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Uwe Schimank, Entscheiden: Ein soziologisches Brevier. Wiesbaden: Springer VS 2022, 176 S., eBook, 22,99 €

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Published/Copyright: October 8, 2024
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Uwe Schimank, Entscheiden: Ein soziologisches Brevier. Wiesbaden: Springer VS 2022, 176 S., eBook, 22,99 €


Uwe Schimanks neues Buch Entscheiden stellt einen Versuch dar, eine normative Entscheidungstheorie aus soziologischer Perspektive zu entwickeln, die eine brauchbare Alternative zu der normativen Theorie des rationalen Entscheidens, welche in den Wirtschaftswissenschaften gelehrt wird, darstellt (S. VII–VIII). Dies ist eine ausgesprochen originelle und unerwartete Idee, weil die Soziologie sich traditionell als eine beschreibende und erklärende akademische Disziplin definiert. Im Gegensatz dazu sind die Wirtschaftswissenschaften von Anfang an das Resultat einer Kombination von abstrakten Theorien und praktischer Berufsausbildung gewesen. Dementsprechend haben die Ökonom:innen den Homo oeconomicus nicht nur zur Grundlage von erklärenden Theorien gemacht, sondern ihn auch zum Vorbild einer normativen Theorie rationalen Entscheidens erhoben. Wichtig ist hier, dass erklärende und normative Theorien völlig unterschiedliche Ziele verfolgen. Erklärende Theorien des Entscheidens versuchen darzustellen, wie sich reale Akteure entscheiden, wenn sie es tun. Das Kriterium für gute erklärende Theorien ist die Wahrheit. Im Gegensatz dazu sagen normative Theorien des Entscheidens, wie sich die Akteure entscheiden sollen. Das Kriterium für gute normative Theorien ist, ob sie in der Praxis zu guten Ergebnissen führen. Dementsprechend gehe ich in dieser Rezension von der Frage aus, ob Schimanks Theorie zu besseren Entscheidungsergebnissen führt als die ökonomische Entscheidungstheorie. Die von Schimank vorgestellte soziologische Entscheidungstheorie müsste nicht in allen Fällen, sondern nur in einigen Fällen bessere Ergebnisse produzieren, um eine sinnvolle Ergänzung darzustellen.

Entscheiden: Ein soziologisches Brevier ist im Grunde ein Lehrbuch. Es ist das Resultat von Schimanks Lehrtätigkeit in dem interdisziplinären Weiterbildungs-Masterstudiengang „Entscheidungsmanagement“ an der Universität Bremen, wo er für das Modul „Soziologie des Entscheidens“ verantwortlich war. Es handelt sich um eine Weiterentwicklung von Schimanks Buch Die Entscheidungsgesellschaft: Komplexität und Rationalität der Moderne (2005), von dem eine ganze Reihe kürzerer oder längerer Passagen fast wörtlich übernommen wurden (S. X). Dies entpuppt sich sehr schnell als ein erhebliches Problem in Schimanks Argumentation, da Die Entscheidungsgesellschaft als eine beschreibende und erklärende Theorie formuliert wurde, und somit ganz und gar nicht zu einer normativen Theorie des Entscheidens passt.

Der Logik seines Werkes Die Entscheidungsgesellschaft folgend, behauptet Schimank auch hier, dass die wirtschaftswissenschaftliche Theorie nicht auf Entscheidungen adäquat angewendet werden kann, weil sich reale Akteure nicht so entscheiden (S. VI, 43–44). Solange sich Schimank, wie in Die Entscheidungsgesellschaft, auf erklärende Theorien bezieht, kann gegen eine solche Aussage nichts eingewendet werden. Wenn die ökonomische Theorie behauptet, dass sich reale Akteure rational verhalten, und wenn die empirische Forschung eindeutig zeigen kann, dass sich die Menschen nicht so verhalten, dann ist die ökonomische Theorie falsifiziert. Dies wird ja selbst von charismatischen Verfechtern der Rational Choice Theorie zugegeben (Esser, 2018, S. 144). Wenn Schimank allerdings dieselbe Aussage auf normative Theorien bezieht, macht diese Behauptung keinen Sinn mehr. Aus der Tatsache, dass die meisten Menschen nicht die ökonomische Entscheidungstheorie anwenden, folgt nicht logischerweise, dass wir die Theorie des rationalen Entscheidens vergessen sollten. Es könnte genauso gut daraus geschlossen werden, dass nicht nur Studierende der Wirtschaftswissenschaften, sondern alle Menschen in der Anwendung rationaler Entscheidungstheorien trainiert werden sollten, um den Anteil derjenigen zu erhöhen, die rationale Entscheidungen fällen.

