1 Asketische Ideale – Nietzsche, Schiller und die Genealogie der modernen Ästhetik
„Was bedeuten asketische Ideale“? Mit dieser Frage ist die dritte Abhandlung Friedrich Nietzsches Zur Genealogie der Moral überschrieben, die zuerst 1887 erschien.[1] Sie beginnt mit einer Polemik gegen den Wagner des Parsifal und seinen philosophischen „Vordermann“ (GM, KSA 5, 345) Arthur Schopenhauer, denen Nietzsche Verlogenheit und Heuchelei vorwirft. Keineswegs seien die Künstler autonom, sondern „zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion.“ (GM, KSA 5, 344) Asketische Ideale widersprächen dem Ideal ästhetischer Autonomie, der Freiheit der Kunst von äußeren Zwecken.[2] Schopenhauers Kunstreligion mache den Musiker zu „eine[r] Art Mundstück des ‚An-sich‘ der Dinge, ein[em] Telephon des Jenseits“ (GM, KSA 5, 346). Hinter Schopenhauer stecke aber, so Nietzsche, kein anderer als Immanuel Kant, der Begründer der idealistischen Ästhetik. Diese These wird in Abschnitt III, 6 ausgeführt, ein Kapitel, das zu den schärfsten Invektiven gegen die idealistische Ästhetik zählt. Schopenhauer habe, so Nietzsche, „sich die Kantische Fassung des ästhetischen Problems zu Nutze gemacht“ (GM, KSA 5, 346). Beide hätten das ästhetische Geschehen, den „ästhetischen Zustand[]“ (GM, KSA 5, 348), verharmlost, indem sie ihn – Kant wie Schopenhauer gleichermaßen – auf die Kategorien von „Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit“ (GM, KSA 5, 346) reduzierten. Dies bedeute eine Verkennung des ästhetischen Erlebens, das in Wirklichkeit auf einer „Fülle eigenster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen“ (GM, KSA 5, 347) beruhe. Kants Bedingung für das Schönheitsurteil –, interesseloses Wohlgefallen, „le désintéressement“ –, wird zurückgewiesen zugunsten von Stendhals Position, der das Schöne als „promesse de bonheur“ gefasst habe (in Rome, Naples et Florence).[3]
Andreas Urs Sommer (in seinem Kommentar zur Genealogie der Moral),[4] Urs Heftrich und Barbara Neymeyr haben in ihren Untersuchungen zu diesem zentralen Kapitel eingehend gezeigt, wie tendenziös diese Kritik ist.[5] Barbara Neymeyr spricht von einer „inadäquate[n] Kontamination“ und von einer „problematischen Fehleinschätzung“,[6] die über die grundlegenden Unterschiede zwischen Kant und Schopenhauer pauschalisierend hinweggingen. Schon Martin Heidegger hatte in seinen Nietzsche-Vorlesungen darauf hingewiesen, dass dieser „immer Kant durch Schopenhauers sehr trübe Brille“[7] gesehen habe und dass „Nietzsches Feldzug gegen das ‚interesselose Wohlgefallen‘ im Grunde nicht Kant zum Ziel hat, sondern Schopenhauer“.[8] In der Tat: Der Vorwurf, Ästhetik als Asketik und Anästhetik zu denken, trifft vor allem Schopenhauer und geht von diesem aus. Dies belegt ein längeres Zitat aus Die Welt als Wille und Vorstellung, in dem Schopenhauer den „ästhetischen Zustand“ als jenen „schmerzenlose[n] Zustand [fasst], den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries“.[9] Der Mensch feiert, so Schopenhauer, den „Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still“ (GM, KSA 5, 348).[10] In der Götzendämmerung verteidigt Nietzsche die Kunst als „das grosse Stimulans zum Leben“ (GD, KSA 6, 127) gegen eine falsch verstandene Vorstellung von ästhetischer Autonomie („L’art pour l’art“), die er auch bei Schopenhauer feststellt: „‚[L]oskommen vom Willen‘ lehrte Schopenhauer als Gesammt-Absicht der Kunst, ‚zur Resignation stimmen‘ verehrte er als die grosse Nützlichkeit der Tragödie. – Aber dies – ich gab es schon zu verstehn – ist Pessimisten-Optik und ‚böser Blick‘ –: man muss an die Künstler selbst appelliren.“ (ebd.)
Dieser Vorwurf, Ästhetik auf Apathie und Anästhesie zu reduzieren, der Kunst die Triebe auszutreiben, wird nun auf Kant ausgedehnt. Bei ihm spürt Nietzsche jene „eigentliche Philosophen-Gereiztheit und -Rancune gegen die Sinnlichkeit“ (GM, KSA 5, 350). An anderer Stelle wird Kant, den Nietzsche als „Chinesen von Königsberg“ (JGB, KSA 5, 144) verunglimpft, als Moralist und Rigorist scharf angegriffen: Er sei „ein Moralfanatiker à la Rousseau mit unterirdischer Christlichkeit der Werthe“ (NL 9[3], KSA 12, 340).
Nietzsches Tiraden gegen Kant dienen natürlich nicht der fairen Auseinandersetzung; die Invektive ist eine rhetorische, keine philosophische Form. Ihr Ziel ist eine ‚Rehabilitierung der Sinnlichkeit‘ im Sinne der genealogischen Methode, die erklärt versucht, wie „Etwas aus seinem Gegensatz entstehn“ (JGB, KSA 5, 16) kann, wofür Nietzsche als Beispiel ausdrücklich den Kernpunkt der Kant’schen Ästhetik nennt: „interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen“ (MA, KSA 2, 23). Dieses Projekt einer Genealogie der Ästhetik wird am Ende von GM 8 vorgestellt: „Damit soll durchaus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, dass jene eigenthümliche Süssigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande eigen ist, gerade von der Ingredienz ‚Sinnlichkeit‘ ihre Herkunft nehmen könnte […].“ (GM, KSA 5, 356)
Nietzsche nimmt sich vor, sie in einer „Physiologie der Ästhetik“ (ebd.) zu erkunden, zu der sich im Nachlass erste Ausarbeitungen und Skizzen erhalten haben.[11] Mit dem Projekt einer Ästhetik „am Leitfaden des Leibes“ (NL 36[35], KSA 11, 565) ist Nietzsche einer Genealogie auf der Spur, die für die moderne Triebpsychologie und die ästhetische Theorie der Moderne entscheidend sein wird.[12] Es ist eine Genealogie, die von Kant weg- und zu Schiller hinführt.
Ich entfalte sie in den folgenden Schritten: Zunächst (2) beschreibe ich zwei Modelle der modernen Ästhetik, die sich in ihrem Verhältnis zur Sinnlichkeit unterscheiden lassen: Das eine (Kant) zielt auf Distanzierung und Sublimierung, das andere (Nietzsche) auf Entfesselung und Intensivierung. Schiller nimmt mit seinem Appell zur „vollständigen anthropologischen Schätzung“ eine ausgleichende Mittelstellung ein.[13] Mit seinem Projekt einer „Physiologie“ der Kunst (3) schließt Nietzsche – trotz aller Schiller-Polemik – an die anthropologische Ästhetik des 18. Jahrhunderts an, die Schiller selbst gegen Kant stark macht. Weiterhin ist daran zu erinnern (4), dass sich seit dem 18. Jahrhundert unterschiedliche Stile der ästhetischen Reflexion ausbilden, die auf unterschiedliche Medien, Formate, Gattungen und Öffentlichkeiten bezogen sind. Einer akademisch institutionalisierten Philosophie der Kunst steht die empirisch ausgerichtete Poetik und Literaturkritik gegenüber. Einer Ästhetik der Professoren steht eine Ästhetik der Literaten und Kritiker gegenüber, der Schiller und Nietzsche angehören. Bezeichnenderweise wählt Schiller denn auch den Brief zum Medium seiner Kant-Kritik (5). Die Kallias-Briefe (1792/93) diskutieren Kernpunkte von Schillers Kant-Kritik. Neben dem Fehlen eines objektiven Schönheitskriteriums wird die praktische Unfruchtbarkeit der Ästhetik und ihr spekulativer Zug moniert. Der späte Schiller stellt daher (6) der ‚Kunstmetaphysik‘ die Notwendigkeit einer ‚anderen Ästhetik‘ gegenüber, die sich in der konkreten Arbeit am Stoff ausbilden kann. Das Resümee hebt noch einmal die drei großen Verbindungslinien in aestheticis hervor: Denk- und Darstellungsstil, anthropologische Grundlegung und ästhetischen Eudämonismus.
