

Von einem freudlosen Moralrigorismus der Kantischen Pflichtethik (im Sinne von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche) kann auch dann nicht die Rede sein, wenn Kant in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sogar ausdrücklich „das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht“ empfiehlt: als „Zeichen der Ächtheit tugendhafter Gesinnung“, die es ermöglicht, dass „das Gute auch lieb gewonnen“ werden kann (AA 6, 24).

Verfehlt sind also die Unterstellungen von Schiller, Schopenhauer und Nietzsche, eine moralische Handlung ‚aus Pflicht‘ könne laut Kant nicht ‚gemäß der Neigung‘ erfolgen. Vorschnell übernimmt Nietzsche offenbar die Suggestion aus Schopenhauers Schrift Kritik der Kantischen Philosophie, Kant postuliere für moralische Handlungen, dass sie „ungern und mit Selbstzwang geschehn“ müssen, nämlich „kalt und ohne, ja gegen alle Neigung“ (KKP, 705). Und Schopenhauer seinerseits befürwortet den „Vorwurf […] des Schillerschen Epigramms, ‚Gewissensskrupel‘ überschrieben“ (WWV I, 107) gegen die Kantische Pflichtethik. – Kant selbst jedoch hält auch ein moralisches Handeln ‚aus Pflicht‘ und ‚gemäß der Neigung‘ für möglich, ja er weist ihm sogar eine wichtige Funktion zu: bei der Abgrenzung der Moralität von bloßer Legalität am Beispiel des ehrlichen Kaufmanns, dem nicht anzusehen ist, ob er moralisch (‚aus Pflicht‘ und ‚gemäß der Neigung‘) oder nur legal (‚aus Neigung‘ und ‚gemäß der Pflicht‘) handelt.[22] Das verkennen Schiller, Schopenhauer und Nietzsche bei ihrer Kant-Kritik.

Wenn Nietzsche also den Enthusiasmus Schillers für „Prunk-Gebärden der Tugend“ und seinen „Geschmack“ am „unbedingten Commando-Tone“ der „Kantischen Moral“ beanstandet (NL 36[38], KSA 11, 567), dann entgeht ihm Wesentliches: erstens die eigene Allianz mit dem „Moraltrompeter“ Schiller (KSA 6, 111) gegen Kants Pflichtethik – und zweitens die Problematik der Kant-Kritik von Schiller und Schopenhauer, die er selbst unkritisch adaptierte. Offenbar ohne es zu bemerken, bläst Nietzsche seine anti-kantische Fanfare also auch auf Schillers ‚Moraltrompete‘.

3 Intermezzo: Nietzsches Polemik gegen Schillers theoretische Ambitionen

Angesichts der Übereinstimmung Nietzsches mit dem Grundansatz von Schillers Kritik am angeblichen Moralrigorismus Kants überrascht es, wie vehement er gegen Schiller als ‚Denker‘ polemisiert hat. Im Text 123 von Menschliches, Allzumenschliches II (1886) wendet sich Nietzsche nämlich mit apodiktischer Radikalität gegen den Theorie-Anspruch von Schillers moralästhetischen Schriften. Dabei inszeniert er ihn sogar exemplarisch, um eine „Affectation der Wissenschaftlichkeit bei Künstlern“ zu problematisieren: „Schiller glaubte, gleich anderen deutschen Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl mit der Feder improvisiren. Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze da, – in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral nicht angreifen dürfe, – und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Muth haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken“ (MA, KSA 2, 605). Ironisch pointiert Nietzsche anschließend die Reputationsschäden, die solche Wilderer auf fremdem Terrain riskieren: Wenn ein „Künstler“ wie „Schiller“ es wage, „auch einmal über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der Wissenschaft ein Wort mitzusprechen“, dann zeige er dabei per malheur, „dass die Vorrathsspeicher seines Wissens theils leer, theils mit Krimskrams gefüllt sind“ (ebd.). Zugleich unterlaufe einem solchen „Künstler-Kinde“ bei der Imitation der „Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten“ der „wissenschaftlichen Zunft“ sogar eine unfreiwillige Parodie (MA, KSA 2, 605 f.). – In der Götzen-Dämmerung charakterisiert Nietzsche selbst später das „Denken“ als „eine Art Tanzen“ – „auch mit der Feder“ (GD, KSA 6, 109 f.) – und etikettiert den „grossen Kant“ dann im Kontrast dazu maliziös als den „verwachsensten Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat“ (GD, KSA 6, 110). Dabei zielt Nietzsches Polemik auf divergierende Denkweisen und Schreibstile.

