Home Philosophy Von steilen Thesen. Nietzsche, Schiller und die Physiologie der Kultur
Article Open Access

Von steilen Thesen. Nietzsche, Schiller und die Physiologie der Kultur

  • Paolo Panizzo EMAIL logo
Published/Copyright: November 9, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

Im abschließenden Teil von Wolfgang Riedels 2007 erschienenem Aufsatz Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller findet sich eine „etwas steile These“,[1] die besondere Aufmerksamkeit verdient: „Indem beim späten Schiller – in ‚Über das Erhabene‘ – […] das dichotomische Schema seiner Freiheitstheorie zusammenbricht, kippt […] der alteuropäische heroische Stoizismus, der in der (deutschen) Spätaufklärung noch ungebrochen in Geltung war, um in den modernen heroischen Nihilismus“.[2] „Das scheint weit vorauszugreifen“, so fährt Riedel fort, „doch versuche man nur, Modernisierung in Kategorien der longue durée zu denken“.[3] In Bezug auf das „Schlachtfest der Pappenheimer“ am Ende von Schillers Wallenstein zielen diese Überlegungen darauf ab, den Primat des Ästhetischen gegenüber dem Moralischen in dieser Szene hervorzuheben. Denn das von Max Piccolomini provozierte Blutbad am Ende des Wallenstein missfällt moralisch, wie Riedel unterstreicht, vergnügt aber ästhetisch, das heißt „es gefällt nur unter Suspendierung des moralischen Urteils“.[4] Dabei schlägt Riedel einen hundertsiebzig Jahre umfassenden Bogen, der von Schillers Wallenstein bis zu Sam Peckinpahs legendärem Film The Wild Bunch reicht, dem späten Western aus dem Jahr 1969, der in einem moralisch verwerflichen, doch ästhetisch genüsslichen, mit einem Maschinengewehr verübten Massaker kulminiert.[5]

Riedels These zum „modernen heroischen Nihilismus“, die uns schließlich auch mit der grundsätzlichen Frage nach der Beziehung zwischen Ästhetik und Moral in der Moderne konfrontiert, stellt den Ausgangspunkt der im folgenden präsentierten Betrachtungen über Nietzsches Verhältnis zu Schiller dar –, ein Verhältnis, mit dem sich die germanistische Literaturwissenschaft in Italien in den letzten Jahrzehnten intensiv auseinandergesetzt hat. Vor allem die frappierende Nähe zwischen beiden Denkern, die, wie zu zeigen sein wird, sich von aufklärerischer Anthropologie und Kulturkritik speist, soll dabei herausgearbeitet werden. Die ideengeschichtlichen Kontinuitäten zwischen Schiller und Nietzsche, die sich genealogisch rekonstruieren lassen und auf die in der neueren Forschung auch in Deutschland vereinzelt hingewiesen wurde,[6] lassen sich – so die hier vertretene, (selbst etwas steile?) These – vor dem Hintergrund jener Wendung erklären, die Riedel anhand von Schillers spätem Essay Über das Erhabene feststellt. Der deutsche Dichter schreibe sich gleichsam bis zur Grenze vor, an welcher der Stoizismus in den modernen Nihilismus umschlägt. Dabei fragt es sich (trotz der zu erwartenden, ziemlich verwickelten und keineswegs widerspruchsfreien Gemengelage), ob Vorzeichen jener ideengeschichtlichen Wende hin zum ‚modernen Nihilismus‘ bereits früher (sozusagen „vor der Klassik“)[7] bei Schiller zu erkennen sind und welche Bedeutung dies bei der Entwicklung der kulturellen Erneuerungsutopien rund um die Gründung einer ‚ästhetischen Kultur‘ sowohl bei Schiller als auch bei Nietzsche gehabt haben könnte.

In einem ersten Schritt wird der historische und ideologische Zusammenhang nachgezeichnet, vor dem das Verhältnis Nietzsches zu Schiller – auf der langen Welle der Wiederentdeckung Nietzsches durch die Edition von Colli und Montinari – im Italien der 1970er und 1980er Jahre in den Fokus genommen wurde. Danach wird die Kontinuitätslinie dargestellt, die vor allem Schillers und Nietzsches Anthropologie und Kulturkritik miteinander verbindet. Hier werden zwei grundsätzlich entgegengesetzte Auffassungen von Kultur in der Moderne voneinander unterschieden: zum einen (mit Nietzsches Worten) die optimistische, „modische Pseudokultur“ (BA, KSA 1, 691) als bloße „Dekoration des Lebens“ (HL, KSA 1, 333), welche die „moderne Jahrmarkts-Buntheit“ hervorbringt (DS, KSA 1, 163) und dem Konsum künstlerischer Formen frönt; zum anderen die positiv bewertete, ‚tragische Kultur‘ „als neu[e] und verbessert[e] Physis“ (HL, KSA 1, 334), ja als erhabenes, sinnstiftendes Projekt des Menschen. Zuletzt wird deutlich gemacht, dass der von Riedel herausgestellte „moderne heroische Nihilismus“ die Voraussetzung zur Errichtung einer ästhetischen Kultur darstellt, die sowohl Schiller als auch Nietzsche als erhabene Kultur des Willens auffassten – einer Kultur, die als kritische Aufgabe und Pflicht des modernen ‚militanten‘ Philosophen beziehungsweise Intellektuellen versteht, die nach physiologischen Gesetzen die Tendenzen der eigenen Zeit steuern sollen.