2 Lust ohne Lust – Ästhetik der Nähe/Ästhetik der Distanz
So wird die Geschichte der modernen Ästhetik von zwei Narrativen bestimmt: dem der Entfesselung und dem der Disziplinierung, dem der Intensivierung und jenem der Sublimierung des Sinnlichen.[14] Alternativ ließe sich einer ‚Ästhetik der Nähe‘ eine ‚Ästhetik der Distanz‘ gegenüberstellen.[15] Die Psychoanalyse kennt beide Varianten. Freud sieht die Leistung der Kunst in Trost und Therapie: „Obenan unter diesen Phantasiebefriedigungen steht der Genuß an Werken der Kunst, der auch dem nicht selbst Schöpferischen durch die Vermittlung des Künstlers zugänglich gemacht wird. Wer für den Einfluß der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebenströstung nicht hoch genug einzuschätzen. Doch vermag die milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt, nicht mehr als eine flüchtige Entrückung aus den Nöten des Lebens herbeizuführen […].“[16]
Der Genuss der Schönheit in der Kunst habe „einen besonderen, milde berauschenden Empfindungscharakter“. Auch Freud sieht die Ästhetik als Disziplin kritisch, nicht ohne die Psychoanalyse in diese Kritik einzuschließen: „Die Wissenschaft der Ästhetik untersucht die Bedingungen, unter denen das Schöne empfunden wird; über Natur und Herkunft der Schönheit hat sie keine Aufklärung geben können; wie gebräuchlich, wird die Ergebnislosigkeit durch einen Aufwand an volltönenden, inhaltsarmen Worten verhüllt. Leider weiß auch die Psychoanalyse über die Schönheit am wenigsten zu sagen.“[17]
Jacques Lacan übernimmt von Freuds Trost- und Therapieästhetik vor allem den Aspekt der „Entrückung“, des Aufschubs der Begierde: „[D]ie Wirkung des Schönen ist, das Begehren aufzuschieben, es zu mindern, es zu entwaffnen, wie ich sagen könnte. Die Erscheinung des Schönen schüchtert das Begehren ein, sie untersagt es.“[18] Theodor W. Adorno dagegen schließt an Nietzsche an, wenn auch er Kant die asketisch-diätetische Entschärfung des Schönen vorhält. „Ihm wird“, heißt es in der Ästhetischen Theorie, „Ästhetik, paradox genug, zum kastrierten Hedonismus, zu Lust ohne Lust“.[19] Die neuere Forschung zum Themenkomplex Sinnlichkeit, Erotik und Ästhetik beruft sich – explizit oder implizit – auf Nietzsche: Bei Kant würden „die realen Sinnesorgane oder der triebmäßige ‚Appetit‘ und die Freuden des Naturwesens Mensch […] ausgeklammert“, wie Waltraud Naumann-Beyer feststellt.[20] Thomas Anz schreibt in seinem Buch über „Literatur und Lust“: „Das ‚interesselose Wohlgefallen‘ am Schönen […] gilt als interesselos vor allem auch in erotischer Hinsicht“.[21]
Doch werden solche Urteile Kant gerecht? In der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant: Das „Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse“, das heißt ohne „Beziehung auf das Begehrungsvermögen“.[22] Es ist bloß „kontemplativ“ gegenüber seinem Bezugsobjekt.[23] Jede transitive Bewegung auf ein Objekt hin, jedes Habenwollen ist suspendiert. Es geht nicht um Besitz, sondern „Betrachtung“ – desinteressiert, indifferent – „gleichgültig“.[24] Ein durchgehendes Bildfeld ist das des Juridischen. Über die rhetorische Kategorie des iudicium ist es im ästhetischen Kontext gut bekannt. Wer „in Sachen des Geschmacks den Richter zu spielen“ vorgebe, müsse „unparteilich“ sein, heißt es. Das ästhetische Urteil setzt ästhetische Distanz und ‚Neutralität‘ voraus. Diese Bedingung ist beim „Wohlgefallen am Angenehmen“ eben nicht erfüllt, bei all dem also, „was den Sinnen in der Empfindung gefällt“. Kant hat die horazische Kategorie des delectare aufgespalten in ein legitimes und ein illegitimes Gefallen. Indem ich einen Gegenstand als „angenehm“ beurteile, erkläre ich mich befangen und parteilich, bin in meinem Urteil „nicht […] frei“.[25] Kant spricht davon, dass das Angenehme „eine Begierde nach dergleichen Gegenständen rege macht“.[26] Der Betrachter gibt seine ruhige Distanz auf, spendet nicht nur „Beifall“, sondern bringt ihn in „Neigung“ zum Gegenstand, sodass am Ende, so Kant, das „Innige des Vergnügens“ stehe.[27] Gegenüber dem Schönheitsurteil, das „Anspruch auf subjektive Allgemeinheit“ erhebt, verbleibt das Angenehme ein „Privatgefühl“, das der Gemeinschaft nicht kommunizierbar ist: „ein jeder hat seinen eigenen Geschmack (der Sinne)“.[28] Das ‚Angenehme‘ vereinzelt, das ‚Schöne‘ verbindet. Der Einwand gegen diese These aus der Sicht der Anthropologie liegt auf der Hand. Sind nicht gerade die elementaren Bedürfnisse das, was den Menschen als Gattungswesen ausmacht, zum Beispiel der Genuss von „Kanariensekt“? Wie suspekt Kant jedoch die solche ‚transitive‘ Lust an Besitz und Konsum eines Gegenstands ist, wird in § 5 („Vergleichung der drei spezifisch verschiedenen Arten des Wohlgefallens“) deutlich, wenn dem Angenehmen ein rundheraus „pathologisch – bedingtes (durch Anreize, stimulos) […] Wohlgefallen“ zuschreibt,[29] das einen „barbarisch[en]“ Geschmack bezeuge.[30] Als Beispiel für das bloß Angenehme dient das Essen: „Hunger ist der beste Koch, und Leuten von gesundem Appetit schmeckt alles“.[31] Kants Ästhetik verfolgt hier, wie seine anekdotischen Vergleiche zeigen, weniger asketische als diätetische Ideale.
