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„Hohe Renten kann man nicht herbeizaubern“

Ein Gespräch über die Mühsal von Rentenreformen und die Gleichstellung von Frauen – und über einen Karriereweg bis hin zur Leitung der Abteilung Sozialpolitik der OECD
  • Monika Queisser EMAIL logo
Published/Copyright: November 28, 2023

PWP: Frau Dr. Queisser, in Frankreich, wo Sie leben, hat die Regierung gewaltige Mühe gehabt, eine Rentenreform zustande zu bringen, und Präsident Emmanuel Macron hat sie schließlich am Parlament vorbei durchgedrückt. Warum war das alles so schwierig?

Queisser: Rentenreform ist überall schwierig und unbeliebt, aber in Frankreich ganz besonders. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Erklärungen, die politisch, wirtschaftlich und kulturell begründet sind; außerdem hat es auch mit der Struktur des französischen Rentensystems zu tun. Die Herabsetzung des Rentenalters auf 60 im Jahr 1980 war eine der ganz großen sozialen Errungenschaften der Mitterrand-Regierung, und jegliches Schrauben am Rentenalter ist daher extrem unbeliebt und wird als sozialer Rückschritt empfunden. Dazu kommt die Struktur des Systems. Das Rentensystem Frankreichs bindet den Rentenbezug an zwei Kriterien: an das Alter und die geleisteten Beitragsjahre. Wenn man nun das Alter nach oben verschiebt, bedeutet das, dass manche Leute länger arbeiten müssen, die dies gemäß der Zahl ihrer Beitragsjahre eigentlich nicht müssten – und die das auch nicht wollen. Das wird als sehr unfair empfunden. Hinzu kam, dass es vor der Pandemie schon einmal einen Plan zur Rentenreform gegeben hatte, der eine Erhöhung des Rentenalters explizit ausgeschlossen hatte. Die ursprüngliche Idee von Macron war, aus den sehr vielen verschiedenen Rentenkassen mit ihren ganz unterschiedlichen Regeln ein einheitliches System zu schmieden. Das fand auch in der Bevölkerung viel Anerkennung, stellte sich im Detail aber als sehr kompliziert heraus. Die jetzt verabschiedete Reform dagegen konzentriert sich fast ausschließlich auf die Steigerung des Rentenalters und die beschleunigte Erhöhung der notwendigen Beitragsjahre.

PWP: War das Renteneintrittsalter nicht auch besonders niedrig?

Queisser: Naja – in Zukunft jedenfalls kann man im allgemeinen Rentensystem jetzt nicht mehr vor dem Alter von 64 Jahren in Rente gehen. Es gibt nur noch ein paar Ausnahmen für bestimmte Berufsgruppen wie Soldaten und Polizisten, deren niedrigeres Rentenalter aber auch proportional erhöht wurde. Außerdem braucht man für eine abschlagsfreie Rente mindestens 43 Beitragsjahre. Wenn man diese nicht vorweisen kann und keine Abschläge hinnehmen will, muss man bis zum Alter von 67 Jahren weiterarbeiten – das heißt, es gibt in Frankreich zwei Rentenalter: 64 statt bisher 62 Jahre und 67 Jahre. So betrachtet ist zumindest jetzt das Rentenalter in Frankreich gar nicht mehr so niedrig. In Deutschland dagegen kann man weiter bei 35 Beitragsjahren im Alter von 63 Jahren in Rente gehen, aber mit Abschlägen.

PWP: Warum war das Ganze politisch so ein Drama, mit Streiks, Demonstrationen, Gewalt?

Queisser: Zum einen liegt es wie gesagt an der hohen Symbolkraft des Rentenalters in Frankreich. Zum anderen ist in Frankreich die Arbeitsmarktbeteiligung älterer Arbeitnehmer im internationalen Vergleich niedrig. So sind im Alter von 55 bis 64 Jahren nur 56 Prozent der Franzosen auf dem Arbeitsmarkt, im Vergleich zu 62 Prozent der Bevölkerung in allen Mitgliedsländern der OECD. Wenn das Rentenalter erhöht wird, fürchten sich deshalb viele vor Arbeitslosigkeit in späteren Jahren. Außerdem spielten bei den Protesten die Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle. Die Franzosen nehmen ihre Arbeitsbedingungen sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht als sehr viel schwieriger wahr als die Menschen in anderen Ländern, auch als in den Vereinigten Staaten. Das zeigt sich auch in den Daten von Eurofound, der EU-Agentur zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.[1] Diese Empfindung hat etwas mit körperlichen Belastungen zu tun, wie zum Beispiel dem Tragen von Lasten oder Schichtarbeit, aber auch mit dem Managementstil, mit dem Grad an Autonomie bei der Arbeit.