Bei seiner Attacke auf Schillers theoretische Ambitionen verkennt Nietzsche allerdings, dass gerade Schiller zum Typus des ‚poeta doctus‘ gehörte: Vielfältig gebildet und nachweislich mit der Ideengeschichte seit der Antike vertraut, engagierte sich Schiller in den intellektuellen Diskursen seiner Epoche: sowohl im Gespräch als auch durch Briefwechsel mit Zeitgenossen.[23] Auf der Basis seiner persönlichen Vertrautheit mit Schiller betont etwa Wilhelm von Humboldt, wie sehr „der Gedanke das Element“ von Schillers Leben war, so dass er stets „dem Gebiete des Denkens neuen Boden zu gewinnen suchte“ und bei der „Beschäftigung mit abstracten Ideen“ eine produktive Synthese von „Poesie und Philosophie“ intendierte, um „die Identität ihres Ursprungs zu fassen“.[24] – Markant erscheint hier gerade der Kontrast zu Nietzsches pauschaler Polemik gegen die theoretischen Ambitionen Schillers. Übrigens entfaltet Schiller selbst in seiner kleinen Schrift Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen sehr differenzierte Gedankengänge (vgl. FA 8, 677–679, 685–688, 694–697), mit denen sich Nietzsches Polemik leicht zurückweisen lässt. Zudem befremdet Nietzsches exemplarische Attacke auf Schiller auch angesichts der ausgeprägten Affinitäten zu ihm: gerade im Bereich von Moralkritik, Bildungsideal und Geschichtskonzeption.

4 Das Bildungsideal im Kontext von Anthropologie und Kulturgeschichte: Aspekte des Geistesaristokratismus bei Schiller, Schopenhauer und Nietzsche

Schon in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher (1874), der dritten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen, entfaltet Nietzsche kritische Kulturdiagnosen, die interessante Analogien zu Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen erkennen lassen. Analog zum Postulat der Ganzheitlichkeit in der Anthropologie der Klassik, das Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen bestimmt, liegt auch Nietzsches Schrift Schopenhauer als Erzieher das Ideal einer umfassenden Persönlichkeitsentfaltung zugrunde. Unterschiede zeichnen sich aber insofern ab, als Nietzsches Reflexionen dabei stärker auf das Individuum fokussiert sind als die eher kulturanthropologisch ausgerichtete Argumentation Schillers.[25]

In auffallender Weise stimmen Grundtendenzen in Nietzsches Schrift Schopenhauer als Erzieher und in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen überein, etwa wenn Schiller die fortschreitende Spezialisierung in der Geschichte der Zivilisation hier kulturhistorisch begründet und dabei zugleich deren Vor- und Nachteile reflektiert. Außerdem betont bereits Schiller – wie später auch Nietzsche – den „Kontrast“ zwischen der modernen und „der griechischen“ Kultur (FA 8, 570). Das Charakteristikum der modernen Zivilisation sieht Schiller darin, dass Individuen und „ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten“, so dass sie „verkrüppelten Gewächsen“ ähneln (ebd., 571): „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus“, so dass er infolge seiner einseitigen Spezialisierung „nie die Harmonie seines Wesens“ entwickeln kann (ebd., 572 f.). – Eine spezifische Ambivalenz im Prozess der Kulturentwicklung erblickt Schiller darin, dass sich gerade „dieser Zerstückelung“ bei „den Individuen“ entscheidende „Fortschritte“ der menschlichen „Gattung“ verdanken, so dass ein „Antagonism der Kräfte“ schließlich einem übergeordneten Zweck dient, indem er als „das große Instrument der Kultur“ fungiert (ebd., 575, 576).

Um den negativen Konsequenzen der modernen Spezialisierung für das Individuum entgegenzuwirken, formuliert Schiller ein anthropologisches Telos, das er zugleich kulturästhetisch begründet: Ihm geht es darum, die durch Einseitigkeit geopferte „Totalität in unsrer Natur“ durch „höhere Kunst wieder herzustellen“ (FA 8, 578), so dass der Mensch zu einem „in sich selbst vollendeten Ganzen“ werden kann (ebd., 620).

An anthropologischen Konzepten der Klassik sind nicht nur Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen orientiert, sondern auch Nietzsches Schrift Schopenhauer als Erzieher, die gleichfalls ein programmatisches Ideal der Ganzheitlichkeit propagiert: Denn Nietzsche sieht „die Aufgabe“ von „Erziehung“ darin, „alle vorhandenen Kräfte“ des Menschen „in ein harmonisches Verhältniss“ zu bringen (SE, KSA 1, 342 f.). Anstelle einer Perfektionierung von Spezialbegabungen postuliert er integrale Persönlichkeiten, die ihr ganzes Potential entfalten können (vgl. SE, KSA 1, 341–350). – Als negativen Gegenpol dazu betrachtet Nietzsche den Wissenschaftsbetrieb seiner eigenen Zeit, der die Persönlichkeit gelehrter Spezialisten verkümmern lasse und insofern ein humanes Bildungsideal verfehle. In einer amüsanten Gelehrtensatire karikiert er die spezifischen Defizite dieses Menschentypus (vgl. SE, KSA 1, 394–400). Der Misere der zeitgenössischen Pädagogik und Universitätskultur hält Nietzsche die Überlegenheit der antiken Erziehung und Bildung entgegen.[26] – Auch Schiller betont die Depravationen des Menschen in der Zivilisation und die Entzweiung durch Gelehrsamkeit (vgl. FA 8, 568, 572) gerade im Kontrast zur Einheit von Sinnen und Geist in der griechischen Antike (vgl. ebd., 570). – Andere Akzente als Schiller setzt Nietzsche jedoch, wenn er beim Blick auf die spezifische Krisensituation seiner Epoche das Epigonensyndrom sowie Décadence-Symptomatik, Desorientierung und Defätismus betont (vgl. SE, KSA 1, 366 f.) und Schopenhauers Philosophie als ideales Korrektiv zu moderner Überkompliziertheit propagiert.[27]