1 Unter italienisch-deutschem Himmel – eine Konstellation

Da Schiller a Nietzsche‘: In den letzten vier Jahrzehnten hat sich die italienische Germanistik immer wieder mit dem engen ideengeschichtlichen Verhältnis zwischen Schiller und Nietzsche beschäftigt.[8] Auffällig ist dabei nicht das ausgeprägte Interesse, das diese Auslandsgermanistik zwei Größen der deutschen Kultur entgegenbringt, sondern die besondere Aufmerksamkeit, mit der sie sich dem Zusammenhang widmete, der zwischen dem deutschen „Dichter der Freiheit“ und dem „Denker, der mit dem Hammer philosophiert“ bestehen soll.[9] Deutliche Kontinuitätslinien, auf die im Folgenden zurückzukommen sein wird, wurden dabei herausgearbeitet. Kurz und bündig lautet dabei die These: Wird die Genealogie der Moderne hinterfragt, so führt ein direkter Weg von Schiller zu Nietzsche. Doch wann genau und aus welchen Forschungsprämissen heraus wurde diese – wiederum ‚etwas steile‘ – These in Italien aufgestellt? Vor welchem kulturellen und politisch-ideologischen Hintergrund und mit welcher Plausibilität? Welche italienischen Literaturwissenschaftler haben sich insbesondere für diese These stark gemacht?

In einem Aufsatz aus dem Jahr 2007 mit dem sprechenden Titel Da Schiller a Nietzsche. Studi sui ‚Briefe über Don Carlos‘[10] stellt Luca Crescenzi eine signifikante ‚Wende‘ in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Schillers Werk in Deutschland und Italien in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts fest. Diese Wende habe in beiden Ländern zu einer Wiederentdeckung und -aufwertung des deutschen Dichters geführt –, nachdem er lange Zeit entweder als reiner Idealist und Moralist für unwiederbringlich überholt oder aber lediglich als ‚poetischer Philosoph‘, und nicht als Theaterdichter, für schätzenswert erklärt wurde. So schreibt Crescenzi: „In Deutschland und auch in Italien kam der Wendepunkt zwischen den späten 1970er und dem Beginn der 1980er Jahre, als eine Rückkehr der Aufmerksamkeit auf Schillers Theater eine große Anzahl von ‚Gegendeutungen‘ durch führende Interpreten des deutschen achtzehnten Jahrhunderts brachte: Ich erwähne, allen voran, Gerhard Sauder und Hans-Jürgen Schings in Deutschland (aber auch Dieter Borchmeyer) und Giuliano Baioni in Italien. Letzterer hat oft, sowohl öffentlich als auch privat, auf die allzu deutlichen Affinitäten zwischen Schiller und Nietzsche hingewiesen, noch bevor Wolfgang Riedel in Deutschland zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam“.[11]

Entscheidender als die Frage, welcher italienische beziehungsweise deutsche Literaturwissenschaftler zuerst den ideengeschichtlich fruchtbaren Forschungsweg von Schiller zu Nietzsche in jüngerer Zeit eingeschlagen hat, erscheint dabei allerdings der Hinweis auf den unterschiedlichen historischen, politischen und kulturellen Kontext, in dem die germanistische Auseinandersetzung mit Schiller und Nietzsche in Italien beziehungsweise in der BRD stattfand.

Mit gutem Recht lässt sich behaupten, dass das erwähnte Interesse der italienischen Germanistik am ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen Schiller und Nietzsche seit den späten 1970er Jahren hauptsächlich auf Giuliano Baionis einschlägige Forschungsarbeit zu diesem Thema zurückgeht. Baioni (1926–2004), den Claudio Magris 2005 als den „größten Germanisten“ Italiens bezeichnete,[12] wirkte seit den frühen 1960er Jahren zunächst an den Universitäten Palermo, Triest, Padua und Bologna und dann ab 1977 (und bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002) an der Universität Venedig. Hervorgehoben seien in unserem Zusammenhang vor allem zwei Studien Baionis: der Aufsatz aus dem Jahr 1989 mit dem programmatischen Titel Da Schiller a Nietzsche sowie der wegweisende,[13] in Deutschland „zu Unrecht selten angeführte[]“ Essay zum Dionysisch-Erhabenen,[14] der bereits 1981 in Sossio Giamettas und Mazzino Montinaris italienischer Übersetzung von Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen im Turiner Verlag Einaudi als einleitende Abhandlung veröffentlicht wurde –[15] auf beide kommen wir auf den nächsten Seiten zurück.

Beim Namen des Mitherausgebers der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches Montinari, der hier bereits gefallen ist, lohnt es sich, etwas zu verweilen.[16] Es ist kaum nötig, auf die Rolle hinzuweisen, welche die italienischen Herausgeber Colli und Montinari bei der Wieder- und Neuentdeckung des deutschen Philosophen ab den 1960er Jahren spielten. Es sei hier bloß daran erinnert, dass der aus dem toskanischen Lucca stammende Historiker Mazzino Montinari (1928–1986) ursprünglich keine akademische Laufbahn anstrebte, sondern in den 1950er Jahren zunächst einmal ein durchaus überzeugter und engagierter Funktionär in den Kulturorganisationen der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) war, wobei er unter anderem die 1961 erschienene italienische Übersetzung von Franz Mehrings Geschichte der Sozialdemokratie (Storia della socialdemocrazia tedesca) im Parteiverlag Editori Riuniti vorlegte.[17] In der Tat: „Montinari kam von Marx, Engels, Kautsky, Mehring, Lukács, Lenin, Stalin her“, wie sein Mitarbeiter und Freund Sossio Giametta festgehalten hat;[18] dabei handelte es sich um Autoren, die Montinari „nicht nur gelesen und studiert, sondern auch übersetzt, überarbeitet oder für den Druck aufbereitet [hatte] – und dies in jahrelanger politisch-kultureller Arbeit“.[19] Als eingeschworener Antifaschist blieb Montinari zeit seines Lebens den Idealen des demokratischen Sozialismus treu. „Bevor er Philologe wurde“, so unterstreicht Giametta, „war Montinari lange Zeit ein Aktivist der Kommunistischen Partei Italiens. Auch als er Ende 1957 seine Tätigkeit als Parteifunktionär beendete, um sich der Philologie zu widmen, löste er sich weder vom Kommunismus noch von der Militanz, die er auf seine Weise durch die Ausübung der Philologie fortsetzen wollte“.[20] ‚Philologie‘ und ‚politisches Engagement‘ gehörten bei Montinari zueinander: Sie stellen die Pole dar, zwischen denen sich seine Persönlichkeit auch aus heutiger Sicht zu erkennen gibt und bewertet werden soll.[21] Dabei sei in Erinnerung gerufen, dass Italien nach 1945 und bis zum Fall der Berliner Mauer die größte kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion hatte – eine Partei, die sich, von der politischen Herrschaft ausgeschlossen, regelrecht zu einer Kulturmacht entwickelte, wie Thomas Steinfeld 2021 anlässlich des hundertsten Jubiläums ihrer Gründung in der Süddeutschen Zeitung festhielt: „In keinem anderen Land der Welt erwarb eine sich zum Kommunismus bekennende Kultur eine solche Bedeutung, und keine kommunistische Kultur wurde im Ausland so geschätzt, ja so verehrt und bewundert wie die italienische“.[22]