PWP: Das sind subjektive Einschätzungen.

Queisser: Ja, aber diese Subjektivität gilt für alle Länder, insofern kann man aus dem Ländervergleich schon ein Muster erkennen.

PWP: Aber es fehlt der Abgleich mit den objektiven Gegebenheiten. Es ist immerhin möglich, dass die Leute in einem Land leichter klagen als in einem anderen, rein mentalitätsbedingt – und ich kann mir kaum vorstellen, dass die objektiven Gegebenheiten in Frankreich schlechter sind als in Amerika.

Queisser: Das kann schon sein, und es gibt auch andere Studien, zum Beispiel von Claudia Senik von der Paris School of Economics[2], in denen sich zeigt, dass die Franzosen pessimistischer sind als andere Europäer und dass die Defizite im Wohlbefinden nicht unbedingt mit objektiveren Indikatoren zu belegen sind. Aber ich glaube trotzdem, dass man diese subjektiven Aussagen ernst nehmen sollte. Nehmen wir zum Beispiel den Managementstil: Das französische Bildungswesen ist im Vergleich zu anderen Ländern altmodisch, sehr von oben herab. Es bevorzugt frontales Lernen mit viel Reproduktion von auswendig Gelerntem, was Schülern wenig individuellen Spielraum lässt – und das schlägt sich dann eben später auch in der Arbeitswelt nieder. Ich denke, wenn wir wollen, dass die Menschen länger arbeiten, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie das auch können und möchten. Das wiederum setzt voraus, dass wir in der Ausgestaltung der Arbeitswelt sehr viel kreativer werden. Wir müssen genauer hinschauen und hinhören, was Arbeitnehmer und Arbeitgeber brauchen, und schon früh die Weichen entsprechend stellen. Wir brauchen da viel mehr Phantasie. Das gilt übrigens nicht nur für Frankreich.

PWP: Muss das vom Staat kommen?

Queisser: Aber nein. Das muss vor allem von den Unternehmen kommen. Und auch von den Arbeitnehmern selber. Ich wundere mich manchmal schon etwas, wenn sich Leute darüber beklagen, dass junge Menschen potenzielle Arbeitgeber zuerst danach befragen, was sie ihnen bieten können, wann sie das erste Sabbatical nehmen können und ob es Möglichkeiten zum Jobsharing gibt. Ich finde das gut, dass die jüngeren Generationen mehr auf Work-Life-Balance achten und auch dass sich junge Männer mehr am Familienleben beteiligen wollen. Das ist doch genau der richtige Weg zu mehr Partnerschaftlichkeit und besserer Verteilung von Sorgearbeit, das empfehlen wir bei der OECD unseren Mitgliedsländern schon seit 20 Jahren. Und wenn die jungen Leute ihre Wünsche in Bezug auf die Arbeitsbedingungen realisieren können, dann arbeiten sie vielleicht auch länger. Auch die Vorstellungen darüber, was sinnvolle und sinnstiftende Arbeit ist, wandeln sich – was übrigens auch ein sehr spannendes Forschungsthema ist. Und nicht nur das: die Arbeit verliert zusehends zumindest einen Teil ihrer traditionellen Rolle als sinnstiftendes Element im Leben, als Teil der Selbstidentifikation. Das ist nicht nur schlecht. Denn in den wenigsten Fällen kann der Beruf das tatsächlich leisten. Die darauf gesetzten Erwartungen werden häufig enttäuscht.

PWP: Frankreich steht mit seinen Mühen um die Rente nicht allein. Infolge der demographischen Entwicklung ist in vielen Ländern, auch in Deutschland, seit Jahrzehnten klar, dass wir in eine Unterfinanzierung der Rentensysteme hereinlaufen. Trotzdem tut sich politisch wenig, und in dem Maße, wie der Medianwähler älter wird, werden Reformen auch immer schwerer durchsetzbar.