Mit Schillers Persönlichkeitsideal gemäß der Anthropologie der Klassik ist Nietzsches Hoffnung auf Bildung durch eine innere „Befreiung“ des Menschen (SE, KSA 1, 341) problemlos kompatibel, die er – anders als Schiller – allerdings zugleich mit dem Paradigma eines ‚unzeitgemäßen‘ Philosophen verbindet: Laut Nietzsche kann gerade sein eigener ‚Erzieher‘ Schopenhauer als Vorbild wirken: durch sein paradigmatisches Ideal des Menschen, das „uns aufwärts zieht“ (SE, KSA 1, 376). Und wie Schiller verbindet auch Nietzsche sein Kulturkonzept mit einem Naturideal, da der Mensch durch Kultivierung zur „Vollendung der Natur“ gelangen könne (SE, KSA 1, 341). Laut Schiller ruft „die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte“, uns schließlich „in den Schoß der Natur zurück“ (FA 8, 581). Im Hintergrund stehen hier die Zivilisationskritik und Naturideologie Rousseaus, die Schiller mit Postulaten der Aufklärung und dem klassischen Humanitätsideal verbindet, da seines Erachtens sowohl die „Aufklärung des Verstandes“ als auch die „Ausbildung des Empfindungsvermögens“ die „Einsicht“ und die „Veredlung des Charakters“ fördern (FA 8, 582, 583).

Das Harmonie-Konzept einer klassischen Anthropologie verbindet Schiller zugleich mit einer idealistischen Ästhetik, wenn er (durchaus im Sinne Platons) durch Schönheit den Zugang zu den Ideen eröffnet sieht (vgl. FA 8, 657). Die Verbindung „des Empfindens und des Denkens“ durch „die Schönheit“ (FA 8, 622, 623) ermögliche eine „ästhetische Kultur“ (FA 8, 636) als harmonische Totalität. Dabei sind Schillers anthropologische Perspektiven kulturhistorisch grundiert (vgl. FA 8, 665–676): Denn in der Menschheitsgeschichte habe „der Geschmack allein“ die „Gesellschaft“ harmonisiert, weil das spezifische Potential des ästhetischen „Spiels“ als Vermittlungsinstanz eine moralische Entwicklung ermöglicht habe (FA 8, 673 f.). Im Medium ästhetischer Erziehung postuliert Schiller daher eine produktive Synthese von Sinnlichkeit und Vernunft als Aufgabe der Kultur:[28] Die „ästhetische Gemütsstimmung“ eröffne nämlich „die Selbsttätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit“, denn es „gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht“ (FA 8, 644, 643). Auf diese Weise bringe die „Schönheit“ eine „Harmonie“ hervor, indem sie „den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen macht“ (ebd., 620).

Offenkundig ist Schillers Konzept des Dichters – wie seine Utopie der „schönen Seele“ als Gegenentwurf zur Pflichtethik Kants – vom antiken Ideal der ‚Kalokagathia‘ als ethisch-ästhetischer Vollkommenheit inspiriert, das Schönes und Gutes vereint.[29] Das vom griechischen ‚kalos kai agathos‘ (καλὸς καὶ ἀγαθός) abgeleitete Ethos der ‚Kalokagathia‘ (καλοκἀγαθία), das vor allem im intellektuellen Diskurs des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte, basiert auf Platons Tugendideal und auf der ‚moral-sense‘-Philosophie Shaftesburys, die in der Klassik unter dem Einfluss Rousseaus mit einer ästhetischen Erziehung zur Humanität verbunden wurde –[30] als Telos für Individuum und Gesellschaft.

Zwar vertritt auch Nietzsche – analog zu Schiller – ein Bildungsideal im Sinne des aufklärerischen Anspruchs auf umfassende Selbstvervollkommnung; aber mit Skepsis reagiert er auf die Konzepte Schillers, die auf eine ‚moralische Erziehung‘ des Menschen mithilfe der Kunst zielen: Bereits in seiner Frühschrift Die Geburt der Tragödie zählt Nietzsche „die Tendenz, das Theater […] zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller’s Zeit ernsthaft genommen wurde“, zu den „unglaubwürdigen Antiquitäten“ obsoleter Bildungskonzepte (GT, KSA 1, 144). Dabei zielt er kritisch auf eine Programmatik im Sinne von Schillers Rede Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. Gleichwohl notiert Nietzsche 1873 zur Wirkungsästhetik des Dramatikers Schiller: Das „Wortdrama […] darf rhetorisch sein, es darf dialektisch sein, es darf naturalistisch sein, es soll auf die Moralität wirken, es soll schillerisch sein“ (NL 29[117], KSA 7, 684).

