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Johannes Röß, Zwischen Freiheit und Entfremdung: Eine Sozialphilosophie des Geldes nach Georg Simmel. Frankfurt am Main: Campus 2023, 356 S., br., 40,00 €

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Published/Copyright: July 24, 2025
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Johannes Röß, Zwischen Freiheit und Entfremdung: Eine Sozialphilosophie des Geldes nach Georg Simmel. Frankfurt am Main: Campus 2023, 356 S., br., 40,00 €


Die auf Marx zurückgehende Theorie der Verdinglichung sozialer Verhältnisse aufgrund der Warenform der Arbeitsprodukte im modernen Kapitalismus war bekanntlich ein zentrales Lehrstück der Kritischen Theorie bei Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Theodor W. Adorno. Ihr Einfluss ist auch noch bei Jürgen Habermas und dessen Konzept der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch verselbständigte Steuerungsmedien zu spüren. Die von Marx übernommene Kritik der Warenform führte bei manchen Autor:innen der Frankfurter Schule zu einem expliziten politischen Votum zugunsten der sozialistischen Planwirtschaft; so war Friedrich Pollock noch in den 1960er Jahren davon überzeugt, „dass für Europa wenigstens die Vorbereitung planwirtschaftlicher Methoden eine Frage von Leben und Tod ist“ (Pollock, 1964, zitiert nach Lenhard, 2019, S. 289).

Nun liegt eine neue Studie – wiederum aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung – vor, die in diesen zentralen Fragen deutlich andere Akzente setzt. Der Verfasser, Johannes Röß, nimmt dabei auf einen anderen klassischen Autor Bezug, dessen Texte von den Autoritäten der Frankfurter Schule zwar nicht ignoriert, aber wenn, dann nur gleichsam mit spitzen Fingern angefasst wurden: Georg Simmel. Die These der als Dissertation bei Axel Honneth und Martin Saar entstandenen Arbeit wird in ihrem Titel „Zwischen Freiheit und Entfremdung“ bereits angedeutet: Freiheit ist nicht etwa das Gegenteil der durch die Herrschaft des Geldes gestifteten Entfremdung, sondern ihr Korrelat, genauer: Die geldbedingte Versachlichung sozialer Beziehungen bedeutet eo ipso auch Freiheit – Freiheit freilich in einem ganz spezifischen Sinn, den Röß mit Simmel kritisch klären möchte. Das Problem sozialer Heteronomie im Kapitalismus besteht, so seine These, weniger in den gegenseitigen sachlichen Abhängigkeiten, die in einer arbeitsteilig verfassten Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich sind. Es besteht vielmehr einerseits in der Uferlosigkeit, andererseits in der sozial höchst ungleichen Verteilung des mit der Kapitalform des Geldes verknüpften Freiheitsversprechens.

Im Aufbau der Argumentation orientiert der Autor sich an Simmels Schlüsselwerk „Philosophie des Geldes“, achtet jedoch dabei freilich darauf, die parallelen Gedankenfiguren bei Marx sowie die für ihn relevanten Lehrmeinungen in der aktuellen Sozialphilosophie im Auge zu behalten. Auch die Kritik an Simmel selbst kommt nicht zu kurz. Es beginnt mit der im ersten Teil der „Philosophie des Geldes“ entwickelten „Werttheorie“, in der Simmel, wie Röß zweifellos mit Recht kritisiert, unkontrolliert von einer ahistorisch-psychologischen zu einer sozialhistorischen Argumentationsebene wechsele. Darüber hinaus legt der Autor Wert darauf, Simmels tauschtheoretische Argumentation ihrerseits sozialtheoretisch einzurahmen: Weil das soziale Leben überhaupt als kommunikative Austauschbeziehung strukturiert sei, ergebe sich die Chance für die Akteure, sich auch durch dinglich vermittelte Tauschverhältnisse hindurch gegenseitig anzuerkennen (S. 82). Auch Tauschverhältnisse bleiben trotz ihrer sachlichen Oberfläche auf eine kommunikative Rahmung in Form eines Minimums an reziprokem Vertrauen angewiesen. Und der Tausch bedeutet individuelle Freiheit, eine Freiheit zumindest im negativen Sinn der Offenheit gegebener Marktchancen. Marktfreiheit bedeutet nicht etwa, wie Röß mit Simmel betont, dass die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander abnähme; im Gegenteil nimmt die Abhängigkeit aller von allen mit der Ausbreitung von Marktverhältnissen in nie gekannter Weise zu. Das Entscheidende ist vielmehr, dass der Markt den persönlichen Charakter der in früheren Gesellschaften herrschenden Abhängigkeiten beseitigt und ihnen eine austauschbare, anonyme Form gibt. Märkte und Geld befreien die Menschen von persönlicher Bevormundung und ermöglichen so individuelle Freiheit nicht außerhalb, sondern gerade mitten in der Gesellschaft.