Queisser: Ja, die Rente ist ein Dauerthema, und angesichts der Alterung der Bevölkerung gibt es leider keine magischen Lösungen. Das gilt für Deutschland, und es gilt für viele andere Länder. Das Rentenniveau für einen Standardrentner, das heißt für jemanden, der in seiner ganzen aktiven Arbeitszeit Beiträge auf ein Durchschnittseinkommen gezahlt hat, ist in Deutschland im OECD-Vergleich nicht sehr hoch. Das erklärt auch die politische Entscheidung, das Rentenniveau bei einer Einkommensersatzrate von 48 Prozent zu belassen, statt es wie früher vorgesehen auf 43 Prozent zu senken. Wenn man mit einem starken Alterungsprozess konfrontiert ist, hilft es natürlich sehr, wenn man wie die Schweiz, die Niederlande, Island oder auch Dänemark auf angesparte Reserven zurückgreifen kann. Aber das ist keine wirkliche Reformoption für Länder, die das in der Vergangenheit verpasst haben. Denen bringt es jetzt wenig, wenn man vorschlägt, sie sollten das System der Schweiz oder der Niederlande einführen. Dafür ist es ein bisschen spät.

PWP: Zu spät, um wenigstens teilweise damit anzufangen?

Queisser: Nein, es ist nie zu spät, wenn man von der langen Sicht ausgeht. Aber in einer Zeit, in der die Alterung der Gesellschaft sehr akut wird und die Babyboomer in Rente gehen, ist das besonders schwierig. Wenn viel Geld gebraucht wird, um die jetzt anstehenden Rentenansprüche zu finanzieren, ist es schwierig, gleichzeitig einen Kapitalstock aufzubauen. Das macht man besser in einer Situation, in der es weniger Rentner gibt und man die Beitragszahler nicht so stark belasten muss. Insofern ist jetzt wahrscheinlich einfach nicht der beste Zeitpunkt.

PWP: Wann sollte man es denn angehen?

Queisser: Es wäre einfacher zu warten, bis die Babyboomer-Generation durchgelaufen ist, und erst dann zu versuchen, einen Kapitalstock aufzubauen. Sonst muss man die Übergangsgeneration doppelt belasten, da Beiträge für die laufenden Renten und für das Ansparen notwendig sind. Deshalb wird das Ansparen für die Aktienrente, die ja jetzt mit jährlichen Einzahlungen von 10 Milliarden Euro starten soll, auch über Schulden finanziert. Aber für die Schulden fallen natürlich wieder Zinsen an, die auch von jüngeren Generationen bezahlt werden müssen, genauso wie die Rentenbeiträge. Die Idee ist, dass die Aktien höhere Renditen abwerfen und dass so langfristig die Rentenbeiträge gesenkt werden können. Aber 10 Milliarden, selbst jährlich, sind nicht sehr viel und ohne Risiko ist die Anlage in Aktien nicht, vor allem, wenn sie hohe Erträge erzielen soll. Insofern muss man das in der langen Frist betrachten. Ich erinnere mich noch gut an die Diskussion Mitte/Ende der neunziger Jahre, als auf dem Neuen Markt gute Erträge zu holen waren. Damals wünschten sich viele Mitglieder der jungen Generation, über ihre Beiträge selbst verfügen und sie am Markt investieren zu können, nach dem Motto „wir können das viel besser als der Staat“. Das ging so lange gut, bis der Neue Markt zusammenbrach. Dann waren alle doch froh, dass es das Umlageverfahren und damit Renten für die Zukunft gab.

PWP: Aber die Mischung verschiedener Säulen, mit umlagefinanzierter und kapitalgedeckter Vorsorge, sowohl öffentlich als auch privat ist doch ein gutes Modell, oder?