Vom „Glück, Kommunist zu sein“, ist nicht zufällig in Bezug auf Montinaris Laufbahn in den 1950er und 1960er Jahren in der jüngsten Forschungsliteratur die Rede.[23] Mehr noch: von der „glückliche[n] Verbindung von Politik und Kultur“, ja, von der „Idee, den Proletariern durch Bildung zu Mündigkeit zu verhelfen“, oder gar von der „kommunistischen Kulturindustrie“, die eine große Wirkung im Italien der Nachkriegszeit entfaltete.[24] Es lohnt sich durchaus, diese Elemente nicht vorschnell als bloße Akzidentien oder gar als reine Kuriosa in der Geschichte der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken abzutun. Im Gegenteil: Montinaris starkes ideologisches Kredo färbte naturgemäß auch auf seine Herausgebertätigkeit mit Colli ab und gehört fest zu seiner editorischen Leistung einer radikal neuen Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie nach der Niederlage des Nazifaschismus und in der neuen politischen Weltordnung des Kalten Krieges. Es mag zutreffen, dass Montinari, wie Giametta kritisch anmerkte, in seiner eigentümlichen Stellung eines linken Intellektuellen und Parteifunktionärs beziehungsweise Sympathisanten des PCI „[n]ur Narr, nur Philologe“ blieb –[25] ja, dass er sein ganzes Leben „zwischen zwei Stühlen“ saß und dabei schließlich weder der „Politik“ noch der „Kultur“ wirklich einen Dienst erwies, indem er beiden zu dienen versuchte.[26] Doch ganz unabhängig davon, wie das Werturteil über Montinaris politische Grundhaltung und ihre Auswirkungen auf seine Arbeit als Philologe ausfällt, so gilt es allerdings zunächst einmal festzuhalten, dass die beschriebene antifaschistische Grundeinstellung Montinaris als fester Bestandteil zur Geschichte der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gehört.

Gleiches lässt sich im Übrigen von Montinaris Deutung von Nietzsches Gesamtwerk behaupten. Giamettas kritisches Fazit mag auch in diesem Fall zutreffen: „Der Nietzsche, der Montinari interessierte, war der Aufklärer: kalt, wissenschaftlich, rational, ‚kein Schöpfer von Mythen, sondern der Zerstörer aller Mythen‘“.[27] Gleichwohl ist auch Montinaris eigentümliche Interpretation, ja Wertung des Philosophen vor dem oben beschriebenen historischen und ideologischen Hintergrund zu verstehen. Nur so lässt sich seine ausdrückliche Vorliebe für den ‚mittleren‘ Nietzsche erklären, seine deutliche Sympathie für Nietzsche als den unvergleichlichen und unerbittlichsten Kritiker der deutschen Kultur und der Deutschen deuten; und nur so lässt sich schließlich seine Präferenz für den (in seinen Augen) ‚authentischen‘ Nietzsche historisch gerecht bewerten:[28] für Nietzsche als einen im besten Sinne des Wortes verstandenen ‚Aufklärer‘.[29]

Ohne Zweifel war Aufklärung für Montinari ein unbedingt positiv konnotierter Begriff. So überrascht es denn auch kaum, dass das Adjektiv ‚aufgeklärt‘ noch an einer anderen, exponierten Stelle in seiner Biographie wiederkehrt. Anfang der 1970er Jahre erfolgt Montinaris akademische Berufung als Professor für Neuere deutsche Literatur an die Universität Urbino.[30] In einem Lebenslauf aus dem November 1984 denkt Montinari an diesen bedeutenden Moment in seinem Werdegang zurück (neben dem „‚Handwerk‘ des Philologen“ nun das „achtbare“ Metier des ‚Lehrers‘!)[31] und schreibt dabei: „Im Oktober 1973[72! – P. P.] wollte eine vorurteilslose und aufgeklärte Kommission […] meine Tätigkeit als eher atypischer Germanist auszeichnen, indem sie mich mit zwei anderen zusammen in die engere Auswahl eines zu besetzenden Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Literatur zog“.[32] An dieser Stelle nennt Montinari auch die Namen der fünf Kommissionsmitglieder: „Ladislao Mittner, Marianello Marianelli, Cesare Cases, [und] Giuliano Baioni“ („das fünfte Kommissionsmitglied, Francesco Delbono“, wie Montinari ebenfalls notiert, „votierte dagegen“).[33] Montinaris ‚aufgeklärte‘ Kommission bestand somit aus namhaften italienischen Germanisten wie Marianelli, dem späteren Freund Montinaris,[34] und Cases, der mit dem Historiker sowie Montinaris Lehrer und Betreuer Delio Cantimori befreundet war und später,[35] in seiner Erinnerung an den verstorbenen Montinari, ihn anerkennend den „letzten Großherzog von Weimar“ nannte.[36] Doch in der Kommission, die Montinari die Lehrbefähigung erteilte, saßen nicht zuletzt auch Giuliano Baioni und sein akademischer Lehrer Ladislao Mittner (1902–1975), der ‚Vater‘ der italienischen Germanistik, dessen Lehrstuhl in Venedig Baioni später übernahm und bis zu seiner Emeritierung innehatte.

