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Charlie Winter: War by Suicide: A Statistical Analysis of the Islamic State's Martyrdom Industry. 2017.

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Published/Copyright: June 12, 2017

Charlie Winter, Associate Fellow am International Centre for Counter-Terrorism – Den Haag (ICCT), legt in diesem Research Paper eine quantitativ wie qualitativ fundierte Studie zum Gebrauch von Selbstmordattentaten durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) vor. Ausgangspunkt der Studie ist die allgemein unbestrittene Erkenntnis, dass Selbstmordattentate seit etlichen Jahren und von diversen Gruppen weltweit eingesetzt werden, vom IS allerdings in einer bisher unbekannten Anzahl und Frequenz. Wie Winter im Zuge der Studie darlegt, gelten bisher etablierte Annahmen über den Gebrauch von Selbstmordattentaten für den IS nur noch bedingt.

Die Studie ruht primär auf einer zwölfmonatigen systematischen Auswertung von Informationen, die der IS zu seinen Selbstmordattentaten veröffentlichte. Die Quellen dabei waren die (von Analysten oft genutzte) Amaq News Agency und die (bisher weitgehend unausgewerteten) regionalen IS-Medienbüros, von denen Winter 15.014 Bilddateien an Propagandamaterial archivierte. Anhand dieses Materials wurden von Dezember 2015 bis November 2016 genau 923 Selbstmordoperationen erfasst. Eine systematische Überprüfung anhand von unabhängigen Quellen war dabei nicht möglich, umfangreiche Stichproben legten aber nahe, dass die vom IS veröffentlichten Informationen weitestgehend authentisch waren.

Die Untersuchung ergab, dass sich drei Typen von Selbstmordoperationen unterscheiden lassen: Zuerst Fahrzeuggestützte Selbstmordattentate (VBIEDs), bei denen der IS eine Vielzahl von Fahrzeugtypen – meist jedoch leichtgepanzerte Fahrzeuge mit Vierradantrieb – nutzt, um eine größere Menge Sprengstoff schnell und überraschend in ein Ziel zu steuern. Operationen dieses Typs machen beachtliche 70 % der Gesamtzahl aus. Zweitens definiert Winter 20 % der Selbstmordanschläge als ͨamalīyāt inġimāsīya – sozusagen „Berserker-Operationen“, bei denen Kämpfer auf sich alleine gestellt und oft weit hinter feindlichen Linien mit normalen infanteristischen Mitteln kämpfen, allerdings auch einen Sprengstoffgürtel tragen, in der festen Absicht, diesen zu zünden, sobald sie überwältigt werden oder sich eine besonders „gute“ Gelegenheit bietet. Winters Ansatz, nachdem die suizidale Absicht entscheidend für die Klassifizierung als Selbstmordattentat ist, widerspricht dabei der verbreiteten Definition, der zufolge der Tod des Attentäters eine Bedingung für den Erfolg der Operation ist. Winters stützt sein Abweichen von der konventionellen Definition auf die taktische und etymologische Ähnlichkeit des Konzepts inġimāsīya mit der „klassischen“ Märtyreroperation istišhādīya. 10 % der Selbstmordoperationen sind, drittens, Operationen gegen Zivilisten, unternommen meistens von Attentätern zu Fuß mit Sprengstoffgürteln und gelegentlich Schusswaffen.

Entgegen der etablierten Ansicht, dass Selbstmordanschläge meistens der Opfermaximierung unter Zivilisten dienen, richten sich nur 16 % der erfassten IS-Operationen gegen Zivilisten, 84 % dagegen bekämpfen militärische Ziele. Außerdem waren nur 20 % der Attentäter ausländische – sprich nicht-irakische oder -syrische – Kämpfer, was den Ergebnissen anderer Studien widerspricht, denen zufolge Selbstmordattentate ein Verwendungszweck für „unskilled labour“ sind, wie sie in Form von militärisch nicht ausgebildeten und lokal kaum einsetzbaren Foreign Fighters auftritt. Unter den vergleichsweise wenigen ausländischen IS-Selbstmordattentätern sind Tadschiken am stärksten repräsentiert, gefolgt von Saudis, Marokkanern, Tunesiern und Russen.

Durch einen Abgleich des Geschehens auf dem Schlachtfeld mit der geographischen und zeitlichen Verteilung von Selbstmordoperationen zieht die Studie außerdem Rückschlüsse auf die taktischen Umstände, in denen der IS diese einsetzt. Generell gibt es eine starke Korrelation zwischen dem Gebrauch von Selbstmordoperationen und der militärischen Opposition gegen den IS. So finden zwei Drittel aller Selbstmordoperationen im Irak statt, wo dem IS der konzentrierte Widerstand des irakischen Staates und etlicher Milizen entgegensteht. Nur 24 % sind dagegen im militärisch wesentlich diffuseren Syrienkonflikt zu verorten.

Taktisch setzt der IS Selbstmordoperation primär in der Defensive als VBIEDs ein – eindrücklich illustriert durch eine Verzehnfachung der Angriffe im Zuge der Rückeroberung Mosuls im November 2016. Außerdem werden Selbstmordangriffe als Mittel für Gegenoffensiven genutzt, um den Aufmarsch feindlicher Kräfte zu stören und feindliche Sicherheitskräfte an anderen Orten zu binden, jedoch nicht um Territorium zurückzuerobern. In diesem Zusammenhang räumt Winter ein, dass der IS Selbstmordoperation durchaus auch im Kontext seiner Offensiven verwendet hat – nur dass es im Untersuchungszeitraum eben keine echten Offensiven seitens des IS mehr gab, die man hätte analysieren können.

Der Fokus auf defensive Operationen bedeutet aber keineswegs, dass Selbstmordoperationen Ausdruck einer Bis-zum-letzten-Mann-Verteidigungshaltung sind. Tatsächlich achtet der IS in der Regel erkennbar darauf, keine Selbstmordattentäter in verlorenen Gefechten zu verschwenden, wie sich im Mai und Juni 2016 bei der Rückeroberung Fallujahs zeigte.

https://icct.nl/wp-content/uploads/2017/02/ICCT-Winter-War-by-Suicide-Feb2017.pdf

Online erschienen: 2017-6-12

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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