Schimank ist sich wohl der Schwäche seines Arguments bewusst, denn er fügt diesem eine weiterführende Begründung hinzu: „Die allermeisten bewussten Handlungswahlen lassen sich, anders als die wirtschaftswissenschaftliche Perspektive auf Entscheiden mit ihrem Homo Oeconomicus suggeriert, nicht berechnen“ (S. 7). Dies ist in der Tat eine normative Aussage. Wir sollen die ökonomische Theorie rationalen Entscheidens mit ihren „heroischen Annahmen“ ignorieren, weil sie in den meisten Fällen nicht funktioniert (S. 7). Es geht hier also nicht mehr darum, was die meisten Menschen in der Realität tun, sondern darum, was in der Praxis zu guten Ergebnissen führt. Das Problem mit diesem Argument ist allerdings, dass es auf einer Karikatur der ökonomischen Entscheidungstheorie beruht, die Schimank mit extrem überhöhten Rationalitätsforderungen darstellt. Ein Beispiel: Auf Seite 5 setzt Schimank den Homo oeconomicus mit der Erwartungsnutzentheorie gleich. Die Subjektive Erwartungsnutzentheorie, die wesentlich weniger Anforderungen stellt und einfacher angewendet werden kann, erwähnt er hingegen nicht.

Der Theorie rationalen Entscheidens stellt Schimank nun seine eigene Kontingenztheorie des Entscheidens gegenüber. Seine Hauptthese ist, dass es „nicht einen einzigen Modus des ‚richtigen‘ Entscheidens [gibt], der in jeder Art von Situation adäquat wäre; sondern je nach Beschaffenheit einer Entscheidungssituation sind andere Arten von Entscheidungspraktiken adäquat“ (S. IX). In dem ersten Teil des Buches stellt Schimank die Variablen vor, die eine Entscheidungssituation ausmachen. Dieser Teil bietet nichts wirklich Neues, ist aber gut strukturiert geschrieben.

Besonders hervorzuheben sind hier die drei Dimensionen, die die Komplexität einer Entscheidungssituation determinieren. Die Sachdimension beschreibt die Informationsgrundlage bzw. das Wissen der Akteure in einer Problemsituation. In der Sozialdimension geht es darum, ob es sich um ein Spiel gegen die Natur oder gegen andere Menschen handelt (S. 19). Letztlich ist die Zeitdimension über die zur Verfügung stehenden Zeit und das Ausmaß der Ungewissheit über die Zukunft definiert (S. 20). Die Komplexität der Entscheidungssituation ist nun wiederum die entscheidende Variable, die bestimmt, welche Handlungsstrategie gewählt werden sollte. „Je komplexer eine Entscheidungssituation ist, desto geringer ist das erreichbare Rationalitätsniveau“ (S. 43). Was Schimank hier als ein Faktum beschreibt, hätte er allerdings besser als eine normative Handlungsdevise formulieren sollen: Je komplexer eine Entscheidungssituation ist, desto weniger rationale Entscheidungsstrategien sollten angewendet werden.