Sowohl in der Tragödienschrift als auch in nachgelassenen Notaten spricht Nietzsche positiv vom „edelsten Bildungskampfe Goethe’s, Schiller’s und Winckelmann’s“ (GT, KSA 1, 129), grenzt diesen jedoch dezidiert vom Klassikerkult zeitgenössischer Philister ab, die seines Erachtens verkennen, dass „Schiller Goethe Lessing“ eine „Kultur suchten, aber kein Fundament, auf dem man ruhen könnte“ (NL 27[65], KSA 7, 606); daher ahnen die Philister laut Nietzsche nichts „von dem Experimentiren bei Schiller und Goethe“ (NL 27[52], KSA 7, 602).

Interessante Affinitäten sind dort zu erkennen, wo Schiller und Nietzsche ihr idealistisches Kultur- und Bildungskonzept mit einem prononcierten Geistesaristokratismus verbinden. Schon im ersten seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen betont Schiller den „moralischen Adel der menschlichen Natur“ (FA 8, 556). Und wenn er in seinem Essay Über Bürgers Gedichte die Funktion des Dichters beschreibt, dann kultiviert er dabei geradezu einen esoterischen Idealismus: Das „Idealschöne“, das sich der „Freiheit des Geistes“ verdanke (ebd., 985), ermögliche es den Dichtern nämlich, ihre „Individualität […] zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern“ (ebd., 974): Dabei offenbare der Dichter einen „sehr hohen Rang“ (ebd., 977), wenn er, „eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt“ (ebd., 978). Das antike Ideal der ‚Kalokagathia‘ ist hier ebenso evident wie das geistesaristokratische Denkmodell, mit dem Schiller dem Dichter mit pathetischem Nachdruck einen elitären Sonderstatus zuweist. Später evozierte gerade dieser esoterische Idealismus Schillers die entschiedene Opposition des sozial engagierten Realisten Büchner.[31]

Analog zu Schiller verbindet auch Nietzsche den geistesaristokratischen Gestus mit einer intellektuellen Hierarchie, die eine Bewegungsdynamik von oben herab impliziert. So wird der exklusive Anspruch des Dichters oder Philosophen markiert, der mit ostentativem Verkündigungspathos auftritt: Mit dem Hinabsteigen auf die Ebene des Volkes gemäß Schillers Essay Über Bürgers Gedichte korrespondiert im Grundansatz nämlich das Szenario in Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra: Denn hier vollzieht die Titelfigur Zarathustra gleichfalls mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein den Abstieg vom „Gebirge“, um den Menschen die eigene Lehre vom „Übermenschen“ zu bringen (Za, KSA 4, 12, 14). Allerdings wäre bei Nietzsche, der dem Platonischen Idealismus[32] und damit auch der ‚Kalokagathia‘-Idee distanziert gegenübersteht, keine Philosophen-Figur vorstellbar, die – wie Schillers Dichter – „eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt“ (FA 8, 978). Denn in der Morgenröthe wendet sich Nietzsche dezidiert gegen „ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten), – leider ‚schön‘ nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein weicher, gutartiger, silbern glitzender Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben will“ (M, KSA 3, 163). In einem Notat, das eine Text-Vorstufe zur Morgenröthe bietet, spricht Nietzsche gerade „Schopenhauer“ das Verdienst zu, dass „er den gläsernen und glitzernden Idealismus edler allgemeiner Worte und stolzer Gefühle vernichtete, welchen namentlich Schiller und sein Kreis verbreitet haben“ und den seines Erachtens besonders der „Briefwechsel Wilhelm von Humbold<t>s mit Schiller“ offenbart: durch den „falschen ‚Classicismus‘“ einer „Art Canova-Stil“; denn „Schopenhauer der Grobe hat die Teufelei der Welt wieder sichtbar werden lassen“ (NL 9[7], KSA 9, 410 f.).

Trotz dieser impliziten Kritik am ‚Kalokagathia‘-Ideal sind Schillers Dichter-Imago und die poetisierte Philosophen-Figur in Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra allerdings in ähnlichem Maße von einem elitären Selbstkonzept und Sendungsbewusstsein bestimmt. – Die exklusive Höhenexistenz als Qualitätssignum der späteren Zarathustra-Figur erscheint übrigens schon in Schopenhauer als Erzieher antizipiert: Mit Gebirgsmetaphorik (SE, KSA 1, 366, 381) und dem symbolischen „Kreuzweg“ (SE, KSA 1, 402), der auch auf die Prodikos-Fabel von Herakles am Scheidewege anspielt,[33] greift Nietzsche hier auf Schopenhauers Polemik Ueber die Universitäts-Philosophie zurück, deren Geistesaristokratismus ihn nachhaltig inspirierte.[34] – Bildhaft konkret erscheint der geistesaristokratische Sonderstatus, wenn Nietzsche den breiten, bequemen Weg der mediokren Masse mit dem steilen, schmalen Gebirgspfad zur Wahrheit kontrastiert, auf dem sich die geistige Elite abmüht (vgl. SE, KSA 1, 340, 342). Schon in Schopenhauer als Erzieher sieht Nietzsche die vom Ungenügen an sich selbst angetriebenen „freien Geister“ abseits vom Getriebe des Zeitgeistes unterwegs (SE, KSA 1, 407). Und im Engagement für die „Erzeugung des Genius“ erblickt er „das Ziel aller Cultur“ (SE, KSA 1, 358).