Queisser: Ja, in der Schweiz zum Beispiel ist ein Teil der Vorsorge obligatorisch auf betrieblicher Ebene verankert, wobei aber das Kapital vom Unternehmenskapital getrennt in Stiftungen angelegt ist. Auch in den Niederlanden gibt es eine quasi-obligatorische Alterssicherung auf Unternehmensebene. Kollektive Lösungen sind für das Alterssparen, das haben wir über die Zeit wirklich gelernt, besser als individuelle. In Schweden, das ja oft im Zusammenhang mit der Aktienrente als Beispiel für Deutschland genannt wird, zahlt jeder Bürger 2,5 Prozent seines Einkommens für das Ansparen einer Altersvorsorge auf ein individuelles Konto. Aber die Finanzdienstleister haben keinen direkten Kontakt mit den Sparern. Der Prozess läuft über eine Agentur, die nicht nur Gebühren und Rabatte mit den Finanzdienstleistern aushandelt, sondern auch für alle, die sich nicht groß mit einer Anlagestrategie befassen möchten, einen „Default fund“ anbietet. Das ist eine viel bessere Lösung für alle, die sich nicht mit der Investition befassen wollen oder können, und es spart Kosten. Damit ist es auch besser als das deutsche Riester-Modell, an dem vor allem die Finanzdienstleister verdient haben. Genau daran ist auch in vielen Ländern Osteuropas der Aufbau von Mehr-Säulen-Rentensystemen gescheitert – auch dort haben vor allem die Finanzdienstleister profitiert, nicht die Sparer. Die Ergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen zurück, und die Reformen wurden wieder rückgängig gemacht. Das institutionelle Setup ist sehr wichtig.

PWP: Die Verfassung der Finanzmärkte spielt dabei auch noch eine Rolle.

Queisser: Natürlich. Man muss das Glück haben, dass es keinen Crash gibt, und die Sparer müssen über den Lebenszyklus in sichere Anlagen wechseln, um das Kapital zum Zeitpunkt des Renteneintritts nicht zu gefährden. Grundsätzlich gilt: Hohe Renten kann man nicht herbeizaubern. Wenn man ein System haben will, das auskömmliche Renten produziert, dann muss auch viel Geld hineinfließen. Darum versuchen die meisten Länder derzeit, ältere Arbeitnehmer länger im Arbeitsmarkt zu halten. Das bringt mehr Beitragseinnahmen und reduziert gleichzeitig die Rentenausgaben. Allerdings ist auch klar, dass es aufgrund von Unterschieden in Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Lebenserwartung nicht für alle Arbeitnehmer möglich sein wird, länger zu arbeiten. In der OECD arbeiten wir viel zu diesem Thema und haben beispielsweise Lebenserwartungen und materielle Ungleichheit untersucht. In der Studie „Preventing Ageing Unequally“[3] haben wir uns angeschaut, wie sich die Ungleichheit von Gesundheit, Bildung und Beschäftigung über den Lebenszyklus entwickelt und verstärkt. Wichtig ist, diese Ungleichheiten so früh wie möglich anzugehen, das geht bereits bei der Kinderbetreuung und frühem Lernen los. Ab Alter 55 kann man im Grunde nicht mehr viel machen, um diese Ungleichheiten zu beseitigen. Auch der Gender gap zwischen Mann und Frau in den Renten ist enorm. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man wie in Deutschland ein Rentensystem mit enger Bindung der Leistungen an die Beiträge hat. Wenn man wegen der Kinder über lange Zeiten gar nicht oder in Teilzeit arbeitet, kommt am Ende eben wesentlich viel weniger Rente heraus. Hinzu kommt, dass alle OECD-Länder nach wie vor zum Teil beträchtliche Pay gaps zwischen Männern und Frauen haben. Die Kombination von geringeren Einkommen und kürzeren Arbeitszeiten führt zu niedrigeren Renten. Auch dafür gibt es kein perfektes Rentensystem, die Antwort liegt auf dem Arbeitsmarkt.

PWP: Sie hatten sich schon im Studium mit Rentensystemen befasst, insbesondere in Ihrer Diplomarbeit. Sie waren dafür damals in Singapur. Was war am dortigen Rentensystem für Sie interessant?

