1 Die europäische Rationalitätskultur und ihre Kritiker
Nicht nur die europäische Kulturgeschichte, auch die Geschichte der Globalisierung unseres Planeten steht im Zeichen der europäischen Rationalitätskultur. Was kennzeichnet diese? Es ist der Siegeszug eines postmythischen Denkens, das im sechsten bis vierten Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland erfunden wurde. Über dieser Erfindung kann ein Satz von Nietzsche stehen. Er lautet: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“ (Za, KSA 4, 189)[1] Das antike Griechenland hatte einen solchen Gedanken auf Taubenfüßen, und er hat tatsächlich die Welt fundamental verändert. Ich spreche von den neuen Welterklärungsmodellen der Philosophie-Wissenschaft – damals noch eins und ungetrennt –, mit denen sie die Welt, den Kosmos, auf neue Weise erklärten.
Die ‚vorsokratischen‘ griechischen Gelehrten begannen nämlich im 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr. die Welt aus diesseitigen, erkennbaren ‚Prinzipien‘ und somit rein rational zu erklären: Sie ist aus Wasser (Thales von Milet), Feuer (Heraklit), Atomen (Demokrit) oder Zahlen zusammengesetzt. Das heißt: Wir haben es hier mit einem Typus von Welterklärungen zu tun, der nicht mehr wie die alten Theogonien die Entstehung der Welt auf Götter oder einen Gott zurückführt, sondern rein diesseitig auf erkennbare diesseitige Prinzipien und Materialien. Insbesondere die letzte Hypothese – entwickelt von den Pythagoreern, einer Gelehrtengruppe in Unteritalien – hat die Welt seitdem nachhaltig verändert. Die Hypothese lautet: Die Welt besteht aus Zahlen und Zahlenproportionen. Die Griechen gingen daran, den Raum geometrisch zu vermessen, Städte geometrisch zu bauen, wie die von den Persern zerstörte Stadt Milet Mitte des 5. Jhd. v. Chr. Sie haben auch die Geldwirtschaft übernommen, also das Prinzip, Waren und Dienstleistungen quantitativ zu bewerten. Sogar die Ästhetik der Tempel und der menschlichen Skulptur wird geometrisch proportional konstruiert. Schließlich haben die Griechen auch Kriegsformationen geometrisch als ‚Phalanx‘-Formationen angeordnet, mit der sie die übermächtigen Perser besiegen konnten. Sie erfanden und entwickelten somit eine rational-rechenbasierte Kultur –, und das ist bis heute unsere Leitkultur geblieben.
Dabei war die griechische Mathematik noch einfach: Sie kannte nicht die Zahl ‚0‘. Die kam viel später über die Araber aus Indien, und sie entdeckte gerade erst die irrationalen Zahlen. Aber die Idee, die Welt auf Zahlen zu bringen und zahlenmäßig – also rein quantitativ – zu erfassen, hatten bereits die Pythagoreer. „Und in der Tat hat ja alles, was man erkennen kann, Zahl“, schrieb Philolaos, ein Zeitgenosse des Sokrates. Und er fährt im selben Fragment fort: „Denn es ist nicht möglich, irgendetwas mit dem Gedanken zu erfassen oder zu erkennen, ohne diese.“[2]
Diese rein quantitative-mathematische Erkenntnisform war und ist über die Jahrhunderte hinweg enorm erfolgreich. In der Neuzeit knüpften Kopernikus, Galilei, Descartes, Leibniz daran an. Heute beherrscht diese Erkenntnisform den ganzen Globus. Die Welt wird heute mathematisiert, digitalisiert, computerisiert, roboterisiert. Europa steht dabei gar nicht mehr an der vordersten Front. Andere Länder wie die USA, Japan, China, Indien haben die einst europäische Leitkultur der mathematischen Naturwissenschaften und Technik übernommen und bilden heute darin vielfach die Avantgarde. Die mathematisch-technische Zivilisation ist zur globalen Leitkultur geworden.