3 Physiologische Ästhetik – Nietzsche auf den Spuren Schillers?
Die Kritik an diesem diätetischen Zug der Kantischen Ästhetik beginnt nicht erst bei Nietzsche; sie geht schon auf das 18. Jahrhundert zurück – auf Schiller. Meine These lautet, dass Schiller zentrale Elemente von Nietzsches Kritik an Kant vorweggenommen, geradezu vorformuliert hat. Den gemeinsamen Boden der Kant-Kritik bildet eine anthropologische beziehungsweise physiologische Grundierung der Ästhetik, welche die unteren Seelenkräfte in das ästhetische Erleben einbezieht und damit Kants Tendenz zur Pathologisierung der auf Genuss und Erfüllung zielenden ‚innigen‘ Triebe widerspricht. Mit Nietzsche teilt Schiller jene realistische Psychologie, welche die Triebe als Treibsatz des Denkens erkennt. Die Frage nach der Genealogie des Schönen aus der Sinnlichkeit ist auch die „Kernfrage der Schiller’schen Ästhetik vor der Ästhetik, vor Kant, vor der Klassik.“[32] Was beide unterscheidet, ist die Dosierung des Sinnlichen: Von einer „Sexualisierung der Ästhetik“[33] und einer Ästhetik des „fröhlichen Unterleib[s]“ (KSA 6, 303) kann bei Schiller keine Rede sein. Immerhin hat auch er den dunklen Grund des ästhetischen Begehrens immer wieder analysiert, zum Beispiel im Geisterseher oder in den Ästhetischen Briefen.[34] Gerade der Psychologe Schiller, der als „Menschenkenner“ die geheimen Triebfedern und Beweggründe seiner Protagonisten, ihren Betrug und Selbstbetrug entlarvt, ist ein geistiger Vorfahre Nietzsches. Dessen Schiller-Kritik nach 1876 verschleiert und verkennt diese Genealogie. Nietzsche nennt Schiller nun den „Moral-Trompeter von Säckingen“ (KSA 6, 111) und wirft ihm „Vaporismus des Ideals“ (NL 16[48], KSA 13, 502) oder „falschen ‚Classizismus‘“ (NL 9[7], KSA 9, 410) vor. Der einst verehrte Dichter wird zu einem Fall für die Genealogie der Moral.
Dass diese polemischen Urteile des späten Nietzsches nicht der tatsächlichen Rezeption Schillers gerecht werden, hat die Nietzsche-Forschung in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitet.[35] Matthias Politycki umschreibt Nietzsches Verhältnis zu Schiller treffend als „Distanz der Nähe“.[36] Es ist von genuiner Ambivalenz geprägt: „Sein Verhältnis zu Schiller dagegen ist von ursprünglicher Leidenschaft diktiert, Meinungen über ihn scheinen von einem Extrem zum anderen zu schwanken (während sie sich tatsächlich ‚nur‘ entwickeln, s. u.), zeugen jedenfalls von einer persönlichen Betroffenheit.“[37] Im psychologischen Sinne kann man hier mit Herbert Cysarz von Ambivalenz sprechen: Sie ist „Zeugnis einer Verwandtschaft der zwei säkularen Giganten, wie sie nur in extremer Spannung erfahren und nur in hyperbolischer Schwankung gespiegelt werden kann.“[38] Auf der anderen Seite hat die Schiller-Forschung ausgehend von Wolfgang Riedels Dissertation gezeigt, wie sehr Schillers ‚Pathographie und Pathopoetik‘ den Weg für Nietzsches Physiologie der Kunst bereitet hat.[39]
Die Genealogie der Moral zeigt, wie selbstverständlich Nietzsche Schiller’sche Positionen aufnimmt: Das beginnt schon bei der Wendung „asketische Ideale“. Der Ausdruck wurde ja keineswegs von Nietzsche selbst geprägt; die Nietzsche-Forschung hat auf Hans Lassen Martensens Werk Die Christliche Ethik hingewiesen, das sich Nietzsche am 27.03.1880 von seiner Mutter hatte schicken lassen.[40] Auf der Hand liegt jedoch, dass Nietzsche vor allem an Schillers Kontroverse mit Kants Moralphilosophie in Über Anmut und Würde anschließt.[41] Das Motiv des „Asketismus“ wird hier von Schiller in die Kant-Polemik eingeführt. Dort heißt es: „In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt, und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Ascetik die moralische Vollkommenheit zu suchen.“[42]
In einem Brief an Goethe bietet Schiller eine entlarvende psychopathologische Analyse des Moralisten Kant, die in Sache und Ton bereits Nietzsche vorwegnimmt – auch in ihrem denunziatorischen Ton: „Daß dieser heitre und jovialische Geist seine Flügel nicht ganz von dem Lebensschmutz hat losmachen können, ja selbst gewiße düstre Eindrücke der Jugend pp nicht ganz verwunden hat ist zu verwundern und zu beklagen. Es ist immer noch etwas in ihm, was einen, wie bei Luthern, an einen Mönch erinnert, der sich zwar sein Kloster geöfnet hat, aber die Spuren deßelben nicht ganz vertilgen konnte.“[43]
Schiller zeichnet Kant an dieser Stelle als ein Opfer jener religiösen Melancholie, die er im Geisterseher am Protagonisten, dem Prinzen von **, seziert hatte. Eine Fortsetzung findet diese Analyse religiöser Schwärmerei in der Mortimer-Figur in Maria Stuart (I, 6). In seiner puritanischen Erziehung spiegelt sich historisch sowohl der Pietismus als auch die Kantische Pflichtenethik: „In strengen Pflichten war ich aufgewachsen“ (v. 410), heißt es zunächst, dann folgt die Rede von „der Puritaner dumpfe[n] Predigtstuben“ (v. 414). Die Flucht ins „gepriesene Italien“ (v. 416 f.) ist eine Flucht in den ästhetischen Katholizismus.[44] Hinter „der Künste Macht“ (v. 430) verbirgt sich gut sichtbar das sinnlich-erotische Begehren, das Glücksversprechen der Schönheit, das sich dann gegenüber Maria in III, 6 als unverhohlener Anspruch manifestieren wird.[45]
Nietzsche konnte an solche Ambivalenzen des Schönen anschließen, die Schiller weniger in seinen ästhetischen Schriften als in seinen literarischen Texten analysierte. So wird Schiller zwar in der Genealogie der Moral weder als Gegner noch als Verbündeter aufgerufen; aber wenn Nietzsche mehrfach auf den „ästhetischen Zustand“ Bezug nimmt (KSA 5, 348, 356), dann zeigt dies, wie sehr Schiller überhaupt den Rahmen geschaffen hatte, das „ästhetische Problem“ als ein anthropologisches, als eine „Physiologie der Kunst“, zu charakterisieren. Genealogisch betrachtet war seine Ästhetik mit ihrer Apologie der Sinnlichkeit und ihrer Kant-Polemik der Rahmen all jener Kant-Kritiken, die von Schopenhauer über Heinrich Heine bis Nietzsche folgen sollten. Die moderne Ästhetik, wo sie dezidiert als Analyse der erotischen Substrukturen des Ästhetischen auftrat, konnte sich dieser Schiller-Linie kaum entziehen. Schillers Leitbegriffe wie „ästhetischer Zustand“ waren in der ästhetischen Debatte des 19. Jahrhunderts längst zur gängigen Münze geworden; auf einen genauen Hinweis auf Autor und Belegstelle konnte man verzichten.