Queisser: Mich hat Rentenpolitik immer schon fasziniert, zumal so viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielen: ökonomische, soziale, finanzielle, politische und kulturelle. Was in einem Land für gute Alterssicherung gehalten wird, wäre in einem anderen Land nicht akzeptabel. Viele europäische Länder haben eine lange Tradition von solidarischer Sozialversicherung, während Australien und Neuseeland zum Beispiel keinerlei Sozialversicherung kennen und hauptsächlich auf private Alterssicherung setzen. Die staatlichen Renten in Australien sind dagegen bedürftigkeitsgeprüft. Das System in Singapur fand ich extrem spannend. Es besteht ausschließlich aus individuellen Alterskonten. Es wurde damals jedoch wirtschaftspolitisch nicht nur für die Altersvorsorge eingesetzt, sondern auch zur Förderung von Wohneigentum: Die Bürger konnten das angesparte Geld von ihrem Alterskonto abziehen, um vom Staat erstellte Wohnungen zu kaufen, was als eine andere Form von Alterssicherung angesehen wurde. Außerdem hat die Regierung das System bewusst eingesetzt, um Arbeit zu verteuern. Man hatte sich ausgerechnet, dass man als kleines Land mit geringer Bevölkerungszahl nur dann eine Chance auf den Weltmärkten hat, wenn man sich auf eine hochwertige Produktion spezialisiert. Um solche Aktivitäten ins Land zu ziehen, ist es notwendig, die Menschen gut auszubilden, und dann bekommt man auch Investoren, die hohe Löhne zahlen. Im singapurischen Rentensystem betrug der Beitragssatz deshalb zeitweilig bis zu 50 Prozent, je hälftig zu entrichten vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer. Das Geld fließt in den staatlich verwalteten „Central Provident Fund“ – eine Einrichtung, die es in vielen ehemaligen englischen Kolonien gab.

PWP: Lassen Sie uns nun das Thema wechseln und zur Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt kommen – ein Feld, auf dem Wissenschaft wie auch Politik der diesjährigen Nobelpreisträgerin Claudia Goldin viel verdanken.

Queisser: Ja, was für eine großartige Nachricht, dass Claudia Goldin für ihre bahnbrechenden Arbeiten zur Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt ausgezeichnet wurde! Das ist mehr als verdient. Und es ist ein wirklich wichtiges Signal, dass die geschlechtsspezifische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt sowie die Entstehung von Gehaltslücken endlich hoch auf der Agenda stehen, in der Forschung wie auch als politische Herausforderungen.

PWP: Die OECD hat im Jahr 2009 eine „Gender-Initiative“ lanciert. Worum ging es da genau, was waren die Ziele, und was hat sich seither getan?

Queisser: Die Gender-Initiative der OECD begann auf Betreiben der damaligen amerikanischen Botschafterin bei der OECD, Karen Kornbluh. Zunächst ging es erst einmal ganz schlicht um die Bereitstellung von Daten und um das Skizzieren von Politikansätzen auf einem Feld, das lange überhaupt nicht ernst genommen worden war. Die verschiedensten Abteilungen der OECD arbeiteten damals zusammen, weil das Thema im Haus noch nirgends fest verankert war und es damals noch nicht zur Chefsache gemacht wurde. Das machte die Sache besonders interessant; und wir flogen als Team sozusagen unter dem Radar und hatten viel Freiheit in unserer Arbeit. Heute ist das Thema in der OECD ganz oben angesiedelt. Die verschiedenen Generalsekretäre haben alle verstanden, wie wichtig es für die Mitgliedsländer ist. Erst jüngst hat die OECD eine „Gender strategy“ verabschiedet. Das ist sehr wichtig, weil wir in vielen Ländern leider derzeit eine Trendumkehr beobachten.

PWP: Sie sagen, es ging erst einmal um Daten.

Queisser: Damals wurde in der ökonomischen Gender-Diskussion mit allen möglichen Zahlen hantiert. Sie stammten beispielsweise von Unternehmensberatungen, die behaupteten, dass das globale BIP um soundso viele Trillionen Dollar zulegen würde, wenn Frauen gleichgestellt wären und ihre Arbeitsmarktbeteiligung entsprechend zunähme. Es war aber nicht klar, wie diese Zahlen genau berechnet worden waren. Ich dachte mir damals, die OECD könnte solche Berechnungen auf eine systematische Grundlage stellen, mit der Hilfe unserer Wachstumsmodelle. Als dann die Daten erhoben, bereitgestellt und mit Hilfe unserer relativ einfachen Input-Output-Modelle analysiert waren, hat sich viel verändert.

PWP: Was denn?

Queisser: Einer der größten politischen Erfolge war, dass diese Modelle zur Definition des sogenannten „Brisbane Target“ führten, das die Staatschefs aller G20-Länder unter australischer Präsidentschaft 2014 beschlossen haben. Dieses Ziel ist, die Lücke in der Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen in allen G20-Ländern bis zum Jahr 2025 um 25 Prozent zu reduzieren. Zusammen mit der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation, machen wir ein jährliches Monitoring, das zeigt, wie weit die Länder auf dem Weg in Richtung dieses Ziels vorangekommen sind.