Der nächste Schritt der Simmel’schen Ableitung besteht, ähnlich wie bei Marx, in der Abbildung der zunächst bilateral gedachten Tauschwerte in einem dritten Gegenstand: Geld. Von der Entstehung des Geldes bis zu der des Kapitalismus ist es zwar noch immer ein weiter Weg. Mit der extensiven und intensiven Ausweitung der Märkte, vor allem mit ihrem Übergreifen vom Konsum auf die Produktion, verlängern sich jedoch die wirtschaftlichen Zweck-Mittel-Ketten. Damit wächst unvermeidlich, wie Simmel übereinstimmend mit Marx argumentiert, die Bedeutung des Geldes als Vermittler des wirtschaftlichen Prozesses. Seine Unentbehrlichkeit in einer Vielzahl von Transaktionen wird schließlich so groß, dass es über die bescheidende Rolle des Vermittlers hinauswächst und – ob manifest oder latent – zum „absoluten Mittel“ (Simmel), das heißt: zum eigentlichen Zweck der Wirtschaft avanciert. Marx hatte die gleiche Transformation bekanntlich als Verwandlung des Geldes in selbstzweckhaft sich vermehrendes „Kapital“ beschrieben.

Damit aber verändert auch die mit dem Geld verknüpfte individuelle Freiheit ihren Charakter, wie Röß im Anschluß an Simmel und Marx argumentiert. Zum einen macht die Verselbständigung des Geldes zum Kapital die (wie oben betont) in Tauschverhältnissen implizit präsente soziale Reziprozität unkenntlich und lässt eine egozentrische, ausschließlich auf den individuellen Gewinn fixierte Form der Rationalität entstehen. Zum zweiten gewinnt die mit dem Geldreichtum verknüpfte Wahlfreiheit einen Eigenwert („Superadditum“ des Geldes nach Simmel). Es kommt es zu einer Hypostasierung negativer Freiheit, die alle Ansätze einer positiven Bestimmung von Freiheit unterminiert und eine „grenzenlose Begehrensdynamik“ (S. 168) eröffnet. Sie äußert sich nicht nur in dem bereits von Marx untersuchten strukturellen Wachstumsimperativ des Kapitalismus, sondern auch in den von Simmel mit großer Akribie herausgearbeiteten individuellen Pathologien des Umgangs mit Geld: Geiz, Kaufsucht, Zynismus, Blasiertheit. Zum dritten ist die mit der Kapitaleigenschaft des Geldes verknüpfte individuelle Freiheit sozial höchst ungleich verteilt. Historisch setzt sie bekanntlich die Ausweitung des Marktes auf die Produktionsbedingungen voraus, die zwei Kategorien von Eigentümern entstehen lässt: Die einen verfügen über die materiellen Produktionsmittel, die anderen nur über ihre Arbeitskraft. Während den einen dank ihres Besitzes von Geldvermögen die ganze Fülle des gesellschaftlichen Reichtums zur Disposition steht, schulden die anderen den Einsatz ihrer Arbeitskraft zur Produktion eben jenes Reichtums. Sozialphilosophisch läuft dieses eigentumsrechtliche Arrangement auf eine gesteigerte Form der Entfremdung hinaus, wie Röß herausarbeitet. Es handele sich um eine vereinseitigte Form von Freiheit, „die dazu führt, dass sich die institutionellen Voraussetzungen einer gelingenden positiven Bestimmung individueller Freiheit auflösen“ (S. 220). Die Individuen „sind zwar frei geworden von unmittelbaren Bindungen an den objektiven sozialen Zusammenhang, sie stehen jedoch in keiner als sinnvoll erfahrbaren positiven Aneignungsbeziehung zu der von ihnen selbst hervorgebrachten Welt“ (S. 249). Es gehe hier, wie der Autor gegen Habermas klarstellt, nicht nur um eine Kritik der monetären Kolonialisierung nicht-ökonomischer Sphären, sondern vor allem auch um eine „Kritik der Monetarisierung der ökonomischen Sphäre selbst“ (S. 223). Hinzufügen könnte man hier, dass eine solche Kritik heute auch die ökologischen Folgewirkungen der Vermögensform des Geldes einbeziehen müsste – ein Punkt, auf den Röß kaum eingeht.