Dass sich Montinaris und Baionis Lebenswege bei dieser markanten Gelegenheit kreuzten und dass der Kandidat im Nachhinein seine damalige Kommission als ‚aufgeklärt‘ bezeichnete, ist das eine. Das andere ist aber, dass Baioni Montinaris Deutungsperspektive auf den noch umstrittenen Philosophen des ‚Willens zur Macht‘ durchaus teilte. Den positiv konnotierten ‚Aufklärer‘ Nietzsche setzte auch er in seinen Schriften nicht zufällig dem ‚anderen‘ Nietzsche strikt entgegen, jenem Nietzsche nämlich, der weder zu übersehen noch zu leugnen war – dem großtuerischen „Posaunen-“ beziehungsweise „Fanfarenbläser aus dem neunzehnten Jahrhundert“ (wie er ihn schmunzelnd in seinen Vorlesungen nannte) –,[37] bei dem jedermann stets guten Grund gehabt habe, auf Abstand zu gehen. „Wer bei der Nietzsche-Lektüre nicht das Gefühl hat, frei zu atmen“, so hatte ja schon Montinari 1975 in seiner Einführung Che cosa ha ‚veramente‘ detto Nietzsche geschrieben, „sollte besser davon Abstand nehmen, um nicht zu einer Karikatur zu werden und als Nietzscheaner zu enden“.[38] Montinaris Plädoyer, Nietzsche weder „wörtlich“ noch seine „Haltungen“ „ernst“ zu nehmen,[39] hatte sich auch Baioni also zweifellos zu eigen gemacht.

Selbstverständlich schlugen sich diese Aspekte auch auf Baionis Betrachtungen über Nietzsches Verhältnis zu Schiller nieder, mit denen wir uns hier im Folgenden auseinandersetzen wollen. Markante Kontinuitätslinien zwischen Schiller und Nietzsche herauszuarbeiten, bedeutete allerdings in diesen Jahren für einen Germanisten, nicht nur die Gesamtdeutung Nietzsches als ‚Zerstörer der Vernunft‘ entschieden zurückzuweisen und sein Denken konsequent zu rehabilitieren,[40] sondern ihm (nach „rechter Vereinnahmung und linker Verteufelung“)[41] gar einen der prominentesten Plätze in der Geschichte der deutschen Kultur einzuräumen – ein kühnes Unterfangen, das sich aus ersichtlichen Gründen womöglich leichter im Ausland als in der BRD oder in der DDR gestalten ließ. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum Baioni im bereits erwähnten Essay zum Dionysisch-Erhabenen fast plakativ Nietzsche als den „letzten legitimen Erben“ der „Kultur der Goethezeit“ definierte;[42] oder warum er bereits in der frühen Phase der Geburt der Tragödie eine „aufklärerische Grundeinstellung“ erkannte, die Nietzsche, „nachdem die Missverständnisse beseitigt waren, die Schopenhauers Philosophie und Wagners Musik für sein Denken darstellten, in seinem ganzen späteren Werk ab Menschliches, Allzumenschliches konsequent weiterentwickelt“ habe.[43]

Da Schiller a Nietzsche‘ – allmählich wird es deutlich: Wer sich mit dem ‚direkten‘ ideengeschichtlichen Weg auseinandersetzt, der uns von Schiller zu Nietzsche führt, der befasst sich vor dem beschriebenen Hintergrund mit der Entstehung des modernen heroischen Nihilismus aus dem Geiste aufklärerischer Anthropologie und Kulturkritik.[44]

2 Kontinuitätslinien I.: schöne dekorative Pseudo-Kultur oder erhabene tragische Kultur

Zu klären ist zunächst einmal die etwas rätselhafte Formel des ‚heroischen Nihilismus‘. Begriffsgeschichtlich ist der Terminus ‚Nihilismus‘ ausgesprochen heterogen,[45] sodass seine Geschichte hier nicht einmal in Ansätzen skizziert werden kann.[46] Wertfrei betrachtet stellt Nihilismus, um mit Panajotis Kondylis zu sprechen, die konsequent durchdachte, „elementare Einsicht“ dar, dass alle Werte „relativ“ sind und der Mensch „sterblich“ ist.[47] Allgemein ist der Terminus allerdings (auch bei Nietzsche) meistens negativ besetzt, wobei Spielräume für eine positive Deutung des Begriffs gegeben sein müssten. Denn zumindest in seiner ‚heroischen‘ Variante soll jener moderne Nihilismus, der in Riedels Worten den alteuropäischen Stoizismus in den Hintergrund gedrängt hat, an sich als positiv gelten. Um deutlich zu machen, was hier unter der Formel des „heroischen Nihilismus“ (der „Stärke“) zu verstehen ist,[48] soll somit der heroische Anteil derselben deutlich konturiert werden. Oder ganz umgekehrt: Wird zunächst der negativ konnotierte, ‚unheroische‘ Nihilismus (der Schwäche) definiert,[49] so lässt sich dann der ‚heroische Nihilismus‘ als Gegensatz dazu leichter begreiflich machen.

In dem berühmten, aus sechzehn Abschnitten bestehenden Fragment zum „Europäischen Nihilismus“, das Nietzsche auf den 10. Juni 1887 in der „Lenzer Heide“ datiert (NL, KSA 12, 211) und Montinari in seinem Essay Critica del testo e volontà di potenza schlicht und ergreifend als „eindrucksvoll“ (ja: „grandioso“) bezeichnet,[50] steht der negativ konnotierte Nihilismus als „die Gefahr der Gefahren“ im Mittelpunkt.[51] Hier schreibt Nietzsche, dass die christliche Moral selbst anfangs als „Erhaltungsmittel“ für den europäischen Menschen fungiert, mehr noch, dass sie das „große Gegenmittel“ gegen den „Nihilismus“ dargestellt habe (NL, KSA 12, 211). Dank der „Wahrhaftigkeit“ sei der Mensch zur „christliche[n] Moral-Hypothese“ gekommen und habe somit einen ersten Angriff des Nihilismus überwunden. Nun wende sich allerdings gerade die Wahrhaftigkeit gegen die christliche Moral, denn jetzt wirke die „Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade als Stimulans“. Dies führe erneut zum „Nihilismus“ (NL, KSA 12, 211). In Bezug auf seine Gegenwart schreibt Nietzsche im vierten Abschnitt des Fragments, dass der Nihilismus „jetzt“ erscheine, „nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen ‚Sinn‘ im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei“ (NL, KSA 12, 212).