Wenn Schiller die „Unfruchtbarkeit“ der Kantischen Ästhetik, ihren Abstand zu Empirie und Praxis, moniert, so prägt er eine Einschätzung, die über Schopenhauer und Heine dann ins 19. Jahrhundert und bis zu Nietzsche transportiert wird. Bei Schiller mündet die Kritik der Critik in eine Artistenästhetik, die gegen die „Metaphysic der Dichtkunst“ eine ‚praktische‘ Theorie der Dichtung fordert, die sich an den Bedürfnissen des Stoffes, nicht an Ideen und Idealen, ausrichtet. Was beide – Nietzsche und Schiller – verbindet ist das Ungenügen an einer Ästhetik, die zwischen Asketik und Abstraktum das Glücksversprechen des Schönen vergisst. In dieser eudämonistischen Vision einer Kunst, die zur innerweltlichen Erfüllungsverheißung und zum Garanten eines ‚intensiven Lebens‘ wird, dürfte ‚eine‘ Genealogie der Moderne angelegt sein, die von Schiller über Nietzsche bis in die evolutionäre Ästhetik unserer Tage führt.[46] Der späte Schiller der klassischen Dramen seit dem Wallenstein geht dann noch einen Schritt weiter: Der Essay Über das Erhabene spricht zunächst von „[z]wey Genien […], die uns die Natur zu Begleitern durchs Leben gab“,[47] das heißt dem Schönen und dem Erhabenen, legt den Akzent jedoch klar auf das Erhabene und prägt die verblüffende Metapher von der Impfung durch Kunst: „Das künstliche Unglück des Pathetischen hingegen findet uns in voller Rüstung, und weil es bloß eingebildet ist, so gewinnt das selbstständige Prinzipium in unserm Gemüthe Raum, seine absolute Independenz zu behaupten. […] Das Pathetische, kann man daher sagen, ist eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt, und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird.“[48]
Kunst ist beim späten Schiller weder Glücksversprechen noch Religionsersatz noch ‚Artistenmetaphysik‘. Sie immunisiert als Vakzin gegen die Schläge einer kontingenten und chaotischen Geschichte, in der kein Ziel und Sinn mehr zu erkennen sei: „Die Welt, als historischer Gegenstand, ist im Grunde nichts anders als der Konflikt der Naturkräfte unter einander selbst und mit der Freyheit des Menschen, und den Erfolg dieses Kampfs berichtet uns die Geschichte.“[49]
4 Andere Ästhetik – Philosophie der Kunst vs. Kritik
Nietzsche hat sich mit Schillers Theorie des Erhabenen ebenso kritisch – mitunter spöttisch – auseinandergesetzt wie mit dem Konzept der „schönen Seele“ aus Über Anmut und Würde.[50] Schon Zarathustra wertet ironisch das falsche Erhabene zugunsten des wahren Schönen ab: „Wenn er seiner Erhabenheit müde würde, dieser Erhabene: dann erst würde seine Schönheit anheben, – und dann erst will ich ihn […] schmackhaft finden.“ (Za, KSA 4, 151) Auch in der Auseinandersetzung mit dem Erhabenen ist jedoch die Gegnerschaft unscharf. Denn auch wo Schiller genannt wird, ist eher die idealistische Ästhetik als ganze oder die der Gründerzeit (zum Beispiel Friedrich Theodor Vischer) gemeint. So kann man sagen, dass Schiller zur kritischen Reflexionsfigur für Nietzsches Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Ästhetik und seine radikale Aufwertung des Sinnlichen gegenüber dem Sittlichen wird.[51] Vollends nach dem Paradigmenwechsel von 1876 (zwischen Unzeitgemäße Betrachtungen und Menschliches, Allzumenschliches), der „das emphatische Ja-Sagen der frühen durch ein vielfaches und kritisches Nein der mittleren Werke ablöst“,[52] gerät Schiller als Theoretiker ins Visier des Umwerters Nietzsche. In Menschliches, Allzumenschliches werden Schillers ästhetische Abhandlungen unter dem Stichwort „Affectation der Wissenschaftlichkeit bei Künstlern“ abgehandelt. Seine „Prosa-Aufsätze“ seien „in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral nicht angreifen dürfe, – und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Muth haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken.“ (MA, KSA 2, 605)
Nietzsches Verdikt über Schillers ästhetische Schriften ist nicht originell. Es schließt an zeitgenössische Reaktionen vor allem auf die Ästhetischen Briefe an, die eine gewaltige – eben auch kritische – Resonanz hervorriefen. Immer wieder ging es dabei um den Stil der Darstellung, vor allem in der Auseinandersetzung zwischen Schiller und Johann Gottlieb Fichte um den philosophischen Stil.[53] Fichtes Vorwurf, Schiller wolle die Einbildungskraft zum Denken zu zwingen,[54] das heißt die Sphären von Dichtung und Philosophie unzulässig vermischen, hallt auch bei Nietzsche nach. Indem er Schiller als schwachen Denker und poetisierenden Dilettanten in aestheticis diskreditiert, wertet er zugleich die eigene Außenseiterposition auf. Nietzsches Verdikt hat jedoch Folgen für die Schiller-Rezeption: Vor allem Nietzsche ist zu verdanken, dass Schiller in der akademischen Ästhetik nach wie vor als „unterschätzter Theoretiker“ gelten kann.[55] Wer eine aktuelle Einführung in die Ästhetik wie Georg W. Bertrams Kunst. Eine philosophische Einführung konsultiert, findet Schiller lediglich zweimal kurz erwähnt. Es dominiert die philosophische akademische Ästhetik mit Systemanspruch im Bogen von Kant über Hegel bis Heidegger und Adorno.[56] Praktisch identisch (nur um Valéry ergänzt) ist der Kanon, auf den sich Martin Seel in seiner Ästhetik des Erscheinens beruft.[57] Ihm geht es um die „Stellung der Ästhetik im Konzert der Philosophie“.[58] Eine Beteiligung der ‚schönen Künste‘ selbst an der Theoriebildung wird nicht reflektiert. Der Theoretiker des „ästhetischen Scheins“ beziehungsweise „Staats“ wird auch von Seel nur einmal am Rande erwähnt. Dass sich zahlreiche der kanonischen Autoren – von Hegel über Nietzsche bis Heidegger und Adorno – intensiv mit Schiller auseinandergesetzt haben, einfach weil seine Schriften und Konzepte längst zum Gemeingut des ästhetischen Diskurses geworden waren, verschwindet in dieser Genealogie.
Diese einseitige Rezeption verweist auf das, was man den ‚Doppelweg der modernen Ästhetik‘ nennen könnte.[59] Beide Wege sind nach Form, Akteuren und ‚Schauplätzen‘ getrennt: Auf der einen Seite steht die akademische Ästhetik als systematisch-deduktive Theorie der Kunst. Ihr epistemischer Kontext ist die akademische Philosophie, bei Alexander Gottlieb Baumgarten die Leibniz-Wolff’sche Schulphilosophie, bei Kant das Bezugssystem des eigenen kritischen ‚Geschäfts‘. Auch wenn Baumgartens Aesthetica (durch Georg Friedrich Meier) und Kants Kritik der Urteilskraft eine breitere Rezeption erfahren, bleiben sie doch in der Art der Darstellung und Argumentation spezifisch akademisch und ‚scholastisch‘. Diesem esoterischen Pfad, das heißt der Ästhetik der Philosophen, steht nun ein exoterischer gegenüber, eine Ästhetik der Literaten, Kritiker und Intellektuellen. Sie lässt sich schwer trennen von der ‚anderen Ästhetik‘ der impliziten Reflexion in den literarischen Texten. So lässt sich Schillers unvollendeter Roman Geisterseher lesen als eine erste Auseinandersetzung mit der Doppeldeutigkeit des Scheins (zwischen legitimem ästhetischem Schein und Betrug),[60] die Schiller wenig später in den Ästhetischen Briefen entwickeln wird.[61] Der ästhetische Doppelweg um 1800 – Ästhetik der Philosophen gegenüber Ästhetik der Literaten, Kritiker, Intellektuellen – ist eng mit der Frage der Popularität beziehungsweise der Popularphilosophie verbunden.[62] Schillers Zurückweisung der „schulgerechten“ beziehungsweise „technischen Form“ der ästhetischen Argumentation steht in dieser Tradition einer aesthetica popularis. Ein wichtiger Meilenstein dabei ist Lessing, der in seinem Laokoon in polemischer Stoßrichtung Baumgarten und die „philosophischen Bücher“ gegen eine empirisch und induktiv aus den „Quellen“ arbeitende Philologie und Kritik stellt.[63]