Bereits Schopenhauer konstatiert in seiner Polemik Ueber die Universitäts-Philosophie: „aristokratisch ist die Natur, aristokratischer, als irgend ein Feudal- und Kasten-Wesen. Demgemäß läuft ihre Pyramide von einer sehr breiten Basis in einen gar spitzen Gipfel aus“.[35] – Nietzsche adaptiert Schopenhauers Geistesaristokratismus schon für seine Frühschriften David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873) und Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), in denen er ebenfalls explizit von „der aristokratischen Natur des Geistes“ spricht (KSA 1, 199, 698). Später prolongiert sich dieser elitäre Ansatz Nietzsches in seinem Konzept des ‚freien Geistes‘ und dann auch in der Idee des Übermenschen in Also sprach Zarathustra. Zugleich verbindet sich Nietzsches Geistesaristokratismus mit seinem Geschichtskonzept, und zwar im traditionsreichen Denkmodell vom „Höhenzug der Menschheit“ (HL, KSA 1, 259), das im Schlusskapitel nun ideengeschichtlich zu kontextualisieren ist.

5 Geschichtsmodell und Kulturkonzept: Der „Höhenzug der Menschheit“ als historisierter Geistesaristokratismus

Beeinflusst ist Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) sowohl von Schopenhauers Geschichtsskepsis als auch von Schillers Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (gehalten am 26. Mai 1789 an der Universität Jena). Dies gilt für die geistesaristokratische Grundierung und für die (wohl von Aristoteles und Schiller inspirierte) Tendenz Nietzsches zur Fiktionalisierung der historischen Faktizität. Unter Rückgriff auf seine Frühschrift Ueber das Pathos der Wahrheit (vgl. CV, KSA 1, 756 f.) assoziiert Nietzsche die Idee der „Humanität“ hier mit einem „Fackel-Wettlauf der monumentalen Historie“, durch den „das Grosse weiterlebt!“ (HL, KSA 1, 259). Dabei imaginiert er, dass „die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht“ (ebd.).

Vermutlich rekurriert Nietzsche hier auf die Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in der Schiller „Alle denkenden Köpfe“ durch „ein weltbürgerliches Band“ verknüpft sieht (FA 6, 419) und im Schlussplädoyer bereits die markante Ketten-Metapher einsetzt: „Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen“ (ebd., 431).[36]

Nietzsche verwendet auch selbst das Bild einer „Kette“ großer Individuen und korreliert es mit der Vorstellung vom „Höhenzug der Menschheit“ (HL, KSA 1, 259). In seiner Historienschrift zitiert er sogar wörtlich aus Schillers Antrittsvorlesung (vgl. HL, KSA 1, 291). Dabei ergänzt Nietzsche Schillers Bild von der Epochen überspannenden „unvergänglichen Kette“ (FA 6, 431) durch Schopenhauers Vorstellung von einer „Genialen-Republik […]; ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort“ (HL, KSA 1, 317).[37]

Hier verbindet Nietzsche seinen elitären Individualismus mit dem Konzept der „monumentalischen Historie“, das vom Glauben an die „Continuität des Grossen aller Zeiten“ bestimmt ist: als „Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit“ (HL, KSA 1, 260).[38] Ausgehend vom „Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende“ und dem Ideal, „dass das Grosse ewig sein solle“ (HL, KSA 1, 259), nütze die ‚monumentalische‘ Geschichtsbetrachtung „dem Thätigen und Mächtigen“ (HL, KSA 1, 258), weil dieser zum Engagement inspirierende Vorbilder benötige: als Schutz vor Resignation angesichts seiner begrenzten Kraft und Lebenszeit sowie als Motivation durch die Hoffnung auf „Unsterblichkeit“ im eigenen Werk (HL, KSA 1, 259).

Problematisch erscheint die „monumentalische Betrachtung der Vergangenheit“ (HL, KSA 1, 260) aber dann, wenn Nietzsche die historische Faktizität mit der „mythischen Fiction“ konvergieren lässt, bis sich eine ästhetisch überformte Geschichte sogar „der freien Erdichtung“ annähert (HL, KSA 1, 262). Wenn diese Sicht auf Kosten anderer Geschichtskonzepte dominiert, dann findet die Vergangenheit nur selektiv und einseitig Eingang ins kulturelle Gedächtnis. Zudem werden spezifische Differenzen zwischen den Epochen eskamotiert: etwa wenn Nietzsche mit einer auffallend anachronistischen Perspektive ausgerechnet die Helden Plutarchs zu unzeitgemäßen Vorbildern für den modernen Menschen avancieren lässt: „Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt“ (HL, KSA 1, 295).

Dass auch Nietzsches Tendenz zur Fiktionalisierung historischer Faktizität von Schillers Dramenästhetik beeinflusst ist, wird evident, wenn er Drama und Historie unter Rekurs auf Schiller folgendermaßen korreliert: „Schiller gebrauchte die Historie im monumentalen Sinne, […] als zur That antreibender […] Dramatiker. Vielleicht müssen wir jetzt alle Dinge eine Stufe weiter stellen: wozu früher die Historie diente, dazu jetzt das Drama. Schiller’s Ahnung war die rechte: das Wortdrama muss die Historie bezwingen, um die Wirkung hervorzubringen, die ursprünglich die Historie (monumentalisch dargestellt) hatte“ (NL 29[117], KSA 7, 684).