Doch auch gegen dieses existenzielle „Umsonst“, das heißt gegen die erneute Gefahr, die vom Nihilismus ausgeht, lassen sich, wie Nietzsche weiß, einige „Gegenmittel“ finden – gleichviel, ob Beruhigungs- oder Rauschmittel. Es fragt sich nämlich, welche Kultur, gegen die sich Nietzsches Kritik hier richtet, auf dem geistigen Boden des „Umsonst“ bereits gereift ist beziehungsweise welche Früchte sie getragen hat und noch trägt; es fragt sich, welche Bedeutung und welche Funktion diese Kultur der ästhetischen Sphäre beimisst oder für sie vorsieht. Denn ganz gleich, ob diese zu überwindende Kultur bei Nietzsche mit dem frühen ‚Bildungsphilister‘ in Zusammenhang gebracht oder ob sie mit dem späten Begriff der décadence definiert wird: Für Nietzsche handelt es sich im Prinzip stets um dieselbe dekadente Kultur, die nach dem „Selbstmord“ der attischen Tragödie entstanden ist (GT, KSA 1, 75). Das ist die Kultur des „aesthetischen Sokratismus“, der das tragische Prinzip des Daseins negiert und die Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten und Wahren propagiert (ebd., 85); es ist die Kultur, der jede „Einheit des künstlerischen Stiles“ fehlt (DS, KSA 1, 163), die vielmehr gerade durch das Gegenteil gekennzeichnet sei, nämlich die „Stillosigkeit“ oder das „chaotische[-] Durcheinander aller Stile“ (ebd.). Es handle sich, kurz gesagt, um jene „dekorativ[e] Cultur“ (HL, KSA 1, 334), die – emphatisch ausgedrückt – auf den modernen, kompulsiv und orientierungslos nach künstlerischen Rausch- und Betäubungsmitteln strebenden Verbraucher maßgeschneidert ist. „Die Formen“ – so schreibt Nietzsche nicht von ungefähr in seiner ersten Unzeitgemässen Betrachtung – „Farben, Producte und Curiositäten aller Zeiten und aller Zonen häuft der Deutsche um sich auf und bringt dadurch jene moderne Jahrmarkts-Buntheit hervor, die seine Gelehrten nun wiederum als das ‚Moderne an sich‘ zu betrachten und zu formuliren haben; er selbst bleibt ruhig in diesem Tumult aller Stile sitzen“ (DS, KSA 1, 163). Als Narkotikum oder Rauschmittel eingenommen, mag der ästhetische Schein tatsächlich das Leben im Rahmen einer dekadenten Kultur erträglich machen. Durchaus beklemmend kann dabei allerdings im Einzelfall die Einsicht wirken, dass das Leben hier nichts anderes darstellt als sich verbrauchende Energie, die unweigerlich ins Nichts mündet. Der passive Nihilismus der Schwäche, den Nietzsche als ein Zeichen einer insgesamt depotenzierten und dekadenten Kultur in der Epoche des „geschwächten Christenthum[s]“ (NL, KSA 8, 103) interpretiert, geht hier mit dem bunten Karneval aller möglichen Stile und dem kontinuierlichen Verbrauch künstlerischer Formen Hand in Hand, deren apollinische Ordnung als tröstende Wiederspiegelung einer objektiven Ordnung des Seins fehlgedeutet wird.[52]

Die scharfe Kritik des unzeitgemäßen Betrachters an der Kultur seiner Zeit setzt allerdings eine kritische Tradition in Deutschland fort, die, wie Baioni deutlich machte, von der Aufklärung über die Romantik – von Klopstock, über Wieland, Friedrich Schlegel und Kleist – bis zu Wagner hinreicht und ihre Polemik anhand der Kategorie der „Mode und des Luxus“ entfaltet.[53] Essentiell erweise sich dabei die Einführung der Polarität einer ‚doppelten Ästhetik‘ der Moderne,[54] nämlich des Schönen und des Erhabenen, in die ästhetische Theorie des achtzehnten Jahrhunderts durch Edmunds Burkes wirkungsmächtige Schrift Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757).[55] Vor diesem Hintergrund gedeutet, stellt auch jene als bloß ‚dekorativ‘ angeprangerte Kultur des Bildungsphilisters, die der junge Nietzsche noch durch die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste von Wagners Musik zu überwinden glaubt, eine genüssliche ‚weibliche‘ Kultur des ‚Schönen‘ dar, gegen die eine strenge ‚männliche‘ Kultur des ‚Erhabenen‘ Front machen soll. Um die sogenannte „aufklärerische Phase von Nietzsches Werk“ richtig beurteilen zu können, schreibt Baioni in seinem Essay zum Dionysisch-Erhabenen, „und insbesondere seinen voluntaristischen Aktivismus, seinen Moralismus des Immoralismus, sein Ethos des freien Geistes, mit einem Wort: seinen erhabenen neoclassicismo, der nur eine Schönheit akzeptiert, die – wie es in einem Notat aus dem Jahr 1888 heißt – ‚erobert, gewollt, erkämpft‘ sein will, ja, einen ‚Sieg‘ darstellen sollte [NL, KSA 13, 225] – sind stets die tiefen Wurzeln von Nietzsches germanisch und lutherisch geprägter, von Philologie und Theologie bis ins Mark genährter Klassik zu berücksichtigen, die das Klassische nur als ein heroisches und asketisches Ethos der ständigen Überwindung aller Verlockungen durch die Formen des Schönen verstehen kann“.[56]

In diesem Sinne stelle die décadence eine „Kultur des Schönen“ dar, wie Baioni festhält.[57] Diese Kultur ist allerdings auch – so lässt sich vor dem Hintergrund des Gesagten ergänzen – gleichermaßen Nährboden und Resultat des ‚passiven‘ Nihilismus der Schwäche.