Auch gehört es zur Kernzone der abendländischen Rationalitätsbegründung, dass sie sich von der Sphäre der Sinne – also von der Aisthesis – wie auch den Emotionen abspaltet.[3] Es geht um die ‚archai‘ –, die letzten „Gründe des Seins“, die „Prinzipien“ des Kosmos. Und die verbergen sich nach dieser frühgriechischen Auffassung eher, als dass sie sich den Sinnen offen zeigen. Wohl aber erkennt sie der ‚Lógos‘ und der ‚Noûs‘, der Verstand.
Kurz gesagt: Die griechische Philosophie-Wissenschaft begründet ein neues antimythisches Denken. Dies ist der radikale Beginn einer Entmythisierung des Denkens und der Welt, wie es Heraklit verkündet: „Diese Weltordnung [κόσμον τόνδε – S. V.], dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.“[4]
Platon zieht dann auch schon die Konsequenz, die sich bei Heraklit und anderen andeutet: Die Dichter mit ihren mythischen Werken wie Homer und Hesiod werden aus dem Kreis der Wahrheit ausgeschlossen. Sie sollen sogar am besten den Staat verlassen, weil sie die Emotionen aufputschen, aber das Denken schwächen.[5]
Tatsächlich wird die Literatur auch zu einer Hauptkritikerin der neuen rationalen Leitkultur. Der erste große Tragödiendichter Aischylos versuchte noch in der „Orestie“ den Mythos rational zu lösen mit Hilfe eines Richterspruches der Athene und ihres Stimmsteins. Aber die zweite Generation – die Tragödiendichter Sophokles und Euripides – gestalten Frauenfiguren wie Antigone und Medea, die der beschränkten Rationalität der Männer Kreon und Jason überlegen sind.
Ich kann das hier nicht ausführen, aber wenn wir auf die europäischen Ergebnisse blicken, so zeigt sich, dass die europäische Kultur selbst von ihren Frühformen an eine dualistische Struktur aufweist: Auf der einen Seite die Dominanz der europäischen Rationalitätskultur mit ihrer Jahrhunderte langen machtpolitischen Überlegenheit und männlichen Ausrichtung, auf der anderen Seite die Geschichte des (politischen) Protestes und der Stärkung der Rolle der Frau dagegen.[6] Der Kampf hält bis in die Gegenwart an und ist selbst in dem Maße, wie die europäische Rationalitätskultur mit ihrer Tendenz zur Mathematisierung, Industrialisierung, Ökonomisierung der Welt ein globales Projekt geworden ist, auch zu einem globalen Kampf um alternative Kulturen, um Frauenrechte und Menschenrechte geworden.
2 Schillers Rationalismuskritik
Bekanntlich findet sich Schillers Rationalitätskritik vor allen Dingen in der Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen aus dem Jahre 1795, die aus Briefen an den Herzog Friedrich Christian von Holstein-Augustenburg im Jahre 1793 hervorging. Die Grundthesen sind ja bekannt, und es genügt, sie sich wieder in Erinnerung zu rufen. Schiller schreibt im Nachhall der Französischen Revolution und ihrer – wie er im Verein mit Goethe meinte – Entwicklung in die terreur. Der Begriff von Freiheit, den er in der Schrift ableitet, soll solche Entartung nicht zulassen. Aber auch für ihn gilt: Auf dem Weg zum „Ideal“ der Freiheit, das Schiller vorschwebt, „bedarf es einer totalen Revolution“.[7] Zu eben der soll seine Ästhetik-Schrift hinführen. Und diese Revolution soll nicht nur die Fehlsteuerung der Französischen Revolution vermeiden, sie soll auch aus dem tief empfundenen Mangel des Zeitalters herausführen. Es ist ja eine Epoche des – wie Antje Büssgen überzeugend dargelegt hat – „Glaubensverlustes“, welchen die Kunsterziehung kompensieren soll.[8] Schiller selbst hält die Briefe für „das beßte, was ich in meinem Leben gemacht habe“.[9] Sie enthalten eine dreifache Kritik: am Scheitern der französischen Revolution, an der Einseitigkeit der Aufklärung und an der Moderne insgesamt.[10]