PWP: Welches Bild ergibt sich heute mit Blick auf das Brisbane Target, kurz vor Ablauf der Frist?

Queisser: Als das Ziel beschlossen wurde, war klar, dass es für einige Länder recht einfach zu erreichen sein würde, aber schwerer für andere mit großen Unterschieden in der Arbeitsmarktbeteiligung, zum Beispiel Indien, Indonesien und Saudi-Arabien. Die Pandemie hat zunächst das Erreichen des Ziels schwieriger gemacht, zumal sie in vielen Ländern zum Rückzug von Frauen vom Arbeitsmarkt geführt hat. Aber nachdem sich die Arbeitsmärkte in vielen G20-Ländern relativ schnell erholt haben, ist die Situation heute wieder ähnlich wie vor der Pandemie. Wir berechnen, welche jährlichen Fortschritte in jedem Land zur Erreichung des Brisbane-Ziels notwendig sind, und vergleichen diese dann mit der tatsächlichen Entwicklung. Die Zahlen von 2022 zeigen, dass 12 von 20 G20-Ländern auf einem gradlinigen Pfad zur Zielerreichung sind, darunter zum Beispiel Saudi-Arabien, Japan, Korea und auch Deutschland. Weiter entfernt sind dagegen Indien, die Türkei, Mexiko und Indonesien. Aber auch Italien und die Vereinigten Staaten müssen die Lücke schneller schließen, wenn sie das Ziel erreichen wollen.

PWP: Neben der Arbeitsmarktbeteiligung ist die Entlohnung ein wichtiger Aspekt der Gleichstellung von Frauen. Wie entwickelt sich denn der „Gender pay gap“ über die OECD-Länder hinweg?

Queisser: Der Gender pay gap ist zwar in den letzten Jahren gefallen, bleibt aber hartnäckig bestehen. Im OECD-Durchschnitt steht er beim Medianeinkommen bei 11,9 Prozent und reicht von nur 1,2 Prozent in Belgien bis zu 31,2 Prozent in Korea; in Deutschland steht er bei 13,7 Prozent. Die Gründe sind vielfältig: Frauen studieren und arbeiten in anderen Gebieten, die oft geringer entlohnt werden, sie arbeiten weniger in bezahlter Arbeit, und sie kommen weniger oft in Führungspositionen als Männer.

PWP: Das liegt wahrscheinlich immer noch daran, dass Frauen mitunter für eine gewisse Zeit aussetzen, wenn Kinder kommen, oder?

Queisser: Genau, die „Motherhood penalty“ oder auch „Child penalty“, wie es in der ökonomischen Literatur heißt. Es ist immer dieselbe Geschichte: Vor der Ankunft eines Kindes teilen sich Paare in den meisten Ländern bezahlte und unbezahlte Arbeit viel egalitärer. Wenn ein Kind kommt, geht die Schere auf: Frauen arbeiten weniger bezahlt und dafür viel mehr Stunden unbezahlt zuhause. Bei Männern ist das genau umgekehrt. Natürlich sind das immer private Entscheidungen und man sollte nicht behaupten, Familie und Beruf, geschweige denn Karriere, ließen sich so ohne weiteres vereinbaren. Der Punkt ist auch nicht, dass alle ohne Rücksicht auf die Familiensituation durcharbeiten sollten. Vielmehr sollte es mehr Partnerschaftlichkeit geben. Wenn auch Väter mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufwenden, haben Frauen am Arbeitsplatz weniger Nachteile. Was die Gründe für den Pay gap in Unternehmen betrifft, so haben wir jetzt für eine ganze Reihe von Ländern Zugang zu einem neuen Datensatz, der „Linked Employee-Employer Data Base“[4]. Wir haben uns damit für Deutschland angesehen, wie Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen mit ähnlicher Bildung und Kompetenz in Unternehmen zustande kommen. Dabei hat sich gezeigt, dass der größte Teil der Unterschiede nicht zwischen den Unternehmen besteht, sondern innerhalb einzelner Unternehmen. Frauen haben in diesen Unternehmen in der Regel andere Funktionen und Tätigkeiten als Männer.[5]

PWP: Die skandinavischen Länder bekommen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser hin.