Die geistesaristokratische Grundtendenz, in der Nietzsche mit Schiller und Schopenhauer übereinstimmt, erweitert er zugleich kulturgeschichtlich: durch spekulative Konstruktionen in Gestalt einer ‚monumentalischen Historie‘, die er mit dem „Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende“ (HL, KSA 1, 259) assoziiert[39] und mit Bezug auf Schiller überdies dramenästhetisch überformt, um die historischen Projektionen auch philosophisch zu legitimieren. – Schiller verbindet seinerseits Bildungsidee, Kunstideal und Geschichtskonzept mit einem programmatischen Ganzheitsanspruch. Inwiefern dabei aber auch Inkommensurables unter ein idealistisches Grundprinzip subsumiert wird, zeigt Schillers Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?: „So würde denn unsere Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ (FA 6, 427).[40]

Laut Schiller soll „der philosophische Verstand“ also das heterogene „Aggregat von Bruchstücken“ der Geschichte zum „System“ komplettieren, wobei erstaunlicherweise ausgerechnet ein höchst hypothetisches Konstrukt aus spekulativen Synthesen für die „Weltgeschichte“ den Status einer „Wissenschaft“ sichern soll. Ein solches Denkmodell evoziert Skepsis – nicht nur angesichts von Nietzsches prinzipiellem Verdikt über den Systemanspruch gemäß der Götzen-Dämmerung: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD, KSA 6, 63).

Im Unterschied zu Schiller und Nietzsche entfaltet Schopenhauer sein Geschichtskonzept mit skeptischer Grundierung und negiert dabei sogar den Wissenschaftsanspruch: In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung sieht er die Geschichte gerade nicht durch eine systematische „Subordination“ der Phänomene, sondern nur durch eine „Koordination“ von Wissenselementen bestimmt (vgl. WWV I, 110),[41] die sich zudem jeweils bloß auf einmalige Ereignisse beziehen.[42] Daher biete die Geschichte „zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft. Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des Allgemeinen, sondern muß das Einzelne unmittelbar fassen und so gleichsam auf dem Boden der Erfahrung fortkriechen; während die wirklichen Wissenschaften darüberschweben, indem sie umfassende Begriffe gewonnen haben, mittelst deren sie das Einzelne beherrschen“ (WWV II, 564). Unter dieser Prämisse problematisiert Schopenhauer die Geschichte, wenn er in den Parerga und Paralipomena ironisch konstatiert, „daß die Geschichtsmuse Kleio mit der Lüge so durch und durch infiziert ist wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neuere kritische Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kurieren, bewältigt aber […] bloß einzelne hie und da ausbrechende Symptome“ (PP II, 527).

Wenn Nietzsche in der Historienschrift im Rahmen seiner Darlegungen zum „antiquarische[n] Sinn“ (vgl. HL, KSA 1, 265–270) auch Kritik formuliert, dann scheint er dabei in Ansätzen von der Geschichtsskepsis Schopenhauers beeinflusst zu sein. Dass sich Nietzsche hier aber besonders an Schillers Geschichtskonzept orientiert, zeigt auch sein nachgelassenes Notat: „Heilmittel: die Schillersche Benutzung der Historie“ (NL 29[124], KSA 7, 687). Unter dem Einfluss von Schillers Geschichtskonzept, das sich fundamental von den Perspektiven Schopenhauers auf die Historiographie unterscheidet, stellt Nietzsche dem Ideal der Objektivität in der positivistischen Geschichtswissenschaft des Historismus ein Prinzip kreativer Komposition gegenüber, das sich eher an der Dramenästhetik der Aristotelischen Poetik orientiert: „ein Compositionsmoment allerhöchster Art, dessen Resultat wohl ein künstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemälde sein wird. In dieser Weise die Geschichte objectiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers; nämlich Alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wann sie nicht darinnen sei. So überspinnt der Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äussert sich sein Kunstrieb […]. Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das Prädicat der Objectivität Anspruch machen dürfte“ (HL, KSA 1, 290).[43]

Diese provokative Pointierung exponiert das Paradoxon einer subjektiv imaginierten Objektivität und enthüllt zugleich das Problem einer Fiktionalisierung historischer Faktizität, die bei Nietzsche das Konzept der ‚monumentalischen Historie‘ und der ‚kritischen Historie‘ betrifft.[44] Im Zusammenhang mit der problematischen Idee einer subjektiv projizierten Objektivität durch ein „Weiterdichten“ des Vorhandenen mit „künstlerische[r] Potenz“ (HL, KSA 1, 292) zitiert Nietzsche auch aus der Vorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in der „Schiller“ zum „Historiker“ schreibe: „eine Erscheinung nach der anderen fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen – das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist – als ein passendes Glied einzureihen.“ (HL, KSA 1, 291)