Das wird vor allem im fünften und sechsten Brief ausgeführt. Es ist die Kritik am jetzigen Zeitalter als eine Kritik an der Entzweiung und Zerrissenheit des Zeitalters. Die Gesellschaft zerfällt nach Schiller in „zahlreiche Klassen“, in denen sich einerseits „rohe gesetzlose Triebe“ verselbstständigen, „die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen.“[11] Andererseits vermerkt Schiller eine Erschlaffungstendenz in seiner Zeit. Im „Drama der jetzigen Zeit“ findet er „[h]ier Verwilderung, dort Erschlaffung.“[12] Er nimmt wahr, dass die Aufklärung des Verstandes, derer sich die verfeinerten Stände zurecht rühmten, nicht wirklich zur inneren Freiheit des Menschen geführt habe. In der Gesellschaft selbst herrsche der „Egoism“ vor.[13] Der Gesamtzustand des Staates und der Kultur werde nur mehr noch mechanisch zusammengehalten: „Diese Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem inneren Menschen anfingen, machte der neue Geist der Regierung vollkommen und allgemein. Es war freilich nicht zu erwarten, dass die einfache Organisation der ersten Republik die Einfalt der ersten Sitten und Verhältnisse überlebte, aber anstatt zu einem höheren animalischen Leben zu steigen, sank sie zu einer gemeinen und groben Mechanik herab. Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum ein unabhängiges Leben genoss und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, macht jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, bei dem aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile, ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet.“[14]
Getrennt, führt dann Schiller aus, seien Kirche und Staat, Genuss und Arbeit, Mittel und Zweck, Anstrengung und Belohnung. Das entspricht auch der Einsicht des jungen Hegel, wenn er in der Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems schreibt: „Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie, und als Bildung des Zeitalters die unfreie, gegebene Seite der Gestalt.“[15]
Und Hegel fährt wenig später fort: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.“[16]
Diese Zeitkritik hat ja Recht: Modernisierung der Gesellschaft bedeutet eben Differenzierung und damit Auseinanderbrechen des mittelalterlichen Einheitssystems. Sie führt auch zu Entfremdungsprozessen in der Arbeit. Wir stehen in der Frühphase der Industrialisierung, Rationalisierung, Technisierung der Gesellschaft, in der dann auch der frühe Marx in Abkehr von der Geistphilosophie Hegels die Grundentfremdung der Gesellschaft erkennt. Sie ist aber nicht – wie Marx meinte – in erster Linie den Eigentumsverhältnissen geschuldet, sondern der Rationalisierung der Arbeit selbst. Die rational-technische Organisation der Arbeit ist es, die das Programm einer arbeitsteiligen Produktionskette erzeugt und damit die eigentliche Quelle der Unterteilung eines Produktionsprozesses in viele kleine Arbeitsschritte nach einem rationalen Masterplan ist.
Dort, wo dieser Rationalisierungsprozess von ökonomischer Produktivität einschließlich der dazu nötigen Infrastruktur am weitesten vorangeschritten ist, wird allerdings auch der größte materielle Reichtum produziert. Deutschland steht in dieser Hinsicht um 1800 gar nicht in der vordersten Linie, sondern England. Moderne Industriearbeit folgt einem rationalen Masterplan der industriellen Fertigung, welcher den Prozessverlauf einer Produktionserzeugung möglichst standardisiert, – auf der schließlich die praktischen Handgriffe gar nicht mehr durch Menschen, sondern von Robotern getätigt werden, die heute auch im Rahmen ihrer digitalen Vernetzung untereinander agieren können. Der Hauptproduktivitätsfaktor solcher Arbeitsorganisation ist somit nicht die menschliche Arbeit an sich, sondern die technisch-rationale Organisation der Arbeit, mithin ein möglichst hoher Standard an rationaler Technizität.