So bietet die Ästhetik um 1800 ein nach Akteuren, Denkstilen, Reichweiten und Medien differenziertes, weitläufiges Feld: An der Kunstreflexion partizipieren Autoren und Kritiker, Philologen und Philosophen. Foren der Auseinandersetzung sind Zeitschriften, selbständige Abhandlungen aber auch akademische Thesendrucke.[64] Die Koexistenz der Ansätze im ästhetischen Feld führt zu Abstoßungen und Absetzbewegungen. Lessings Kritik an Baumgartens fehlender Empirie wird von Schopenhauer in seiner Kritik der Kantischen Philosophie polemisch zugespitzt: „[G]anz und gar [kennt Kant das Schöne] nur von Hörensagen, nicht unmittelbar […]. Fast ebenso könnte ein höchst verständiger Blinder aus genauen Aussagen, die er über die Farben hörte, eine Theorie derselben kombinieren. Und wirklich dürfen wir Kants Philosopheme über das Schöne beinahe nur in solchem Verhältnis betrachten. Dann werden wir finden, daß seine Theorie sehr sinnreich ist, ja daß hin und wieder treffende und wahre allgemeine Bemerkungen gemacht sind: aber seine eigentliche Auflösung des Problems ist […] sehr unstatthaft, bleibt […] tief unter der Würde des Gegenstandes […].“[65]
5 Ästhetik vs. Poetik – Schillers Kant-Kritik in den Kallias-Briefen
Auch im Kallias-Briefwechsel, den Schiller 1792/93 mit Christian Gottfried Körner führt, ist Kants fehlende Empirie und seine „Unfruchtbarkeit“ für die Kunstproduktion ein Leitmotiv.[66] Körner hatte Schiller wiederholt auf Kant aufmerksam gemacht, und dieser ahnt, dass ihm Kant noch bevorstehen würde: „Daß ich Kanten noch lesen und vielleicht studieren werde scheint mir ziemlich ausgemacht“, schreibt Schiller am 29. August 1787 an Körner.[67] Im Zuge seiner historischen Schriften rezipiert er zunächst vor allem Kants kleinere Essays in der Berlinischen Monatsschrift, unter anderem Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786).[68] Einen Wendepunkt – Körner spricht von einer „philosophischen Bekehrung“[69] – bezeichnet der Brief vom 3. März 1791 an Körner, denn Schiller informiert den Freund, dass er „Nichts schlechteres als – Kant“ [Hervorhebung im Original] lese: „Seine Critik der Urtheilskraft, die ich mir selbst angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren neuen lichtvollen geistreichen Inhalt“.[70] Körner gratuliert in seinem Antwortbrief zur ‚Konversion‘ und weist bereits auf das zentrale Problem der Kritik der Urteilskraft hin: „Kant spricht bloß von der Wirkung der Schönheit auf das Subjekt. Die Verschiedenheit schöner und häßlicher Objekte, die in den Objekten selbst liegt, und auf welcher diese Classifikation beruht, untersucht er nicht. Daß diese Untersuchung fruchtlos seyn würde behauptet er ohne Beweis, und es fragt sich, ob dieser Stein der Weisen nicht noch zu finden wäre.“[71]
Es ist zunächst Körner, der sich anschickt, ein philosophisches System auszuarbeiten, eine eigene „Philosophie der Kunst“.[72] Schiller zögert, nimmt sich vor, „etwas poetisches vor die Hand zu nehmen, besonders jückt mir die Feder nach dem Wallenstein“ und fügt hinzu:[73] „Eigentlich ist es doch nur die Kunst selbst, wo ich meine Kräfte fühle; in der Theorie muss ich mich immer mit Principien plagen. Da bin ich bloß ein Dillettant. Aber um die Ausübung selbst willen philosophiere ich gern über die Theorie; die Critik muß mir jetzt selbst den Schaden ersetzen, den sie mir zugefügt hat.“[74]
Körner pflichtet bei: „Spekulation über Gegenstände der Aesthetik ist an sich interessant, aber ihre Fruchtbarkeit ist vielleicht größer für den Psychologen, als für den praktischen Künstler“.[75] Durch Körners Reflexionen über den „Despotismus der Kunstgedanken“ lernt Schiller mit Kant zugleich auch die Kant-Skepsis kennen.[76] Im Zuge der Ausarbeitung seines Ästhetik-Kollegs versenkt sich Schiller in die Kant-Lektüre; um „etwas Lesbares für die Thalia“ zu produzieren, konzipiert er – wie er Körner am 21. Dezember 1792 mitteilt – einen philosophischen Dialog, in dem er seine Lösung der Kantischen Paradoxa vorführen möchte: „Ueber die Natur des Schönen ist mir viel Licht aufgegangen, so daß ich Dich für meine Theorie zu erobern glaube. Den objectiven Begriff des Schönen, der sich eo ipso auch zu einem objectiven Grundsatz des Geschmacks qualificirt, und an welchem Kant verzweifelt, glaube ich gefunden zu haben. Ich werde meine Gedanken darüber ordnen, und in einem Gespräch: Kallias, oder über die Schönheit, auf die kommenden Ostern herausgeben. Für diesen Stoff ist eine solche Form überaus passend, und das Kunstmäßige derselben erhöht mein Interesse an der Behandlung. Da die meisten Meinungen der Aesthetiker vom Schönen darin zur Sprache kommen werden, und ich meine Sätze soviel wie möglich an einzelnen Fällen anschaulich machen will, so wird ein ordentliches Buch von der Größe des Geistersehers daraus werden.“[77]
Diese Zeilen markieren den Beginn der Kallias-Briefe im engeren Sinne. Sie sind doppelt aufschlussreich: hinsichtlich ihrer ästhetisch-philosophischen Programmatik (Stichwort: Kritik der Kritik), aber auch im Hinblick auf Form und Textsorte. Auch mit der Dialogform nimmt Schiller einen Plan auf, den zuerst Körner entwickelt hatte. Am 17. August 1792 erwähnt dieser ein „philosophisches Gespräch, worin ich einige antikantische Ideen ins Licht setzen wollte“.[78] Körner schreibt weiter: „Der philosophische Dialog muss wie ein Drama behandelt werden, Handlung, Knotenschürzung, Entwicklung, immer steigendes Interesse sind wesentliche Erfoderniße.“[79] Man sieht also, wie sehr Körner das Schiller’sche Projekt vorbereitet und geradezu vorgeprägt hat. Er war der Impuls- und Stichwortgeber der Kallias-Briefe, auch im Hinblick auf die „antikantische[n] Ideen“ und „Zweifel“, von denen derselbe Brief spricht. Die Relativierung der Kantischen Ästhetik hätte durch eine Konfrontation mit anderen Positionen der Aufklärungsästhetik erfolgen sollen. Der Dialog mit seiner Stimmenvielfalt eignet sich als Medium einer pluralen Ästhetik.[80] In demselben Brief, in dem Schiller seinem Freund den Beginn der Kant-Studien mitteilt (vom 1. Januar 1792), hatte er um Mitteilungen der Schriften von „Locke, Hume und Leibnitz“ gebeten.[81] Der Titel des projektierten Dialogs, Kallias, verweist auf eine Verengung des ästhetischen Horizonts auf die Schönheitslehre (Kallistik), andererseits auf die Tradition des platonischen Dialogs, der mit Mendelssohns Phaidon eine viel beachtete Fortsetzung gefunden hatte. Platons Dialog Protagoras spielt im Hause des reichen Atheners Kallias, der als Gastgeber des Sophisten Protagoras Teil der Gesprächsrunde um Sokrates ist. Wie die Platonische Figur Kallias, so sollte auch der gleichnamige Dialog jener ästhetischen Pluralität eine Bühne geben, in der Kant nur noch eine Stimme unter anderen war. Es kam anders: der dramatische Dialog der bedeutendsten ästhetischen Systeme fand nicht statt, sondern nur der Dialog mit Körner, der jedoch als solcher kaum von der Forschung wahrgenommen wurde.[82]
Damit zu den Kallias-Briefen und Schillers Gang über die „Kantische Gränzlinie“,[83] den ich hier nur skizzieren kann. Schiller vermisst an Kants Ästhetik objektive Prinzipien des Schönen, auf der Ebene der Produktion wie der Rezeption. Die Frage „Was ist das Schöne“ ist für Schiller keine rein ästhetische oder erkenntniskritische Frage. Mit dem Schönen verbindet sich für ihn nach der Materialismuskrise der 1780er Jahre ein Heils- und Glücksversprechen, eben jene „promesse de bonheur“, die Nietzsche in der Genealogie der Moral als Quintessenz der Kunst herausarbeitet. Die Schönheit ist „als Bürgerin zwoer Welten“ eine erlösende Mittlerin und Mittelkraft,[84] die dem Menschen schon hic et nunc den Vorschein des Überirdischen mitteilt. Im „Symbol des Schönen und des Großen“ (Die Künstler, v. 44) kündigt sich das Göttliche an.
