Home Juliane Jarke / Bianca Prietl / Simon Egbert / Yana Boeva / Hendrik Heuer / Maike Arnold (Eds.), Algorithmic Regimes: Methods, Interactions, and Politics. Amsterdam: Amsterdam University Press 2024, 345 S., gb., 153,79 €
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Juliane Jarke / Bianca Prietl / Simon Egbert / Yana Boeva / Hendrik Heuer / Maike Arnold (Eds.), Algorithmic Regimes: Methods, Interactions, and Politics. Amsterdam: Amsterdam University Press 2024, 345 S., gb., 153,79 €

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Published/Copyright: August 27, 2025
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Juliane Jarke / Bianca Prietl / Simon Egbert / Yana Boeva / Hendrik Heuer / Maike Arnold (Eds.), Algorithmic Regimes: Methods, Interactions, and Politics. Amsterdam: Amsterdam University Press 2024, 345 S., gb., 153,79 €


Algorithmen sind unter uns. Der Umfang ihres alltäglichen Einsatzes kann kaum unterschätzt werden, ob in Firmen, Institutionen oder Privathaushalten: Sie sammeln und bewerten Daten und sind an der Herstellung von Wissen beteiligt, über Personen wie gesellschaftliche Relationen und Prozesse. Jedoch unterscheiden sich die Formen, in denen das erfolgt, nicht nur darin, wie folgenschwer, sondern auch wie transparent sie für Nutzer:innen sind. Sind Algorithmen also übermächtig oder doch gestaltbar? Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband liefert dazu uneinheitlichere Antworten als der Titel „Algorithmic Regimes“ vermuten ließe.

Die Ausgangsthese des Bandes ist das transformative Potential von Algorithmen in der gesellschaftlichen Re-/Produktion, Zirkulation und Legitimierung von Wissen. Dieses fassen die Herausgeber:innen Juliane Jarke, Bianca Prietl, Simon Egbert, Yana Boeva und Hendrik Heuer mit dem Konzept „algorithmische Regime“: In solchen werden menschliche Subjekte dezentriert und sowohl neue Formen von Kontrolle, Regierbarkeit, Ungleichheit und Diskriminierung als auch der sozialen und politischen Partizipation ermöglicht (S. 7–8). Der gewählte kritische Ansatz ist typisch für Algorithmusforschung (s. etwa Quadflieg et al., 2022); im vorliegenden Fall wird er in der Einleitung aussichtsreich zwischen Michel Foucaults „Wahrheitsregimen“ und Karen Barads sozio-materiellen „Apparaten“ aufgespannt. Das fordert die folgenden Beiträge zu weiten analytischen Sprüngen auf, erstens zwischen kleinteiligen algorithmischen Prozessen und ihren ausgedehnten soziotechnischen Vernetzungen und Effekten, zweitens zwischen Phänomen und Theorie. Dazu setzen die Beiträge über „algorithmische Regime“ in Bereichen wie Wissenschaft, Architektur oder Social Media unterschiedlich an. Die erste Markierung wird dabei meist angestrebt und auch erreicht, die zweite nur teilweise. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass der Band, ebenso typisch für Algorithmusforschung, interdisziplinäre (sowie internationale bzw. vornehmlich europäische) Perspektiven vereint: Neben Science and Technology Studies (STS) und Human-Computer-Interaction (HCI) sind sozial-, medien- und computerwissenschaftliche sowie wissenschaftsphilosophische Ansätze vertreten. Insbesondere ihr Bezug zur theoretischen Rahmung des Bandes ist sehr unterschiedlich eng angelegt. So wird ein „algorithmisches Regime“ im erforschten Bereich teils einfach gesetzt, ohne dessen Konstitution zu theoretisieren. Andere Beiträge erzielen letzteres jedoch gewinnbringend, z. B. mit Blick auf menschliche und technische Handlungsfähigkeiten, infrastrukturelle Einbindungen oder diskursive, materielle und symbolische Wirkweisen von Algorithmen.

Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert, Methods, Interactions und Politics, die jeweils aus vier Beiträgen bestehen und mit einem Kommentar beschlossen werden. Zuerst geht es um Methoden; denn wie können Algorithmen erforscht werden, wenn nicht nur Nutzer:innen, sondern selbst Programmier:innen ein begrenztes Verständnis von ihnen aufweisen? Dies erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen: Motahhare Eslami und Hendrik Heuer erstellen aus Sicht der HCI eine Übersicht über Bemühungen (oder eben Methoden) von Plattformen, automatisierte Entscheidungsformen durch Transparenz und Rechenschaft zu verbessern sowie deren Grenzen in Umsetzung und Akzeptanz durch Nutzer:innen. Gabriele Gramelsberger, Daniel Wenz und Dawid Kasprowicz zeigen mit wissenschaftsphilosophischer Rahmung, wie sie zwei selbst entwickelte Tools nutzten, um andere Forschungssoftware zu analysieren. Elias Storm und Oscar Alvarado schlagen forschungspraxisnah „sensibilisierende Methoden“ vor, um die Wahrnehmung von Studienteilnehmer:innen auf Algorithmen zu lenken. Schließlich analysieren Juliane Jarke und Hendrik Heuer, wie „maschinelles Lernen“ in STS-Forschungen verschiedentlich als „black box“ geöffnet wird. Mehr als eine kundige Einführung in das wichtige techniksoziologische Konzept der „black box“ ist ihre methodologische Perspektive erhellend zur Einordnung der vorherigen – und auch nachfolgenden – Beiträge, die das selbst nur eingeschränkt leisten. Insgesamt zeigt der Teil die methodische Bandbreite des Feldes auf, jedoch mit unterschiedlicher Tiefe der Reflexion, wie auch Adrian Mackenzie kommentiert. Insbesondere eine Explikation der diversen methodologischen Traditionen der Beiträge, inklusive qualitativer und quantitativer Methoden, wäre weiterführend, um die methodologische Diskussion in dem wachsenden, interdisziplinären und experimentellen Feld der digitalen Methoden voranzubringen.

Der zweite Teil untersucht „Interactions“, die die Herausgeber:innen in explizite und implizite „Nutzungen“ von Algorithmen unterscheiden (S. 16–17). Deren angekündigte „planetarische“ Dimension (S. 17) kommt in den Beiträgen kaum in den Blick, sie betten die Nutzungen jedoch für das Verständnis der Wirkweisen „algorithmischer Regime“ weiterführend in Infrastrukturen, Organisationen und soziotechnische Arrangements ein. Yana Boeva und Cordula Kropp verdeutlichen an ihren qualitativen Daten eine infrastrukturelle Verschiebung der Interessendurchsetzung zwischen Architekt:innen, Auftraggeber:innen, politischen Akteur:innen und Softwarehersteller:innen durch ökonomisch orientierte Software. Stefanie Büchner, Henrik Dosdall und Ioanna Constantiou legen am Beispiel von Polizei und Krankenhaus dar, wie Organisationen die algorithmischen Systeme, die sie nutzen, ermöglichen und beschränken. Jörn Wiengarn und Maike Arnold stellen drei Modellszenarien vor, wie Fake News Vertrauen in Nachrichten potentiell verstärken, desorientieren oder polarisieren. Hervorzuheben ist Nikolaus Poechhacker, Marcus Burkhardt und Jan-Hendrik Passoths Beitrag zur Herstellung von Öffentlichkeiten durch Recommender-Systeme, die z. B. Social-Media-Inhalte automatisiert ordnen. Überzeugend sind darin die pragmatistische Rahmung, die verständliche Darstellung der Einbettung algorithmischer Techniken in soziotechnische Arrangements sowie die medienhistorische Einordnung. In der Summe wird das Konzept der Interaktion in diesem Teil aus soziologischer Sicht durch die Engführung auf Techniknutzung analytisch nicht ausgeschöpft; die Beteiligten erscheinen vornehmlich als Nutzer:innen, nur sehr eingeschränkt als Akteur:innen jenseits davon. Das gilt auch für Stefania Milans Kommentar, in dem sie die politische Handlungsfähigkeit von Bürger:innen als übertragen auf Technologien beschreibt. Zum Verständnis von Interaktionen in „algorithmischen Regimen“ wäre mikrosoziologisch – und auch mit dem angestrebten Bezug zu Foucault und Barad – mindestens der Einbezug ihrer körperlichen Dimension weiterführend gewesen.