Die Rationalisierung setzt also Spaltungsprozesse in Gang, welche die Individuen isoliert und die Gesamtgesellschaft nur mehr noch als mechanisches Ganzes in Funktionsabläufe zulässt. Eine ähnliche Kritik formuliert wenige Jahre nach Schiller auch Novalis, wenn er in Bezug auf den Preußischen Staat schreibt: „Kein Staat ist mehr als Fabrik verwaltet worden, als Preußen, seit Friedrich Wilhelm des Ersten Tode.“[17]
Die kritischen Köpfe der Zeit erleben eben ihre Zeit selbst als eine zentrifugale Epoche, in welcher die als ehemals harmonisch gedachte Einheit in eine Vielzahl von Funktionsabläufen zerfällt und nur mehr noch wie die Mechanik eines Uhrwerks zusammen und am Laufen gehalten wird.
Die harmonische Einheit projiziert Schiller zurück in die griechische Antike. Damals – so Schiller – „hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum“.[18] Bei uns „Neuern“ dagegen findet er nur „Bruchstücke“ und Individuum neben Individuum ohne vereinendes Band.[19] Warum sind wir nicht in diesem Stand der harmonischen Einheit der griechischen Antike verblieben? – kann man sich fragen. Schiller selbst gibt die Antwort: Der Fortschritt der Menschheit treibt diese voran: „Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur“.[20] Dabei drängt das „Übergewicht des analytischen Vermögens notwendig“ die Phantasie zurück und beraubt sie „ihrer Kraft und ihres Feuers“.[21] Man kann hier Nietzsches Kritik an der Dominanz der „sokratischen Theorie“ vor den dionysischen Mächten vorgeprägt finden. Bei Schiller wie bei Nietzsche findet sich der Rettungsanker vor einer Überdominanz der ‚kalten‘ Rationalität in der Kunst. Denn das Werkzeug der „Veredelung“ des Menschen, die auch alle Verbesserung im Politischen herbeiführen soll, ist: „die schöne Kunst“.[22]
Wir wissen in großen Zügen, wie Schiller der Entfremdung beikommen will. Gut kantianisch entwickelt er aus einer Treppenleiter von transzendentalen Konstruktionen den Weg zur ästhetischen Höhe, auf der die Dualität von „sinnlichem Trieb“ und „Formtrieb“ ihrerseits in einem dritten Trieb vermittelt und versöhnt werden können und sollen: dem „Spieltrieb“. Schiller nennt das die Versöhnungsleistung des Ästhetischen.[23] Der Spieltrieb wird im vierzehnten Brief eingeführt. Schiller schwankt dabei zwischen Vermittlung und Unterordnung. Einerseits kommt es ihm darauf an, „einem jeden dieser Triebe seine Grenzen zu sichern“, andererseits – so fügt er in einer Fußnote hinzu –, gäbe es „kein anderes Mittel, die Einheit im Menschen zu erhalten, als dass man den sinnlichen Trieb dem vernünftigen unbedingt unterordnet“. Er will die Sinne der „Einheit seiner Vernunft“ unterwerfen.[24] Das freilich ist eine Wendung, die Nietzsche später unbedingt vermeiden will, wenn er seinerseits das Dionysisch-Tragische über das Apollinische in der Musik siegen lässt.
Für Schiller wird das „Ideal der Menschheit“ im „Ideal der Schönheit“ realisiert, und zwar gerade dadurch, dass diese uns in einen „mittleren Zustand“ versetzt, in dem letztlich kein Übergewicht an Sinnlichem oder Verstandesmäßigem herrschen soll.[25] Also keine Einseitigkeit! In diesem Sinne hat insbesondere Herbert Marcuse darauf abgehoben, dass Schiller auch alle Formen von Herrschaftsdenken überwunden habe.[26] Schönheit ist ihm dann eine „zweite Schöpfung“, in welcher Natur und Vernunft, Sinnlichkeit und Verstand gegeneinander austariert sind, aber ebenso auch: das Sinnliche im Menschen vernünftig gemacht ist.[27] Hier ist genau der Punkt zu benennen, wo sich die Klassik einerseits von der Romantik und andererseits von Nietzsche unterscheidet: Die Ästhetik Schillers bleibt im Bann der Vernunftsteuerung, die Romantik und Nietzsche dagegen wollen auch dem Chaos des Irrationalen mehr Raum gewähren und beginnen, die Tiefenpsychologie des Menschen unterhalb der Schwelle der Vernunftkontrolle auszuloten.