Im Hinblick auf das Prinzip einer projektiven Überformung der Geschichte sind also markante Affinitäten zwischen Schiller und Nietzsche zu erkennen.[45] Dabei nähert sich Nietzsches ästhetisch modellierte Geschichtskonstruktion[46] sogar poetologischen Aussagen des Dramatikers Schiller an, der in seiner Schrift Über das Pathetische erklärt, es sei „die poetische, nicht die historische Wahrheit, auf welche alle ästhetische Wirkung sich gründet“ (FA 8, 448). Damit folgt Schiller Grundprinzipien der wirkungsmächtigen Aristotelischen Poetik. Entsprechendes gilt für seine Schrift Über die tragische Kunst, in der er aus dem „poetischen Zweck“ der Tragödie deren „Macht“ ableitet, „die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst unter zu ordnen, und den gegebenen Stoff nach ihrem Bedürfnisse zu bearbeiten“ (ebd., 272). Laut Schiller neigt der „philosophische Geist“ nämlich dazu, „Stoffe der Weltgeschichte“ der „eigenen vernünftigen Natur zu assimilieren“ und historische Kausalität insofern teleologisch zu interpretieren: „Je öfter also und mit je glücklicherm Erfolge er den Versuch erneuert, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen: desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung in einander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden. Eine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen, und sich einem übereinstimmenden Ganzen (das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureihen“ (FA 6, 428).

Genau auf diese Textpassage rekurriert Nietzsche im obigen Zitat (HL, KSA 1, 291). Und in der Schrift Richard Wagner in Bayreuth propagiert er sogar Strategien einer intertemporalen Analogiebildung beim Blick auf Phänomene, „welche so befremdend sind, dass sie unerklärbar in der Luft schweben würden, wenn man sie nicht, über einen mächtigen Zeitraum hinweg, an die griechischen Analogien anknüpfen könnte. So giebt es zwischen Kant und den Eleaten, zwischen Schopenhauer und Empedokles, zwischen Aeschylus und Richard Wagner solche Nähen und Verwandtschaften, dass man fast handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe gemahnt wird: beinahe scheint es, als ob […] die Zeit nur eine Wolke sei, welche es […] schwer macht, diese Zusammengehörigkeit zu sehen. […] Das Bild unserer gegenwärtigen Welt ist durchaus kein neues: immer mehr muss es Dem, der die Geschichte kennt, so zu Muthe werden, als ob er alte vertraute Züge eines Gesichtes wieder erkenne“ (WB, KSA 1, 446 f.).

Schiller befürwortet nur unter Vorbehalt Strategien historischer Analogiebildung, da er diese etablierte Form der Historiographie auch für riskant hält: „Die Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie überall so auch in der Geschichte ein mächtiges Hülfsmittel: aber sie muß durch einen erheblichen Zweck gerechtfertigt, und mit eben soviel Vorsicht als Beurteilung in Ausübung gebracht werden“ (FA 6, 427).

Während der antike Historiker „Polybius“ (HL, KSA 1, 258) eine nüchterne, pragmatisch auf Fakten ausgerichtete Historiographie befürwortete und eine „der Wahrheit beraubte Geschichte“ für „nichts als eine unnütze Erzählung“ hielt (NL 29[70], KSA 7, 659), plädiert Nietzsche selbst für eine Historiographie, die historische Tatsachen auch durch Fiktionen und identitätsstiftende Wunschvorstellungen überformt, sofern sie für die Zwecke des ‚Lebens‘ funktionalisierbar sind und einer künftigen Kultur dienen können.[47] – Wenn Nietzsche in seiner Historienschrift wie in Notaten das Objektivitätspostulat verwirft (vgl. NL 9[42], KSA 7, 288), dann hat er vor allem den „berühmten historischen Virtuosen“ Leopold von Ranke im Visier (HL, KSA 1, 291), der in der damaligen Zeit als Leitfigur der Historiographie galt. Nietzsche selbst plädiert hingegen für einen künstlerischen Entwurf von Geschichte und distanziert sich vom positivistischen Anspruch auf eine faktenbasierte ‚Objektivität‘.

Schon August Ludwig Schlözer plädiert in seinem Werk Vorstellung einer Universal-Historie (1772), das Schiller neben Schriften Herders und Kants rezipierte, mit Nachdruck für eine methodische Zurückhaltung des Historikers und wendet sich kritisch gegen Strategien, geschichtliche Lücken mit eigenen Spekulationen zu schließen.[48] Und Kant problematisiert in seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) ebenfalls hypothetische Rekonstruktionen im Falle von Lücken in der historischen Überlieferung und grenzt sich dabei entschieden vom exzessiven Gebrauch eines solchen analogisch-spekulativen Verfahrens ab, das etwa Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit kennzeichnet. So erklärt Kant dezidiert: „Allein eine Geschichte ganz und gar aus Muthmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als den Entwurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen einer muthmaßlichen Geschichte, sondern einer bloßen Erdichtung führen können“ (AA 8, 109).