Im Gegensatz dazu muss der moderne heroische Nihilismus als jene Anschauung von Welt und Mensch verstanden werden, die sich nicht über die „absolute Immoralität der Natur“ oder über die „Zweck- und Sinnlosigkeit“ des Lebens hinwegtäuschen lässt, sondern ihr direkt ins Auge sieht (NL, KSA 12, 212). Der ‚heroische‘ Anteil besteht in dieser Haltung nicht etwa darin, dass die Tragik des Daseins notgedrungen erduldet wird, sondern darin, dass der Mensch sie willentlich bejaht.

Beim späten Nietzsche ist es dann genau diese Weltanschauung, welche die Stärksten auf Erden auszeichnet: Ihr Nihilismus ist also ein aktiver, vorsätzlicher, ja heroischer und erhabener Nihilismus des Willens: „Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der Nothwendigkeit einen Schleyer wirft, und um sich bey den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlseyn und Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen. Stirne gegen Stirn zeige sich uns das böse Verhängniß. Nicht in der Unwissenheit der uns umlagernden Gefahren – denn diese muß doch endlich aufhören – nur in der Bekanntschaft mit denselben ist Heil für uns. Zu dieser Bekanntschaft nun verhilft uns das furchtbar herrliche Schauspiel der alles zerstörenden und wieder erschaffenden, und wieder zerstörenden Veränderung – […,] welche die Geschichte in reichem Maaß aufstellt, und die tragische Kunst nachahmend vor unsre Augen bringt“.[58]

Fast möchte der Duktus der wiedergegebenen Textpassage selbst den Kenner täuschen: Das Zitat stammt nicht von Nietzsche, sondern von Schiller! Es ist möglich, dass Wolfgang Riedel auch diese wortgewaltige Passage aus Schillers Essay Über das Erhabene im Kopf hatte, als er seine ‚steile These‘ zum modernen ‚heroischen Nihilismus‘ aufstellte. Daran dachte jedenfalls ohne Zweifel Baioni, als er Nietzsches Verhältnis zu Schiller in der prägnanten Formel des „Dionysisch-Erhabenen“ charakterisierte.[59]

Damit ist ein zentraler Punkt meiner Argumentation berührt: Nicht nur, weil Nietzsche Schillers lapidare Definition des Menschen aus dessen Schrift Über das Erhabene als „das Wesen, welches will“ (NA 21, 38) grundsätzlich teilt, sondern weil diese anthropologische Bestimmung ebenso von weitreichender Bedeutung ist, wenn allgemein nach Sinn und Möglichkeiten der menschlichen Kultur gefragt wird. Denn wenn der Mensch das Wesen ist, welches will, so wird auch seine Kultur eine solche sein, die ‚gewollt werden will‘, das heißt eine Kultur, die ein selbständiges Projekt des Menschen jenseits jeder vorherbestimmten, metaphysischen oder immanenten Sinnordnung darstellt. Vor diesem Hintergrund ist dann schließlich auch die Formel des ‚modernen heroischen Nihilismus‘ zu verstehen: Die Gesundheit oder Krankheit des Menschen sowie die Progression oder Regression seiner Kultur liegen ausschließlich in seiner eignen, in menschlicher Hand: Das postuliert bereits Schiller, wenn er in Über das Erhabene schreibt, dass die Kultur „den Menschen in Freyheit setzen [soll] und ihm dazu behülflich seyn, seinen ganzen Begriff zu erfüllen“, und wenn er dabei unterstreicht: „Sie soll ihn also fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will“ (NA 21, 39).

Schöne dekorative Pseudokultur oder erhabene tragische Kultur? Auf der einen Seite steht die dekadente und philisterhafte Kultur des ‚Schönen‘, die dazu berufen ist, den modernen ‚verfeinerten‘ und ‚erschlafften‘ (NA 20, 340) Kunstkonsumenten mit immer neuen Formen und Gütern zu beliefern, damit er sich über die grundsätzliche Sinnlosigkeit des Lebens hinwegtäuschen kann. Auf der anderen Seite findet sich hingegen die ‚erhabene‘ tragische Kultur als sinnstiftendes Projekt des Menschen – eine Kultur, die darum weiß, dass die schöne Form „keine positive Wiederspiegelung einer objektiven Ordnung des Seins“ ist, sondern nur ein „reines Instrument des menschlichen Beherrschungswillens über die Kräfte der Natur“ darstellt.[60] Anscheinend steht Schiller Nietzsche hier so nahe, dass er tatsächlich „fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe[n]“ könnte.[61]