Im zweiten Teil des Buches beschreibt Schimank drei Alternativen zur ökonomischen Entscheidungsmaxime: Planung, Inkrementalismus und Coping. Dieser Teil ist innovativ und lesenswert. Die Strategie der Planung empfiehlt, sich frühzeitig über mögliche Entscheidungsprobleme zu informieren (S. 90), mehrere Alternativen zu sondieren (S. 93), die Meinung der wichtigsten Betroffenen einzuholen (S. 105), und nach einer Alternative zu suchen, die ein bestimmtes Mindestniveau erfüllt, wobei die Suche fortgeführt werden sollte, solange noch Zeit und Hoffnung bestehen, eine bessere Alternative zu finden (S. 111). Demgegenüber fordert der Inkrementalismus, sich nur noch mit einem Problem auseinanderzusetzen, wenn es erforderlich ist (S. 63). Nur die wirklich drängenden Aspekte sollten mit Heuristiken evaluiert werden (S. 67). Nur solche Alternativen sollten berücksichtigt werden, bei denen „mit keinen größeren Widerständen zu rechnen“ ist (S. 72), und die Wahl sollte abgebrochen werden, sobald die erste Alternative gefunden wird, die das Mindestniveau erfüllt (S. 77). Die Coping-Strategie wiederum reduziert die Anforderungen an die Rationalität: „Tue so, als ob du eine rationale Alternativenabwägung vollzogen hättest gegenüber anderen“ (S. 120), handle schnell, wenn „sich Gelegenheiten für eine improvisierte Problembearbeitung bieten“ (S. 135), und passe „deine Maßstäbe dafür, was eine ‚gute‘ Entscheidung ist, den Resultaten des Entscheidens an“ (S. 138).

Die entscheidende Schwäche der von Schimank vorgestellten Entscheidungsdevise ist, dass man ihr zurecht vorwerfen könnte, dass sie die Faulheit der Entscheider unterstützt (siehe S. 56). Jeder Akteur, der sich vor einer Entscheidung drückt, könnte sich damit herausreden, dass ihm/ihr die Coping-Strategie für den „wahrgenommenen“ Komplexitätsgrad empfohlen wurde, wobei der Komplexitätsgrad wiederum von der Inkompetenz der Akteure abhängt. Mit anderen Worten, wir würden unfähigen Entscheidungsträgern nicht nur erlauben, sondern sogar empfehlen, schlechte Entscheidungen zu treffen. Das kann nicht das Ziel einer normativen Entscheidungstheorie sein.

Dieses Fazit ist sehr bedauerlich, da die Empfehlung der Coping-Strategie sehr wohl rational begründet werden kann. Schimank bietet sogar die entscheidenden Argumente dafür, ohne sie allerdings konsequent weiterzuentwickeln. Auf der einen Seite bezieht er sich auf die Meta-Rationalität: „eine rationale Entscheidung über das angestrebte Niveau begrenzter Rationalität und die dafür eingesetzten Strategien des Entscheidens“ (S. 58). Auf der anderen Seite führt Schimank aus, wie wichtig die Zeitknappheit bei der Auswahl der besten Entscheidungsstrategie ist (S. 57). Wenn er diese Argumente systematisch zusammengeführt hätte, hätte er seine alternative Handlungsdevise folgendermaßen formulieren können: Je weniger Zeit zur Verfügung steht, die Komplexität einer Entscheidungssituation zu analysieren, desto weniger rationale Entscheidungsstrategien sollten angewendet werden.

Wenn sich ein Akteur zum Beispiel mit zwei Entscheidungsproblemen A (sehr komplex und sehr wichtig) und B (weniger komplex und unwichtig) konfrontiert sieht, die er/sie in einer kurzen Zeitspanne bearbeiten muss, dann kann es in der Tat rational (und ratsam) sein, das Entscheidungsproblem B durch Coping zu lösen, damit er/sie genügend Zeit hat, das wichtige Problem A so rational wie möglich zu behandeln. Die Coping-Strategie ist hier die beste Wahl für B, weil es ein unwichtiges Problem ist, mit dem nicht unnötigerweise Zeit verschwendet werden sollte (die Komplexität von B ist irrelevant für diese Entscheidung).

Das Buch Entscheiden ist der erste Versuch, eine soziologische Entscheidungstheorie zu entwickeln. Es zeigt richtigerweise auf, dass die ökonomische Theorie des rationalen Entscheidens nicht immer die beste Strategie ist, und es stellt drei sinnvolle alternative Entscheidungsmaximen vor. Die normative Rechtfertigung dieser Alternativen kann allerdings erheblich verbessert werden. Dieses Buch kann Entscheidern dennoch etwas übers Entscheiden lehren, auch wenn es noch nicht perfekt ist.

Literatur

Esser, H. (2018). Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust? Nicht nur eine ›Stellungnahme‹ aus ›gegebenem Anlass‹. Zeitschrift f. Theoretische Soziologie, 7(1), 132–152. https://doi.org/10.17879/zts-2018-4174Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-10-08
Erschienen im Druck: 2025-03-05

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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Downloaded on 11.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2059/html?lang=en
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