Bereits Kant antizipiert mithin Problemkonstellationen, die sich in Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben – fast neunzig Jahre später – tatsächlich feststellen lassen: im Plädoyer für eine Konstruktion der Geschichte durch strategische Fiktionalisierung mit einem „Kunsttrieb“ (HL, KSA 1, 290). Später prolongiert sich diese Auffassung in Nietzsches Morgenröthe: „Facta! Ja Facta ficta! – Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese haben gewirkt. Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt“ (M, KSA 3, 224 f.). Nietzsche zufolge reduziert sich der Realitätsgehalt der „sogenannte[n] Weltgeschichte“ auf bloße Imaginationen, die „Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit“ (M, KSA 3, 224, 225) gleichen. Provokativ charakterisiert er die Genese der Historie, indem er deren reale Substanz dabei ganz ins Phantasmagorische auflöst: „Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung“ (M, KSA 3, 225). Solche Geschichtskonstruktionen als spekulative Phantasien geraten allerdings in ein Spannungsverhältnis zum Bemühen um eine seriöse wissenschaftliche Rekonstruktion historischer Faktizität. Später beanstandet Nietzsche aber selbst die „Fälschung der Historie“ (NL 7[8], KSA 12, 293) im Sinne lebensfördernder Zwecke und fragt sogar skeptisch, „ob Geschichte überhaupt möglich ist?“ (KSB 8, 28, Nr. 804).

In seiner Historienschrift jedoch dominieren gegenläufige Konzepte: Bis zur „freien Erdichtung“ oder „mythischen Fiction“ (HL, KSA 1, 262) treibt Nietzsche hier die problematische Fiktionalisierung der Geschichte mithilfe suggestiver Analogien und nützlicher Ideale, die von historischer Erfahrung nicht beglaubigt, sondern bloß inspiriert sind und dabei auch gezielte Illusionsbildung nicht scheuen: sogar bei einem „Versuch“, sich „gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt“ (HL, KSA 1, 270). Hier dient „eine grosse künstlerische Potenz“ laut Nietzsche dem „Weiterdichten“ des Vorhandenen (HL, KSA 1, 292), so dass sogar authentisch bezeugte Fakten durch identitätsstiftende Wunschprojektionen umstandslos substituiert werden können. Leitend ist dabei das Prinzip einer bewusst interessegelenkten Geschichtskonstruktion: Mit seinem Konzept der ‚monumentalischen Historie‘ betont Nietzsche die strategische Fiktion im Dienste eines elitären Individualismus, der geistesaristokratisch geprägt ist. Allerdings riskiert er dabei eine selektive, zu Verfälschungen führende ‚Erinnerungspolitik‘,[49] die durch den Primat von Zwecken des ‚Lebens‘ die Standards einer faktenbasierten Geschichtswissenschaft bedenkenlos eskamotiert.

Online erschienen: 2024-11-09
Erschienen im Druck: 2024-11-08

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. 10.1515/NIFO-2024-026
  3. Teil I: Schiller, Nietzsche und die Genealogie der Moderne
  4. Zum Themenschwerpunkt:
  5. Schiller und Nietzsche – Gegenstrebige Fügung
  6. Der Wille zur Würde oder: Tanz der Sprachkörper
  7. Rationalismuskritik bei Schiller und Nietzsche
  8. Asketische Ideale und Metaphysic der Kunst
  9. Ethik und Ästhetik in Moderne und Spätmoderne: Von der „schönen Seele“ zur „erschöpften Selbstverwirklichung“
  10. Moralkonzept – Bildungsideal – Geschichtskonstruktion: Analogien und Differenzen zwischen Schiller, Schopenhauer und Nietzsche
  11. Zur Reflexion des philosophischen Stils bei Schiller und Nietzsche
  12. Singularisierung
  13. ‚Gegenwart‘ bei Schiller und Nietzsche
  14. Von steilen Thesen. Nietzsche, Schiller und die Physiologie der Kultur
  15. Teil II: Nietzsche-Werkstatt: Friedrich Nietzsche – Die Basler Vorlesungen (31. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta vom 05. bis 08. September 2023) Wissenschaftliche Leitung: Carlotta Santini und Enrico Müller
  16. Friedrich Nietzsche – Die Basler Vorlesungen: Zur Einführung
  17. Philology as an aesthetische Wissenschaft
  18. Nietzsches Mysterien einer Philosophie des Tragischen
  19. Auf der Suche nach der Instinktsprache in der Tragödie: Gebärden- und Tonsprache in Nietzsches Basler Vorlesungen
  20. Die Bedeutung von Nietzsches Empedokles-Lektüre für die Ausbildung seiner dionysischen Naturauffassung
  21. Nietzsche’s Basel Lectures on Plato: Unveiling the Revolutionary Figure of the Philosopher as Legislator
  22. Die Nachplatonischen Philosophen: Über eine nie gehaltene Basler Vorlesung
  23. Was ist ein ‚wahrer‘ Lehrer?
  24. Zur „Genesis des jetzigen Philologen“ anhand der Basler Schriften von Friedrich Nietzsche (1869–1875)
  25. Teil III: Beiträge
  26. Vom Porträt zur Ikone – Die Online-Datenbank NietzschePics
  27. Nur ‚Künste und Listen der Selbst-Erhaltung‘?
  28. Nietzsches Umwertung der platonischen und augustinischen Lichtmetaphorik
Downloaded on 17.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/NIFO-2024-006/html
Scroll to top button