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Wir können auf die Reichen nicht verzichten

  • Christoph M. Schmidt EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Dezember 2023

Liebe Leserin, lieber Leser,

es war ein turbulentes und herausforderndes Jahr 2023. Bald wird sich zum zweiten Mal der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine jähren, mittlerweile ein aufreibender Stellungskrieg. Mehr als eine halbe Million Menschen haben in diesem Konflikt ihr Leben verloren, Hunderttausende haben ihre angestammte Heimat in der Ukraine verlassen müssen. Unfassbar sind auch die Schrecken in Israel und im Gaza-Streifen. Ein Ende ist nicht abzusehen. Angesichts weiterer geopolitischer Spannungen, allen voran zwischen Washington und Peking, und einer anstehenden richtungsweisenden Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten stellt sich für viele Menschen die Frage, wie man sich in dieser Welt noch zurechtfinden soll.

Zugleich steht die Weltgemeinschaft weiter vor dem großen Koordinationsproblem, sich zum einen wirksam dem Klimawandel entgegenzustemmen, aber zum anderen den in vielen Volkswirtschaften vor allem seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts so erfolgreich vollzogenen Aufbruch aus Armut und Not nun auch den Menschen im globalen Süden zu ermöglichen. Eine zunehmend reichhaltige, spannende Literatur bietet mittlerweile Orientierung, um dem Wunsch nach einer sozial ausgewogenen Gestaltung der globalen Transformation zur Nachhaltigkeit empirischen Gehalt zu verleihen. Ein Kernergebnis dieser beschreibenden Studien ist, dass auf Ebene einzelner Haushalte höhere Einkommen mit mehr Emissionen von Treibhausgasen verbunden sind – und dass aufgrund von Aufholprozessen nun auch wohlhabende Haushalte im globalen Süden zu den nennenswerten Emittenten gehören.

Die Erhebung von Fakten allein begründet indes noch keine konkrete politische Maßnahme. Gefragt sind zudem analytischer Tiefgang – „Was kann ich überhaupt erkennen?“ – und die Berücksichtigung komplexer Wirkungszusammenhänge, also all das, was unsere Disziplin im besten Falle zu bieten hat. Umso verstörender sind menschenfeindlich anmutende Parolen vermeintlicher Klimaschützer wie „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“. Hier gilt es, aus Sicht der liberalen Demokratie wachsam zu bleiben und dem um sich greifenden undifferenzierten Schwarz-Weiß-Denken entschieden zu widersprechen. Dies gilt umso mehr, als es allzu häufig im Kern wohl auch darum geht, die breit geteilte Sorge über den Klimawandel und auch die leider ebenso breit geteilte menschliche Neigung zum Neid dazu zu missbrauchen, den Antikapitalismus aggressiv in die Gesellschaft zu tragen.

 Foto: Sven Lorenz/RWI

Foto: Sven Lorenz/RWI

Die Rubrik Unsere Welt in Zahlen greift drei Aspekte dieser Diskussion auf: die Notwendigkeit, einen nüchternen Blick auf die Gegebenheiten zu bewahren, das dringende Erfordernis, zwischen Zielen und Instrumenten zu unterscheiden, sowie das Fehlen absoluter Maßstäbe für die Einordnung ökonomischer Kennzahlen. Die Abbildung kontrastiert für Deutschland für das Jahr 2018 die Beiträge, die nach ihren Nettoäquivalenzeinkommen in Dezile geschichtete Haushalte anteilig zu den CO2-Emissionen sowie zum Aufkommen von Steuern und Abgaben geleistet haben. Es zeigt sich erstens, dass die Emissionsanteile über die Dezile hinweg nur gering steigen, während der Beitrag des obersten Dezils zu Steuern und Abgaben deutlich vom Beitrag der Haushalte in allen anderen Dezilen abweicht.

Zweitens gibt die Abbildung eine erste Antwort auf die mit jedem möglichen Eingriff verbundene Frage „Was wäre, wenn?“. Wenngleich man rechnerisch fragen kann, was eine isolierte Änderung des Emissionsverhaltens für die angestrebte Reduktion insgesamt leisten könnte, so muss sich politisches Handeln in der liberalen Demokratie doch in einer Realität bewegen, in der Menschen nach ihrem eigenen Willen handeln. Der antikapitalistische Diskurs lässt zwar erahnen, dass Zwang und Umerziehung so manchem Protagonisten nicht unsympathisch wären, aber in jedem Fall gilt: Das Ausrufen eines Ziels erübrigt nicht die Frage nach den vielfältigen – erwünschten wie unerwünschten – Wirkungen der zur Verfügung stehenden Instrumente. Die Abbildung zeigt: Wenn es rein hypothetisch gelänge, die Haushalte des obersten Dezils in jeder Hinsicht in Haushalte des neunten Dezils zu verwandeln, wäre die Reduktion der CO2-Emissionen mit Blick auf die staatlichen Einnahmen teuer erkauft.

Neben der Existenz von Zielkonflikten ruft die Abbildung drittens eine weitere Tatsache ins Gedächtnis: Wie Umstände einzuordnen sind, ergibt sich nie absolut, sondern immer aus der eingenommenen Perspektive. Rund zwei Drittel der deutschen Haushalte gehören im globalen Maßstab zu den reichsten 10 Prozent. Wenn man einem Weltbild folgt, in dem reiche Haushalte wegen ihres Beitrags zum globalen Klimawandel verdammenswert sind, ist man inmitten einer gemeinsam prosperierenden Gesellschaft also schnell dabei, deren Mehrheit zu verdammen. Konstruktive Lösungen für eine Transformation zur Klimaneutralität ohne unnötigen Wohlstandsverlust lassen sich nur mit differenzierteren Ansätzen finden.