Der dritte Teil vereint Beiträge zur politischen Dimension algorithmischer Systeme, die fast alle explizit mit Foucaults Überlegungen zu „Regimen“ arbeiten und sich teils mit anderen wichtigen Theorien der Algorithmusforschung verbinden. Das trägt zum theoretischen Verständnis und zur Kontextualisierung des Kernkonzeptes des Bandes bei. Hier vermisst man weiterhin Barad; dabei bieten neomaterialistische Ansätze vielversprechende Ansatzpunkte für Techniksoziologien (Barla & Trischler, 2022). Bianca Prietl und Stefanie Raible legen eine überzeugende Diskursanalyse zur vergeschlechtlichten Institutionalisierung und Legitimierung von „Data Science“ als Regime vor: Die algorithmische Analyse von „big data“ wird in ihrer „universellen“ (S. 243) Anwendung in und außerhalb akademischer Disziplinen begründet. Simon Egbert betrachtet mit Foucaults und Rouvroys Konzepten zu Gouvernementalität algorithmische „prediction regimes“. Theoretisch anspruchsvoll bearbeitet, bleiben „predictive algorithms“ als Techniken, die die Welt über Zukunftskonstruktionen regierbar machen, dabei recht abstrakt gefasst. Nah an den Technologien für „maschinelles Lernen“ untersucht hingegen Paola Lopez rassifizierte Bias auf Twitter anhand des Diskurses um ein Tool, mit dem gepostete Bilder beschnitten wurden. Auf ethnografischer Grundlage stellen Katharina Kinder-Kurlanda und Miriam Fahimi computerwissenschaftliche Versuche dar, Algorithmen in Angesicht der anhaltenden Kritik so zu verbessern, dass sie weniger voreingenommen sind. Beide Darlegungen zur Binnenperspektive der Programmierer:innen sind wichtige Beiträge zum Band, da sie praktische Fragen der Gestaltbarkeit „algorithmischer Regime“ aufwerfen. Wie auch Nanna Bonde Thylstrup kommentiert, unterliegen letztere lokalen und pluralen Interpretationen, Verstrickungen, Experimenten, Fehlern und Unsicherheiten.

Abschließend erscheint der Nutzen der Beiträge für Soziolog:innen durchmischt. Das hat vor allem mit ihrem angesprochenen unterschiedlich starken Theorieanspruch zu tun. Eine Empfehlung zum (ersten) Überblick ins Forschungsfeld gilt in der Gesamtschau vor allem für Soziolog:innen, die sich auf aktuelle Technologien spezialisieren wollen. So ordnen einige Beiträge „maschinelles Lernen“ in bestehende soziotechnische Konstellationen ein und schaffen damit gute Ausgangspunkte für ein differenziertes Verständnis von – derzeit wieder als transformativ gehypter – „Künstlicher Intelligenz“. Aber auch allgemeinere soziologische Methoden- und Theoriebildung profitiert in Angesicht von omnipräsenter Technik in „postdigitalen Gesellschaften“ (s. Laube & Grenz, 2024) von Kenntnissen außerhalb strenger fachlicher Grenzen, wie die mittlerweile breite Rezeption von Science and Technology Studies zeigt (Bauer et al., 2020). Dem Begriff des Algorithmischen kommt dabei inter-/disziplinär eine wichtige Rolle zu. Analytisch wird er relevant, wenn Algorithmen – wie es überwiegend im Sammelband erfolgt – relational in ihren kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verknüpfungen verstanden werden. Besonders vielversprechend erscheinen dabei diejenigen Beiträge des Bandes – auch in ihrer Kritik der soziotechnischen Verhältnisse –, die nicht „die“ Macht der Algorithmen fokussieren, sondern Standardisierungen und Vernetzungen von Technik und lokale Nutzungen berücksichtigen, um ein differenziertes Bild der Einflussnahme verschiedener Beteiligter – inklusive technischer Elemente – zu zeigen. Und auch die theoretische wie methodologische Beachtung der technisch-medialen Bedingtheit und soziotechnischen Eingebundenheit der eigenen Forschung in ihren Gegenstand ist bereichernd für eine zeitgemäße Soziologie. So fördert der Band in seiner Breite ein fundiertes, soziologisch anschlussfähiges Verständnis von Algorithmen. Insbesondere aus techniksoziologischer Sicht sei jedoch daran erinnert, dass man riskiert, das Marketing der Technikunternehmen zu reproduzieren, wenn man das transformative Potential von Technik in den Mittelpunkt der Analyse stellt.

Literatur

Barla, J., & Trischler, R. (2022). Editorial: Neomaterialistische Techniksoziologien – Potentiale, Spannungen, Desiderata. Behemoth,15(1), 1–11. Search in Google Scholar

Bauer, S., Voigt, T. H., & Lemke, T. (Hrsg.). (2020). Science and Technology Studies: Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven (2. Aufl.). Suhrkamp.Search in Google Scholar

Laube, S., & Grenz, T. (2024). Soziologie (in) der postdigitalen Gesellschaft. Soziologische Revue, 47(3), 308–322.10.1515/srsr-2024-2030Search in Google Scholar

Quadflieg, S., Neuburg, K., & Nestler, S. (Hrsg.). (2022). (Dis)Obedience in Digital Societies: Perspectives on the Power of Algorithms and Data. transcript.10.1515/9783839457634Search in Google Scholar

Online erschienen: 2025-08-27
Erschienen im Druck: 2025-08-27

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 28.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2031/html?lang=en
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