Das „echte Kunstwerk“ aber gewährt nach Schiller jene innere Freiheit, die der Mensch braucht, um nicht einseitig zu handeln, sie ist daher auch die wesentliche Voraussetzung der politischen Vernunft. Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen sind ein grandioser theoretischer Entwurf, hergeleitet aus einer letztlich idealischen Anlage des Menschen, die den Menschen aus den Verstrickungen und Zerrüttungen der Zeit befreien soll, aber sie sind eben doch nur: eine Konstruktion. Ihr folgt die Ästhetik der Moderne immer weniger, wenn sie mit der Frühromantik in der Ästhetik des Hässlichen eine neue Leitästhetik der Moderne entdeckt, dabei auch das Fragmentarische, Chaotische, Sinnliche des Menschen auslotet. Aber: Schillers Kritik ist zeittypisch für die Moderne insofern, als sie die Kluft zwischen Rationalitätskultur und Ästhetik zu überbrücken versucht, indem sie der Ästhetik die entscheidende Funktion zuordnet, dass sie – und sie allein – den Menschen zur wahren Freiheit führen könne.
3 Nietzsches Rationalismuskritik
Im Gegensatz zu Schillers Rationalismuskritik in den Briefen Über die ästhetische Erziehung ist Nietzsches Rationalismuskritik in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872 auch stark historisch ausgerichtet. Dies im doppelten Sinne: Erstens durch Rückgang auf die Frühform der antiken Tragödie als einer von Dionysos und dem Chor beherrschten authentischen Form. Und zweitens durch den Rückgang auf das sokratische Denken als den eigentlichen Störfaktor in der Geschichte der Kunst und der Menschheit. Nietzsche identifiziert den von uns skizzierten Einbruch des postmythischen Denkens mit diesem Philosophen, dessen Bild wir eigentlich nur aus Platons Dialogen kennen.
Mit Sokrates beginnt nach Nietzsche ein neuer Typus der Menschheit, der Typ des „theoretischen Menschen“, wie er im 15. Abschnitt der Geburt der Tragödie schreibt (GT, KSA 1, 98). Nietzsche geht eigentlich nicht genauer ein auf die Denkform, die mit diesem ‚neuen Typus Mensch‘ in die Welt kommt, aber er kennt doch klar den universalen Anspruch seines Ansatzes: „Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen der Wissenschaft eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemeinsames Netz der Gedanken über den gesamten Erdball, ja mit Ausblicken über die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates einen Wendepunkt und Wirbel der so genannten Weltgeschichte zu sehen.“ (GT, KSA 1, 99 f.)
Wir haben hier einen Bandwurmsatz Nietzsches vor uns, mit dem er die Diffusion des neuen sokratischen Denktypus durch die Zeiten und über den Globus sprachplastisch darstellt. Und tatsächlich hat er ja auch richtig erkannt: Der neue theoretische Denktypus hat die Weltgeschichte fundamental verändert und durch die Geschichte hindurch den Globus erobert. Was Nietzsche hier noch nicht genau erkennt, sind die Merkmale des rationalen Denkens und auch die Phasen der Rationalitätsgeschichte, in welcher sich Philosophie und Wissenschaft auch trennen, die Wissenschaft seit Kopernikus und Galilei als Erkenntnisform der Natur und die Philosophie als (kantisch-transzendentale) Bewusstseinstheorie und Erkenntnisform dieser Erkenntnisform.