Die sich anschließende Rubrik Aus dem Verein für Socialpolitik trägt noch einmal der Tatsache Rechnung, dass 2023 das Jahr unseres 150. Vereinsjubiläums war. In ihrer hier abgedruckten Rede zur Eröffnung des Festakts auf der Jahrestagung in Regensburg schlug die Vorsitzende Regina Riphahn (Erlangen-Nürnberg) mit Blick auf die Entwicklung des Vereins wie auch unserer Disziplin eindrucksvoll die Brücke von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Es folgt die deutsche Fassung der diesjährigen Thünen-Vorlesung von Isabel Schnabel (EZB). Ausgehend von der Beobachtung, dass nach dem Ausbruch der Coronapandemie die Geldmenge im Euroraum rasant gestiegen war und wenig später auch die Inflation in die Höhe schoss, untersucht sie die Rolle der Geldmenge. Sie greift auf Einsichten der Theorie und der reichhaltigen empirischen Literatur zurück – und betont im Ergebnis die nach wie vor große Bedeutung der Geldmenge als Indikator für Preisstabilitätsrisiken.

In der Rubrik Aus aktuellem Anlass wenden sich Reinald Koch, Dominika Langenmayr und Lena Schön (alle Eichstätt-Ingolstadt) der Gewerbesteuer zu. Sie zeigen, welche möglichen Wirkungen es auf das Steueraufkommen unterschiedlicher Gemeinden und Bundesländer hätte, wenn der Staat in Krisenzeiten, in denen er Unternehmen mit funktionierendem Geschäftsmodell durch die Ausweitung von Verlustrückträgen bei Einkommen- und Körperschaftsteuern unterstützen möchte, dieses Vorgehen auch auf die Gewerbesteuer übertrüge. Nicht zuletzt wird hier deutlich, dass die Gewerbesteuer einen fundamentalen Reformbedarf aufweist.

Anschließend erörtern Nadine Schlömer-Laufen, Annika Reiff und Rosemarie Kay (alle IfM, Bonn) kritisch die von der Bundesregierung geplante Einführung einer neuen Rechtsform für Unternehmen, der „Gesellschaft mit gebundenem Vermögen“ (GmbH-gebV), die am positiv besetzten Konzept des „Verantwortungseigentums“ anknüpft. Der nächste Schritt ist leicht vorherzusagen: eine zunehmende regulatorische Bevorteilung der GmbH-gebV mit Verweis auf ihre vermeintlichen Nachhaltigkeits- und Gemeinwohleigenschaften. In der Konsequenz wird dies den fairen Wettbewerb unterschiedlicher Rechtsformen nicht fördern, sondern vielmehr aushebeln.

Das Gespräch hat Karen Horn diesmal mit Monika Queisser geführt, der Leiterin der Abteilung Sozialpolitik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Es geht um Rentenreformen und um die Gleichstellung von Frauen – und auch um die spannende Karriere dieser deutschen Ökonomin innerhalb internationaler Institutionen. Auch in Zukunft werden wir von nun an in unregelmäßigen Abständen immer einmal wieder das Gespräch mit Ökonominnen und Ökonomen in bedeutenden Positionen außerhalb der universitären Welt suchen.

In der Rubrik Beiträge aus der Forschung widmen sich Lucas Bretschger und Matthias Leuthard (beide ETH Zürich) dem Thema der Kippdynamiken und warten mit dem vielleicht überraschenden Gedanken auf, dass man diese nicht nur fürchten muss, sondern sie im Gegenteil gezielt aktivieren könnte. Sie zu identifizieren und zu nutzen, wird dann zu einer zentralen politischen Herausforderung – und bietet einen Ausweg aus der Sackgasse, dass sich etablierte Funktionssysteme vielfach einer disruptiven Veränderung entziehen, was unter anderem die ökologische Transformation hemmt.

Edoardo Beretta (Lugano) zeigt sich befremdet, dass der seit 2022 zu beobachtende massive Anstieg der Verbraucherpreise weithin auf Überraschung stieß. In der Tat widersprach der Inflationsschub der Mehrheit der in den ersten beiden Jahren der Coronapandemie veröffentlichten Prognosen. Die Möglichkeit, dass sich infolge eines dramatischen, umfassenden, unerwarteten Ereignisses rapide Preissteigerungen ergeben, hätte nach Beretta mehr prognostische Aufmerksamkeit erfahren müssen.

Vor einem Jahr hatten Dirk Ehnts und Maurice Höfgen in diesem Heft unter dem Titel „Was ist Modern Monetary Theory?“ geschrieben, Staatsausgaben würden weder durch Steuern noch durch Staatsanleihen „finanziert“; vielmehr könne „der Staat als Schöpfer des Geldes […] Vollbeschäftigung erreichen“. Adrian Schröder (Münster) verdeutlicht nun in seiner kritischen Replik, dass der Staat zwar kein Problem hat, sich genügend liquider Mittel zu versichern, um seine Zahlungsverbindlichkeiten zu erfüllen – doch wäre es falsch, daraus zu schließen, er habe kein Finanzierungsproblem und könne Vollbeschäftigung garantieren.

Mit dieser Ausgabe wünsche ich Ihnen nun an dieser Stelle im Namen des gesamten Teams der Perspektiven einen guten Start mit neuem Schwung in das Jahr 2024, herzlichst

Ihr Christoph Schmidt

Online erschienen: 2023-12-01
Erschienen im Druck: 2024-01-03

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 29.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pwp-2023-0051/html
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