Diese metaphysische Perspektive, dieses Glücksversprechen des Schönen, bleibt auch in den Kallias-Briefen, wenngleich in abgeschatteter Form, gegenwärtig. Schiller geht von folgender Überlegung aus: Ein Gegenstand ist dann schön, wenn er der praktischen Vernunft die Ähnlichkeit mit einem freien, autonomen Willensakt suggeriert. Die praktische Vernunft ‚leiht‘ dem Gegenstand eine Eigenschaft, die nicht Dingen, sondern nur Personen zukommt. Es beruht auf der Vorstellung, „daß ein Gegenstand frey erscheine nicht wirklich ist“.[85] Diese Übertragung lässt sich auf vier Kontexte beziehen: (1) Rhetorisch auf die Figur der Personifikation (Prosopopoiia), (2) psychologisch lässt sich von Projektion sprechen. Alice Staškova verweist (3) auf die logische Kategorie der „Subreption“, das heißt den Fehlschluss, bei dem „[e]ine Erkenntnis, die durch Schlussfolgerung gewonnen wurde, für Erfahrung gehalten oder ausgegeben wird.“[86] Schließlich (4) suggeriert Schillers emphatischer Wortlaut wiederholt, als ereigne sich im schönen Gegenstand die Epiphanie des Schönen. Erscheinung schwankt zwischen den semantischen Polen von Phänomen, Phantasma und Epiphanie.[87] Man kann also sagen, als Dichter wie als desillusionierter Metaphysiker stößt sich Schiller hart an Kants subjektiver Fassung des Geschmacksurteils.
Hinzu kommt, dass Schiller immer wieder von der Poiesis her nach der Fruchtbarkeit der Kantischen Überlegungen fragt. Auch hier nimmt er Nietzsches Kritik an der „Kantische[n] Fassung des ästhetischen Problems“ (GM, KSA 5, 346) vorweg. Auch Schiller unterstellt, wie Nietzsche später schreibt, Kant habe das ästhetische Geschehen „allein vom ‚Zuschauer‘“ (ebd.) aus gedacht und dabei „unvermerkt den ‚Zuschauer‘ selber in den Begriff ‚schön‘ hinein bekommen“ (ebd.). Kant versteht bekanntlich das Schönheitsurteil als notwendig subjektiv, aber mit einem Anspruch auf Objektivität und Allgemeingültigkeit, das heißt intersubjektiver Geltung. In § 17 heißt es deutlich: „Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben. Denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch; d. i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein Bestimmungsgrund.“[88]
Eine „Brücke zu der poetischen production“,[89] lässt sich von der Kritik der Urteilskraft nur schwer herstellen. Poetik und Ästhetik werden getrennt. Kant spricht der Literatur in seiner Systematik der schönen Künste der Dichtung zwar den „obersten Rang“ zu,[90] Fragen der poetischen Produktion werden jedoch nur in den Abschnitten über das Genie (KdU § 44-§ 49) angeschnitten. Genie ist „ein Talent […], dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen […].“[91] Die Analogie zum Schönheitsurteil ist deutlich: Wie der Betrachter ohne Begriffe ‚urteilt‘, so ‚erschafft‘ der Künstler ohne Blick auf Regeln und Begriffe. Daher gelte, dass „kein Homer aber oder Wieland anzeigen kann, wie sich seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopfe hervor und zusammen finden, darum weil er es selbst nicht weiß, und es also auch keinen andern lehren kann.“[92]
Aber das Genie ist nicht schlechthin regellos; „[d]er Geschmack ist, so wie die Urteilskraft überhaupt, die Disziplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen“.[93] Das subjektive Allgemeine des Schönheitsurteils beschränkt also die reine Subjektivität der Genie-Produktion.
Die Figur des Genies bildet auch für Schiller den Fluchtpunkt der Kallias-Briefe. Dem letzten Kallias-Brief legt Schiller eine Beilage bei, die als Synthese und Abschluss gedacht war. Offensichtlich dachte Schiller daran, dieses zusammenhängende Stück in einem Journal (Thalia) zu publizieren (vgl. die Ankündigung an Körner!). Daher trägt es den prägnanten Titel Über das Schöne in der Kunst.[94] Auch die dezidierte Ankündigung: „Die Fortsetzung künftigen Posttag“ erinnert an die Verhältnisse des Journals.[95] Dieser Essay ist der erste systematische Versuch Schillers, über die „Kantische Gränzlinie“ auszugreifen. Im Rückgriff auf Lessings semiotische Ästhetik im Laokoon und unter ästhetischer Umwendung des Begriffs ‚Medium‘ fragt Schiller hier nicht mehr nur nach der Natur des Schönen, sondern nach den Gelingensbedingungen seiner Darstellung: „Frey also wäre eine Darstellung, wenn die Natur des Mediums durch die Natur des Nachgeahmten völlig vertilgt erscheint […].“[96] Schiller nennt dies „Reine Objektivität der Darstellung“; sie verwirklicht sich im „guten Stil[]“.[97] In der künstlerischen Darstellung ringen drei ‚Naturen‘ miteinander: die des darzustellenden Gegenstandes, die des Autors und die seines Mediums. „Gemodelt durch den Genius der Sprache“[98] verliert das darzustellende Objekt „viel von seiner Lebendigkeit (sinnlichen Kraft)“.[99] Es ist Sache des Dichtergenies, diese ästhetische Energie durch Überwindung der Eigenlogik der Sprache zurückzugewinnen: „Soll also eine poetische Darstellung frey sein, so muß der Dichter ‚die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die Größe seiner Kunst überwinden und den Stoff (Worte und ihre Flexions- und constructionsGesetze) durch die Form (nehmlich die Anwendung derselben) besiegen‘.“[100]
Der Triumph des Genies über die Grammatik bildet den markanten Schlusspunkt der Kallias-Briefe. Die Beilage erweist sich als Versuch Schillers, im Rückgriff auf die semiotische Ästhetik der Aufklärung (das heißt wohl: Lessings Laokoon) „über die Kantische Gränzlinie“ hinauszugehen, und die Kritik der Urteilskraft durch objektive Prinzipien der Kunstproduktion zu supplementieren. Die Kritik der Ästhetik mündet in den Versuch einer Poetik ein.