Im Gegensatz zu Hegel und Marx versagt Simmel sich die geschichtsphilosophische Hoffnung auf eine positive Aufhebung der inneren Widersprüche der Moderne. Er sieht die moderne Gesellschaft in einem sich zuspitzendenden Konflikt zwischen den sich gegenseitig bedingenden Extremen einer Objektivierung der Kultur auf der einen, und einer Individualisierung der persönlichen Verhältnisse auf der anderen Seite befangen. Eine Versöhnung zwischen Individuellem und Allgemeinem hält er nur in einzelnen Sphären der Gesellschaft, insbesondere der Kunst, für möglich. Skeptisch steht Simmel auch sozialistischen Versuchen gegenüber, die Entfremdung der gesellschaftlichen Verhältnisse politisch aufzuheben, etwa durch das Konzept eines auf gesamtgesellschaftlicher Planung beruhenden „Arbeitsgeldes“ (S. 256). In einem solchen System würden die individuellen Bedürfnisse unvermeidlich unter die Räder kollektiver Planung geraten, was Simmel für nicht tolerabel hält (S. 272).

Auch in diesem Punkt setzt Röß deutlich andere Akzente. Mit den zuvor entwickelten Differenzierungen der Geldkritik hat er die argumentativen Voraussetzungen dafür geschaffen, auch die Idee des Sozialismus anders als nur planwirtschaftlich zu denken. In den letzten Abschnitten des Buches stellt er, anknüpfend an Axel Honneth und Cornelius Castoriadis, seine Ideen zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ vor. Eine „sozialistische“ Gesellschaftsverfassung wäre, wie er mit Honneth ausführt, eine Form sozialer Freiheit, in der die Markttteilnehmer:innen sich „vorweg als Mitglieder einer kooperativen Gemeinschaft anerkannt haben müssen“ (S. 324). Gleichwohl sei eine solche Gesellschaftsverfassung in begrenztem Umfang durchaus mit einer Steuerung der Wirtschaft durch den Markt und die durch ihn ermöglichten negativen Freiheiten vereinbar. Entscheidend dabei sei es, der kapitalistischen Verselbständigung des Geldmediums durch geeignete Strukturen demokratischer politischer Willensbildung einen Riegel vorzuschieben. Wie das geschehen könnte, wird bei Röß freilich nicht sehr klar; auch einige kursorische Anmerkungen zum Konzept des garantierten Grundeinkommens (S. 329–330) helfen kaum weiter. Und so endet der politische Ausblick des Buches eigentlich nur in einer Zusammenstellung offener Fragen, deren genauere Klärung sich freilich leicht zum Stoff eines ganz neuen Buches hätte auswachsen können.

Um zum Resümee zu kommen: Der Balanceakt zwischen Simmels Geldtheorie einerseits, sowie der marxistischen Tradition und der aktuellen sozialphilosophischen Diskussion anderseits, den Johannes Röß vorführt, ist nicht durchweg gut geglückt; nicht immer ist es dem Autor gelungen, die widerstreitenden Theorieansätze überzeugend zusammenzuführen. Gleichwohl hat der Autor eine hervorragend informierte, originelle und inspirierende Studie vorgelegt, die gerade in Frankfurt, aber auch anderswo, Aufmerksamkeit verdient. Die teilweise in Floskeln erstarrte Diskussion über die aktuellen Transformationen des Kapitalismus könnte davon nur profitieren.

Literatur

Lenhard, P. (2019.) Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2025-07-24
Erschienen im Druck: 2025-08-27

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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