3 Kontinuitätslinien II: Die Physiologie der Kultur und die Kultur als Militanz, Aufgabe und Pflicht

„Das Hellenenthum, die einzige Form, in der gelebt werden kann: das Schreckliche in der Maske des Schönen“ (NL, KSA 7, 80): So fasst Nietzsche in einem frühen Fragment aus dem Jahr 1869/70 seine Auffassung der griechischen Antike zusammen. In der Geburt der Tragödie wird das Schreckliche der Existenz bekanntlich durch Silen, den Begleiter des Dionysos, verkündet. Diesem Tragischen musste der Grieche, so Nietzsche, das „kunstvolle Gebäude der apollinischen Cultur“ (GT, KSA 1, 34) entgegensetzen, also den Aufbau einer neuen Ästhetik, die jedoch nicht mehr als eine Form der Erkenntnis zu verstehen ist, sondern eine regelrechte „Philosophie der Physiologie“ darstellt, welche „die sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen des Menschen in Kultur, gesellschaftliche Mitteilung und soziale Kommunikation verwandeln soll“.[62] Bei Nietzsche hängt der Fortschritt oder Rückschritt der Kultur von der Wechselbeziehung des Apollinischen und Dionysischen ab, die als die gegensätzlichen Momente einer „‚anthropologischen‘ Polarität“ verstanden werden,[63] in der sich schließlich die zwei Naturen des Menschen vereinigt wiederfinden. Es ist kein Zufall, wenn man sich dabei sowohl an Schillers frühe Betrachtungen über den Zusammenhang der tierischen und geistigen Natur des Menschen als auch an die grundlegende Polarität von ‚Stofftrieb‘ und ‚Formtrieb‘ in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen erinnert fühlt.[64] Aus der Paarung des Apollinischen und des Dionysischen entstand für Nietzsche, wie durch ein Wunder, das herausragende Kunstwerk der attischen Tragödie (GT, KSA 1, 26). Dabei stellt der Zustand einer perfekten Balance der beiden Pole aber keinesfalls ein erstrebenswertes Ziel für die Kultur dar, denn ein kontinuierliches Gleichgewicht beider „Triebe“, wie das Apollinische und Dionysische in der Geburt der Tragödie explizit genannt werden (GT, KSA 1, 26), würde den Stillstand des Organismus (und somit auch des Organismus der Kultur) bedeuten. Viel wichtiger als das einmalige Resultat der Korrelation beider Pole, nämlich die attische Tragödie, ist somit die grundsätzliche ‚physiologische‘ Bedeutung des Polaritätsprinzips selbst. Denn wenn die Wechselwirkung des Apollinischen und Dionysischen die Gesundheit oder Krankheit sowohl des menschlichen als auch des kulturellen Organismus bedingt, so stellen die beiden Pole implizit auch die Instrumente dar, welche gezielt eingesetzt werden können, um den physiologischen Werdegang der Kultur in die ‚erwünschte‘ – ja: ‚gewollte‘ Richtung zu steuern. Nur weil der moderne Mensch auch die Kultur jenseits des Machtbereiches einer göttlichen Vorsehung verortet und die physiologischen Gesetze kennt, die für ihre Entwicklung verantwortlich sind, kann er direkt auf sie Einfluss nehmen, indem er mal stärker die materiellen, mal stärker die spirituellen Bedürfnisse einer Gesellschaft befriedigt. Mehr noch: Nur weil er sich über die Physiologie der Kultur im Klaren ist, kann er sie als ein selbständiges, sinnstiftendes Projekt menschlichen Lebens betrachten, dessen Umsetzung ausschließlich seiner Verantwortung unterliegt.

Deutliche Spuren einer regelrechten ‚Philosophie der Physiologie‘,[65] die mit einem Programm der kulturellen Erneuerung einhergeht, lassen sich von Nietzsche zu Schiller zurückverfolgen. Von Schillers spätem Essay Über das Erhabene war schon die Rede. Jedoch spricht die „Anthropologie des jungen Schiller“ bereits für sich.[66] In der dritten Dissertation, die der Karlsschüler der Prüfungskommission vorlegte, schreibt der angehende Mediziner, dass Körper und Geist des Menschen so miteinander verwoben seien, dass „Fundamentalgesez[e]“ formuliert werden könnten, denen die menschliche Natur unterworfen sei, und dass diese Gesetze sich nicht von ungefähr um die physiologischen Pole von ‚Lust‘ oder ‚Unlust‘ drehten (NA 20, 57). Das erste Gesetz lautet dabei: „Geistige Lust hat jederzeit eine thierische Lust, geistige Unlust jederzeit eine thierische Unlust zur Begleiterin“ (ebd.); das zweite: „die allgemeine Empfindung thierischer Harmonie [ist] die Quelle geistiger Lust, und die thierische Unlust die Quelle geistiger Unlust“ (Ebd., 63). Genau diese Gesetze bedingten nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch dasjenige der Gesellschaft, die somit auch physiologische Höhen und Tiefen, Blüte- und Verfallzeiten kenne.[67]

Auch Julius, der jugendliche Protagonist aus Schillers Philosophischen Briefen, ist sich offensichtlich der Folgen bewusst, welche die zitierten medizinischen Fundamentalgesetze nach sich ziehen, wenn er im ersten Brief an seinen Freund und Mentor Raphael schreibt, dass seine „Glükseeligkeit“ nicht mehr der göttlichen Vorsehung, sondern „von jetzt an dem harmonischen Takt [s]eines Sensoriums anvertraut“ (NA 20, 111) sei. „Wehe mir“, – ruft er dabei aus, „wenn die Saiten dieses Instrumentes in den bedenklichen Perioden meines Lebens falsch angeben – wenn meine Ueberzeugungen mit meinem Aderschlag wanken!“ (Ebd.) Aus physiologischer Sicht ist Julius’ Befürchtung nicht unbegründet. Was er allerdings in seiner Angst vor existenzieller Einsamkeit – letzten Endes geht es hier nämlich um nichts weniger als um ein Leben ohne metaphysischen Halt – noch übersieht, ist die Tatsache, dass der moderne Mensch nun selbst nach physiologischen Gesetzen vorgehen kann, um das eventuell gestörte psychophysische Gleichgewicht des Individuums (und der Gesellschaft) mit Hilfe der Kultur wiederherzustellen.[68]