Zur Kennzeichnung des „theoretischen Menschen“ gehört nach Nietzsche sein naiver „theoretischer Optimismus“ (GT, KSA 1, 100), die Welt am Leitfaden der Kausalität bis in ihren Grund erkennen zu können. Aber mit diesem Ansatz scheitert sie nach Nietzsche und schlägt um in eine neue Metaphysik der Kunst, die das Tragische der antiken frühen Tragödie wieder entdeckt und nun aber in der Gestalt der deutschen Musik von Bach über Beethoven bis Richard Wagner zum Klingen bringt. „Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“ (GT, KSA 1, 127)
Wagner war denn auch sehr angetan von der Schrift und bat Nietzsche, ein Exemplar an den König von Bayern zu senden.[28] Nietzsche setzt hier quasi eine dialektische Figur an im ‚Umschlag‘ des theoretischen Menschen zur neuen Metaphysik der Musik, die in einer unbewussten Form wieder vordringt zur „Erkenntniss des Wesens der Welt“ (GT, KSA 1, 107) und daher dorthin gelangt, wohin der theoretische Mensch nie gelangen könne.
Nun hat Nietzsche diesen Text vor der Erfindung der Atomtheorie und auch wichtigen Phasen der Entwicklung der Molekularchemie geschrieben, dennoch sieht er zurecht den globalen Entwicklungsgang der wissenschaftlichen Theorie durch die Geschichte hindurch und in seiner Gegenwart. Gerade darum ist es aber auch ein Fehlschluss gewesen, den Nietzsche ja auch später in seiner Wagner-Kritik korrigiert, zu glauben, die nationale deutsche Musik Wagners könne diesen globalen Trend aufhalten und sogar umkehren.
Mit der Urform der Tragödie wie der Wagnerschen Musik verbindet Nietzsche auch eine Rückkehr des Dionysos, den „Jubelruf des Dionysos“ auf dem „Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge“ (GT, KSA 1, 103).[29] Der spätere Nietzsche erkennt eben auch, dass alle Erkenntnis „perspektivisch“ ist: „Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘“, schreibt er in der Genealogie der Moral (GM, KSA 5, 369). Somit ist der „Gang zu den Müttern“ und an den „innersten Kern der Dinge“, wie er sich das in der frühen Tragödienschrift noch ausmalt, gar nicht möglich. Auch jene Rückkehr des „tragischen Mythos“, die sich Nietzsche von der deutschen Musik verspricht, kann sich in der postmythischen Moderne gar nicht mehr erfüllen. Gleichwohl hatte das Phänomen des Dionysischen eine große Wirkung auch noch auf die amerikanische 68er Bewegung, so im ‚nudity play‘ Dionysos in 1969 von Richard Schechner in New York, das in einen regelrechten cult of madness führte.
Dennoch: Nietzsches Kritik des naiven Optimismus der Wissenschaft trifft ja durchaus wunde Punkte der technisch-ökonomischen Rationalitätskultur. Der naive Illusionismus und Glaube an das „Erdenglück Aller“ (GT, KSA 1, 117) durch die unumschränkte Wissenskultur ist ja auch in dem Maße verschwunden, wie diese Denkform selbst zerstörerisch auf das Verhältnis von Mensch und Natur einwirkt und jegliche Form der Nachhaltigkeit dabei vernachlässigt. Die globale Wissens- und Rationalitätskultur ist bis in unsere Zeiten wenig nachhaltig gewesen und führte auch in eine Krise der gesamten Lebenskultur auf Erden. Nietzsche hat das an anderer Stelle erkannt und thematisiert, in der Genealogie der Moral von 1887. Dort schreibt er, dass sich „[…] unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus[nimmt]: denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit […].“ (GM, KSA 5, 357)
Hybris definiert auch unsere Stellung zu Gott und zu uns selbst, fährt Nietzsche fort. In Bezug auf die Naturbeherrschung durch den modernen Menschen kannte Nietzsche freilich noch nicht die kriegsmäßig ausgerüsteten Fischfangflotten, die das Meer bis auf den Grund ausrauben und jene panzerähnlichen Großraupen, welche die Urwälder niederbügeln. Aber immerhin: Im 19. Jahrhundert beginnt jene großräumige Industrieansiedlung, welche ganze Länder und Landstriche planiert und in Stadt- und Industrieland umwandelt.