6 Metaphysic der Kunst und ‚praktische‘ Poetik
Schillers ‚ästhetische Phase‘ erstreckt sich vom Dezember 1792 bis zum Erscheinen des letzten Abschnitts von Über naive und sentimentalische Dichtung im ersten Stück der Horen 1796. Das Bündnis mit Goethe bringt eine Wendung: Goethes „Vorstellungsart [sei] zu sinnlich und betastet mir zu viel“, hatte Schiller im November 1790 an Körner geschrieben.[101] Jetzt erscheint der Weg in die Empirie als ein Ausweg aus der Praxisferne der Ästhetik. In Goethe findet Schiller den angemessenen Adressaten für seine Kritik. Am 17. Dezember 1795 schreibt Schiller: „Ich habe mich lange nicht so prosaisch gefühlt, als in diesen Tagen und es ist hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe. Das Herz schmachtet nach einem betastlichen Objekt“.[102] An Wilhelm von Humboldt kritisiert Schiller, dieser sei in seiner Abhandlung über Goethes Hermann und Dorothea – wie „unsre neuen Kunstmetaphysiker“[103] – einen „zu spekulativen Weg gegangen […] um ein individuelles Dichterwerk zu zergliedern.“[104] Zwischen dem „dogmatischen Teil“ der Schrift und dem „kritischen“ scheine ein „mittlerer Teil“ zu fehlen, ein „solcher nemlich, der jene allgemeine Grundsätze, die Metaphysic der Dichtkunst, auf besondere reduciert und die Anwendung des allgemeinsten auf das individuellste vermittelt.“[105] Selbstkritisch räumt er ein, dass er „in diesem Fehler [s]einen Einfluß zu erkennen glaube“.[106] Die Selbstkritik verweist einmal mehr auf die Grenzlinie zwischen philosophischer Ästhetik auf der einen und Literaturkritik und Poetik auf der anderen: „Wirklich hat uns beide unser gemeinschaftliches Streben nach Elementarbegrifen in aesthetischen Dingen dahin geführt, daß wir die Metaphyic der Kunst zu unmittelbar auf die Gegenstände anwenden, und sie als ein praktisches Werkzeug wozu sie doch nicht gut geschickt ist, handhaben. Mir ist dieß vis a vis von Bürger und Matthisson, besonders aber in den HorenAufsätzen öfters begegnet. Unsere solidesten Ideen haben dadurch an Mittheilbarkeit und Ausbreitung verloren.“[107]
Fortan wird Schiller nicht müde, gegen die ‚Metaphysic‘ der Kunst und ihre Vertreter zu Felde zu ziehen – vor allem im Briefwechsel. Anlässlich einer Rezension der Jungfrau von Orleans aus der Feder Johann August Apels (1771–1816) schreibt Schiller in einem Brief an Goethe:[108] „[M]an findet darinn [in der Rezension in der ALZ – J. R.] ganz frisch die Schellingische Kunstphilosophie auf das Werk angewendet, Aber es ist mir dabei sehr fühlbar geworden, daß von der Transcendentalen Philosophie zu dem wirklichen Factum noch eine Brücke fehlt, indem die Principien der Einen gegen das Wirkliche eines gegebenen Falles sich gar sonderbar ausnehmen und ihn entweder vernichten oder dadurch vernichtet werden. In der ganzen Recension ist von dem eigentlichen Werk nichts ausgesprochen, es war auch auf dem eingeschlagenen Weg nicht möglich, da von allgemeinen hohlen Formeln zu einem bedingten Fall kein Uebergang ist […]. Man sieht aber daraus, daß die Philosophie und die Kunst sich noch gar nicht ergriffen und wechselseitig durchdrungen haben, und vermißt mehr als jemals ein Organon, wodurch beide vermittelt werden können.“[109] An Christian Gottfried Schütz schreibt Schiller ähnlich, wieder im kritischen Rückbezug auf die eigenen ästhetischen Theorien: „Sie erweisen mir zu viel Ehre, theurer Freund, wenn Sie glauben, daß ich das Geschäft des Kritikers und Recensenten bey meinen Stücken selbst am besten übernehmen könne. Vor zehn Jahren hätte ich es ohne Bedenken gethan, weil ich damals noch einen größern Glauben an eine Kunsttheorie und Aesthetik hatte, als jetzt. Gegenwärtig erscheinen mir die beyden Operationen, des poetischen Hervorbringens und der theoretischen Analysis, wie Nord- und Südpol von einander geschieden, und ich müßte fürchten, ganz von der Production abzukommen, wenn ich mich auf die Theorie zu sehr einlassen wolte.“[110]
Einen Ausweg aus der unfruchtbaren Praxisferne der philosophischen Ästhetik und der ‚Kunstmetaphysik‘ bildet die klassische ars poetica,[111] die als „Organon“ mittlerer Abstraktionsebene und mit entschiedener Produktionsorientierung zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen vermittelt. So fügt es sich ins Bild, dass Schiller mit der Abwendung von der ‚Metaphysik‘ der Kunst ein neues Leitbild entdeckt – Aristoteles. Gemeinsam mit Goethe liest Schiller die Poetik im Frühjahr 1797. Im Juni 1797, mitten in der Arbeit am Wallenstein, schreibt er begeistert an Körner, die Lektüre der Poetik habe ihn „nicht nur nicht niedergeschlagen und eingeengt, sondern wahrhaft gestärkt und erleichtert“.[112] Statt eines „kalten, illiberalen und steifen Gesetzgeber[s]“ habe er „gerade das Gegentheil“ gefunden.[113] Schiller beschreibt Aristoteles als Antipoden zu Kant: „Auch ist in seinem Buch absolut nichts Speculatives, keine Spur von irgend einer Theorie, es ist alles empirisch, aber die große Anzahl der Fälle und die glückliche Wahl der Muster, die er vor Augen hat, giebt seinen empirischen Aussprüchen einen allgemeinen Gehalt und die völlige Qualität von Gesetzen.“[114]
An die Stelle einer ‚deduktiven‘ Ästhetik tritt eine ‚induktive‘ Poetik, die ihre Grundsätze aus den individuellen Anforderungen des Stoffes und aus „einer sehr reichen Erfahrung und Anschauung“ ableitet.[115] Technik und Handwerk, die Physik des Dichtens, treten an die Stelle der Metaphysik. Entscheidend ist „die innere Oekonomie“ des Stückes, die nicht nach abstrakten „hohlen[] Formeln“ beurteilt werden darf.[116] An Körner schreibt Schiller 1800: „Jeder Stoff will seine eigene Form, und die Kunst besteht darin, die ihm anpassende zu finden. Die Idee eines Trauerspiels muß immer beweglich und werdend sein, und nur virtualiter in hundert und tausend möglichen Formen sich darstellen.“[117] Was zunächst wie eine Variation auf die progressive Universalpoesie der Frühromantiker wirkt („immer beweglich und werdend“), erweist sich als Rückkehr zu schulphilosophischen, aristotelischen Denkformen wie der Lehre von der Entstehung (κίνησις = ‚Bewegung‘), den Wirkursachen (αἰτίαι) der ontologischen Spannung von Potenz (dynamis, virtus/potentia) und Akt (energeia, actualitas). Alice Staškova hat an Beispielen aus Über Anmut und Würde gezeigt, wie Schiller jene aristotelischen Grundbegriffe, die er an der Karlsschule an Gottfried Ploucquets Logik gelernt hatte, weiter im Gebrauch hält.[118] Eine solche Theorie, die selbst immer im Werden begriffen ist, bezeichnet Schiller als „praktische“. Sie sei „zwar absolut nothwendig und wesentlich bey der Production selbst: aber da ist sie praktisch, und mehr für den Poeten, als den Aesthetiker“.[119] Die ‚praktische Theorie‘ der Dichtkunst bietet eine ‚Physik‘ an Stelle einer ‚Metaphysik‘ der Kunst an. Diese ‚andere Ästhetik‘ Schillers ist gegenüber den ästhetischen Schriften in der Auseinandersetzung mit Kant kaum beachtet worden. Sie erfolgt im Zusammenhang mit der Rückkehr zur poetischen Produktion seit 1797 und im Zeichen des ‚Realisten‘ Goethe. Ihren Niederschlag findet sie im Briefwechsel, aber auch in den Vorarbeiten zu Dramenprojekten. Besonders aufschlussreich sind dabei die erhaltenen Notizen und Konvolute zu Demetrius, Warbeck, Die Maltheser oder Die Policey.[120] Hier findet Schiller immer wieder Begriffe beziehungsweise Metaphern mittlerer Reichweite, mit deren Hilfe sich die „innere Oekonomie“ des Stückes beschreiben lässt, wie zum Beispiel „prägnanter Moment“, „Präzipitation“ oder „punctum saliens“.[121] Es sind diese Konzepte mittlerer Abstraktion, die den „Übergang“ zwischen dem Allgemeinen der Regeln und dem Besonderen des Falles schaffen, wie Schiller in dem oben zitierten Brief fordert. Die Notizen zu den Fragmenten sind eben jenes „Organon“, von dem der Brief spricht.