Wenn Schiller in den 1790er Jahren über die Notwendigkeit und Funktion einer ästhetischen Kultur nachdenkt, argumentiert er weiterhin nicht zufällig mit physiologischen Kategorien. An ganz prominenter Stelle, in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, begegnet man erneut den „zwey Fundamentalgesetze[n] der sinnlichvernünftigen Natur“, wie sie hier definiert werden (NA 20, 344), wo das eine Gesetz „auf absolute Realität“ („Stofftrieb“), das andere „auf absolute Formalität“ („Formtrieb“) dringt (ebd.). Dass es sich dabei um eine ‚anthropologische Polarität‘ handelt, steht außer Frage, da Schiller das gar unmissverständlich erklärt, wenn er schreibt: „Beyde Principien sind einander also zugleich subordiniert und coordiniert, d. h. sie stehen in Wechselwirkung; ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form“ (NA 20, 412). Genealogisch betrachtet, liegt somit Baionis These nahe, dass Nietzsches „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“ (KSA 1, 25), mit all dem, was sie für die Physiologie der Kultur bedeutet, bereits an dieser Stelle „eindeutig“ präfiguriert sei.[69] Der Organismus der Kultur erkrankt, wenn der natürliche Antagonismus der Prinzipien nicht mit einem ständig zu erneuernden Willensakt des Menschen gelenkt und gefördert wird. Wenn zugelassen wird, dass die in der Polarität vereinten ‚Triebe‘ außer Takt geraten, sich gegenseitig unterordnen oder sich gar von einander trennen, ist das Schicksal der Kultur besiegelt: Entweder wird die Kraft des Lebens die Form überwältigen oder die abstrakte Form das Leben ermatten. „In seinen Thaten mahlt sich der Mensch“, schreibt Schiller zeitkritisch bereits in den Briefen über die ästhetische Erziehung, „und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls, und beyde in Einem Zeitraum vereinigt“ (NA 20, 319).

In der täglichen Arbeit an seiner Kultur kann der moderne Mensch als „freies Subjekt der Kultur“ seine Freiheit gegenüber der Naturnotwendigkeit jedoch immer wieder behaupten.[70] „Diese Macht des Menschen, die vitalen Funktionen seiner eigenen Kultur zu lenken,“, so hielt Baioni prägnant im Aufsatz Da Schiller a Nietzsche fest, „nennt Schiller ‚Spieltrieb‘, der genau den transzendentalen Ort der Kultur definiert, d. h. jenen Ort über der Polarität, welcher den Ort des ästhetischen Zustands – bereits im nietzscheanischen Sinne des Willens zur Macht zu verstehen – bezeichnet“.[71]

Wer sich hier hinter dem ‚freien Subjekt der Kultur‘ tatsächlich verbirgt, ist mit Nietzsche leicht gesagt: „Die eigentlichen Philosophen“. Diese, so ist in Jenseits von Gut und Böse zu lesen, „sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ‚so soll es sein!‘, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr ‚Erkennen‘ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht“ (JGB, KSA 5, 145).

In einer ideengeschichtlichen Fluchtlinie, die Schiller und Nietzsche miteinander verbindet, bedeutet Kultur für diese modernen ‚Philosophen‘, ja für schöpferisch tätige ‚Intellektuelle‘, vor allem „Aufgabe, Pflicht und Militanz“.[72] Genau das verlangt schließlich der ‚moderne heroische Nihilismus‘, von dem in Riedels anfangs erwähntem Aufsatz die Rede ist – eine erfrischende Betrachtung übrigens, die vielleicht auch als kritisches Korrektiv gegenüber den „Einstellungen und Mentalitäten“ der heutigen „massenhaft konsumierende[n] und permissive[n] Massendemokratie“ weiterhin nicht ohne Bedeutung bleibt.[73]

Und so gesehen, erscheinen möglicherweise auch die ‚steilen Thesen‘, mit denen wir uns auf diesen Seiten auseinandergesetzt haben, am Ende als doch nicht ganz so ‚steil‘ wie am Anfang.

Online erschienen: 2024-11-09
Erschienen im Druck: 2024-11-08

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. 10.1515/NIFO-2024-026
  3. Teil I: Schiller, Nietzsche und die Genealogie der Moderne
  4. Zum Themenschwerpunkt:
  5. Schiller und Nietzsche – Gegenstrebige Fügung
  6. Der Wille zur Würde oder: Tanz der Sprachkörper
  7. Rationalismuskritik bei Schiller und Nietzsche
  8. Asketische Ideale und Metaphysic der Kunst
  9. Ethik und Ästhetik in Moderne und Spätmoderne: Von der „schönen Seele“ zur „erschöpften Selbstverwirklichung“
  10. Moralkonzept – Bildungsideal – Geschichtskonstruktion: Analogien und Differenzen zwischen Schiller, Schopenhauer und Nietzsche
  11. Zur Reflexion des philosophischen Stils bei Schiller und Nietzsche
  12. Singularisierung
  13. ‚Gegenwart‘ bei Schiller und Nietzsche
  14. Von steilen Thesen. Nietzsche, Schiller und die Physiologie der Kultur
  15. Teil II: Nietzsche-Werkstatt: Friedrich Nietzsche – Die Basler Vorlesungen (31. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta vom 05. bis 08. September 2023) Wissenschaftliche Leitung: Carlotta Santini und Enrico Müller
  16. Friedrich Nietzsche – Die Basler Vorlesungen: Zur Einführung
  17. Philology as an aesthetische Wissenschaft
  18. Nietzsches Mysterien einer Philosophie des Tragischen
  19. Auf der Suche nach der Instinktsprache in der Tragödie: Gebärden- und Tonsprache in Nietzsches Basler Vorlesungen
  20. Die Bedeutung von Nietzsches Empedokles-Lektüre für die Ausbildung seiner dionysischen Naturauffassung
  21. Nietzsche’s Basel Lectures on Plato: Unveiling the Revolutionary Figure of the Philosopher as Legislator
  22. Die Nachplatonischen Philosophen: Über eine nie gehaltene Basler Vorlesung
  23. Was ist ein ‚wahrer‘ Lehrer?
  24. Zur „Genesis des jetzigen Philologen“ anhand der Basler Schriften von Friedrich Nietzsche (1869–1875)
  25. Teil III: Beiträge
  26. Vom Porträt zur Ikone – Die Online-Datenbank NietzschePics
  27. Nur ‚Künste und Listen der Selbst-Erhaltung‘?
  28. Nietzsches Umwertung der platonischen und augustinischen Lichtmetaphorik
Downloaded on 17.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/NIFO-2024-010/html
Scroll to top button