Wenn man Nietzsches Rationalitätskritik weiterverfolgen will, muss man unter dem Schlagwort ‚Wissenschaft‘ suchen. In Nietzsches Nachlass aus den achtziger Jahren wird das zu einem Hauptthema: „Wissenschaft – Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur“,[30] notiert er sich im Nachlass. Nietzsche hat hier die Forderung Descartes, die Menschen sollen „Herren und Eigentümer der Natur“ („maîtres et possesseurs de la nature“) werden,[31] von einer Forderung an die Wissenschaft zu einer Kritik an ihr umgekehrt. Nietzsche erkennt schon im Vorwort zur Geburt der Tragödie wie später auch Heidegger, dass „das Problem der Wissenschaft […] nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden“ (GT, KSA 1, 13) könne.[32]
Aber worin beruht das Problem der Wissenschaft? Nach Nietzsche besteht es in eben jener Unterdrückung des dionysischen Wesens des Mythos, wie er in der Geburt der Tragödie unter der Optik des Künstlers ausführt und wie es in umgewandelter Form sowohl Heidegger als auch Adorno aufnehmen. Dieses Ansinnen aber wird immer irrealer, denn „die Wissenschaft drängt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode“ (MA, KSA 2, 229). Ihr wohnt selbst Totalitäres inne und das verbindet sich in der Moderne auf schreckliche Weise mit einem absoluten diktatorischen Herrscherstil, wie ihn die beiden totalitären Systeme des nationalen wie internationalen Sozialismus mit sich brachten.
In späten und spätesten Aphorismen kommt Nietzsche zu dem Schluss: „In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß ‚Erkennen‘ gar nicht vorkommt, dass es eine Art Hochmuth war, davon zu träumen, mehr noch, dass wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur ‚Erkennen‘ als eine Möglichkeit gelten zu lassen – daß ‚Erkennen‘ selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Thatsache: so wenig Ding an sich, so wenig ist ‚Erkenntniß an sich‘ noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch ‚Zahl und Logik‘, – durch die Gesetze.“ (NL 5[14], KSA 12, 189)
Hier blickt ein grundlegender Skeptizismus auf die Erkenntnistheorie als die Möglichkeit, zwar wissenschaftlich Hypothesen zu entwickeln, die Herrschaft über die Natur zu ermöglichen, aber nicht mehr zur Erkenntnis der Wirklichkeit selbst gelangen zu können.
4 Resümee
Sowohl Schiller wie auch Nietzsche setzen an zu einer Fundamentalkritik der neuzeitlichen Zivilisation. Dabei konzentriert sich Schiller vor allem auf die Selbstspaltungsprozesse der modernen Gesellschaft, Nietzsche dagegen auf die Dominanz des abstrakt-sokratischen Denktypus. Beide setzen auf die Ästhetik als Gegenmacht, Schiller im Vertrauen auf die ausgleichende Wirkung des Schönen als Kraft der Befreiung zur wahren Freiheit, Nietzsche in der Hoffnung auf die Wiedergeburt einer archaisch-mythischen Kraft in der Musik. Beide – Schiller wie Nietzsche – vertrauen auf die befreiende Kraft der Künste gegen die dominante Rationalitätskultur. Diese war um 1800 in ein neues Stadium der Industrialisierung getreten, das allerdings von der Ästhetik nicht aufgehalten wurde, vielmehr wurde die Ästhetik langfristig in die Warenästhetik der Moderne integriert, ein Prozess, der sicher nicht im Sinne Schillers wie Nietzsches so verlief.
© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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