7 Resümee – Kritik der „Kunstmetaphysik“
Ziel des Beitrages war es, die Voraussetzungen und Vorbilder für Nietzsches Kritik der Kant’schen Ästhetik in der Genealogie der Moral herauszustellen. Wie sich gezeigt hat, schließt Nietzsche in vieler Hinsicht – ob bewusst oder unbewusst – an Schillers Kritik an Kant und an der idealistischen Ästhetik an. Diese Auseinandersetzung erfolgt im Bewusstsein und vor dem Horizont einer pluralen Aufklärungsästhetik, die Schiller in einem platonischen – vielleicht auch aporetischen – Dialog mit dem Arbeitstitel „Kallias, oder über die Schönheit“ herausarbeiten wollte.[122] Ergebnis des nicht realisierten Vorhabens sind die Kallias-Briefe an Christian Gottfried Körner (zwischen 21. Dezember 1792 und 28. Februar 1793). Schiller moniert an Kant, dass er in der Kritik der Urteilskraft die Möglichkeit, ein objektives Prinzip des Schönen anzugeben, grundsätzlich verneint, da das ästhetische Urteil (Geschmacksurteil) rein subjektiv sei. Aussagen über die Beschaffenheit des Objekts, über begriffliche Kriterien des Schönen („Regeln“) und überhaupt über Fragen der Produktion – der Poiesis – bleiben ausgeschlossen. Diese Lücke zwischen Aisthesis und Poiesis, Ästhetik und Poetik, sucht Schiller durch eine ‚objektive Wende‘ und Neuausrichtung in den Kallias-Briefen zu korrigieren. Ein (scheinbar) objektives Kriterium wird durch die Formel „Freiheit in der Erscheinung“ gewonnen. Die Beilage Über das Schöne der Kunst (Brief vom 28. Februar 1792) bildet Schlusspunkt und Synthese des Kallias-Projekts. Schiller dehnt das Schönheitskriterium nun auch auf den sprachlichen Ausdruck aus; die Ästhetik wird unter Rückgriff auf Lessings semiotische Theorie der Künste zur Poetik hin überschritten. Die Allianz mit Goethe und die Wiederaufnahme der poetischen Arbeiten (Wallenstein) verstärkt die Skepsis gegenüber der philosophischen Ästhetik insgesamt, die als „Metaphysic der Kunst“ und „Kunstmetaphysik“ kritisch beiseitegelegt wird. Die Arbeit an den Dramenprojekten enthüllt – wie wir an den unvollendeten Entwürfen sehen – eine ‚Andere Ästhetik‘, die Schiller als ‚praktische‘ Theorie der „Kunstmetaphysik“ entgegenstellt. Ästhetik wird durch Poetik, Kant durch Aristoteles ersetzt. Schiller findet in den unvollendeten Entwürfen und Skizzen zu einer ‚praktischen‘ Theorie mittlerer Abstraktion, einer „Ästhetik par provision“,[123] die der Entelechie des einzelnen Werkes („in sich organisirtes Ganze“), nicht den vermeintlich „hohlen Formeln“ der ästhetischen Theorie verpflichtet ist.
Diese Kritik an der idealistischen Ästhetik ist eine der wichtigsten Verbindungslinien, die von Schiller zu Nietzsche führt. Drei Aspekte lassen sich besonders hervorheben. (1) Denk- und Darstellungsstil: Mit der Begründung der Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten bildet sich in der ästhetischen Debatte des 18. Jahrhunderts ein Antagonismus von philosophischer Ästhetik und Poetik beziehungsweise Literaturkritik aus. Es kommt zu einer Professionalisierung und Institutionalisierung der Ästhetik als philosophischer Teildisziplin. Dieser Ästhetik der Professoren steht die Ästhetik der Literaten und Künstler gegenüber. Schiller betont diesen Gegensatz scharf, indem er ihn auf unterschiedliche Denkstile und Erkenntnismodi – hier Spekulation und Metaphysik, dort Empirie und Praxis – zurückführt. Nietzsche folgt ihm hierin, verschleiert jedoch diese gemeinsame Herkunft, indem er nun seinerseits Schillers Theoriebildung als dilettantisch verwirft. Hinzu kommt (2) Anthropologische Grundlegung: Nietzsches Idee einer „Physiologie“ der Ästhetik, die Kunst „am Leitfaden des Leibes“ ausrichtet, hat ihre Wurzeln in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Nietzsche fordert wie schon Schiller, die sinnlichen Triebkräfte hinter dem ästhetischen Erlebnis nicht zu übersehen.[124] Kant dagegen schließt das „Angenehme“ aus der Sphäre des Ästhetischen kategorisch aus, weil es ein „Interesse“ und eine „Begierde nach dergleichen Gegenständen“ erkennen lasse.[125] Schiller plädiert demgegenüber für ‚Respekt‘ vor dem Sinnlichen, Nietzsche sogar – in der Kategorie des „Dionysischen“ – für seine ‚Entfesselung‘. (3) Ästhetischer Eudämonismus: Durch Schillers Ästhetik zieht sich die These, dass Kunst und Schönheit Medien der Versöhnung, der Heilung und des Glücks darstellen. Das Schöne steht neben dem Erhabenen – hierin schließt sich Schiller der ‚doppelten Ästhetik‘ des 18. Jahrhunderts an. In der Schrift Über das Erhabene spricht Schiller von „[z]wey Genien […], die uns die Natur zu Begleitern durchs Leben gab“.[126] Vor dem Tod bewährt sich allein das Erhabene; doch „gesellig und hold, verkürzt uns [das Gefühl des Schönen] durch sein munteres Spiel die mühevolle Reise.“ Mit Wolfgang Riedel: „Die Eudämonie des Schönen wird gesichert durch den Stoizismus des Erhabenen“.[127] In Über Anmut und Würde inszeniert Schiller die Schönheit als Heils- und Mittlerfigur, wenn er sie als „Bürgerin zwoer Welten“ bezeichnet. Die Kritik an Kants Pflichtethik nimmt Nietzsches Kritik an Kants asketischer Ästhetik vorweg. Doch dieser ästhetische Eudämonismus steigert sich bei Schiller nicht zur Kunstreligion, im Gegenteil: Mehr und mehr dominieren im Spätwerk die pessimistischen Töne.[128] Nicht nur die spekulative „Kunstmetaphysik“, auch die Kunstreligion ist nicht Schillers Sache.[129] Gerade weil Schiller den Schritt zur romantischen Kunstreligion verweigert, erscheint er einem post-autonomen Zeitalter näher und seelenverwandter als etwa der frühe Nietzsche der Geburt der Tragödie. Dass die Kunst die letzte „eigentlich[] metaphysische[] Thätigkeit dieses Lebens“ (GT, KSA 1, 24) darstellt, hätte Schiller nur im Hinblick auf die Tradition des Erhabenen als einer Darstellung des Übersinnlichen teilen können: „Strenge Moral ohne Religionströstungen“,[130] wie er im Kontext des Maltheser-Projektes schreibt. Zwischen ihm und Nietzsche steht die Frühromantik, die über Schopenhauer und Wagner auf Nietzsche wirkt. Seine „Artistenmetaphysik“, die Kunst als „die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens“ feiert (NL 17[3], KSA 13, 521), gehört einer anderen, postromantischen Epoche an, die in ihrer vitalistischen und autonomieästhetischen Emphase vielfach unkritisch hinter Schillers kritisch-resignativen Ansatz zurückfällt.
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