Queisser: Ja, diese Länder sind traditionell „Best performers“. In unserer Studie „Is the Last Mile the Longest?“[6] haben wir im Auftrag des Nordic Council of Ministers trotzdem noch einmal untersucht, wie sich die Gleichstellung in diesen Ländern, obwohl sie schon sehr weit gekommen sind, weiter verbessern ließe. Es hat sich gezeigt, dass trotz recht egalitärer Arbeitsmarktbeteiligung auch in den nordischen Ländern die Arbeitsstunden ungleich verteilt sind, weil mehr Frauen als Männer Teilzeit arbeiten.

PWP: Und was die Lohn- und Gehaltsunterschiede angeht?

Queisser: Da steht im Moment noch kein Land richtig gut da, auch keines der nordischen Länder. In Schweden steht der Gender pay gap immer noch bei 7,2 Prozent. Interessant ist Island; dort sucht man derzeit verstärkt durch eine neue Jobklassifizierung, also durch größere Entgelttransparenz, die Diskriminierung in den Unternehmen abzubauen. Für jeden einzelnen Job wird im Detail definiert, welche Fähigkeiten und Erfahrung gebraucht werden, damit auch für die Entlohnung nur diese zählen, ganz egal, wer diesen Job macht, Mann oder Frau, jung oder alt. In diese Richtung gehen inzwischen auch viele andere Länder, um von der hergebrachten Konfrontation zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt wegzukommen. Es wäre schön, wenn man es hinbekäme, auf diese Weise auch noch andere Diskriminierungsfaktoren auszublenden, zum Beispiel Nationalität, Migrationshintergrund oder auch Behinderung. So könnte man eine viel inklusivere Arbeitswelt schaffen.

PWP: Arbeitgeber würden Ihnen jetzt wahrscheinlich entgegnen, dass man das doch gar nicht so statisch betrachten kann, dass sie ihre Mitarbeiter vielmehr über die Zeit entwickeln, fortbilden, in Laufbahnen aufbauen – und dass die Homogenität der Arbeitskraft, die solche Jobklassifikationen unterstellen, in der Realität gar nicht gegeben sei.

Queisser: Genau das ist der Punkt. Jeder Job im Unternehmen wird klassifiziert. Wenn es dann um eine Beförderung auf die nächste Stufe geht, müssen die Arbeitgeber ganz neutral prüfen, wie die Anforderungen und die Qualifikationen der Bewerber für diese Stelle zusammenpassen – ohne Rücksicht auf Geschlecht oder andere Merkmale.

PWP: Was muss passieren, damit es mit der Gleichstellung schneller vorangeht?

Queisser: Ich denke, der Fachkräftemangel in Deutschland und in vielen anderen Ländern wird die Situation verbessern, zumal Arbeitgeber attraktivere Angebote schaffen müssen, um Personal anzuwerben, das heißt mehr Zeitflexibilität, vor allem zur Vereinbarung von Arbeit, Kinderbetreuung und Pflege. Wir brauchen aber auch einen Kulturwandel; die sozialen Normen halten sich hartnäckig. Ich lebe seit fast 30 Jahren in Frankreich und finde die Unterschiede zu den Nachbarländern Deutschland, Österreich und Schweiz in der Einstellung immer wieder erstaunlich. Die „Fremdbetreuung“ – schon allein der Begriff spricht Bände – der eigenen Kinder wird vielfach als problematisch angesehen. Wenn auch heute niemand mehr von „Rabenmüttern“ spricht, ist die Idee doch noch in vielen Köpfen vorhanden. Aber zur Gleichstellung braucht es mehr als Familienpolitik. Ein Thema, das uns im Moment sehr beschäftigt, ist die Dynamik der klassischen Männer- und Frauenberufe, wo sich immer noch trotz aller Bemühungen, Frauen in MINT-Berufe zu bringen, zu wenig tut. Dadurch verpassen Frauen viele Chancen, an dynamischen Sektoren mit besserer Karriere- und Gehaltsentwicklung teilzunehmen. Und im Gegenzug brauchen wir auch mehr Männer in klassischen Frauenberufen, zum Beispiel in den Schulen, in der Kinderbetreuung und auch in der Pflege, wo in allen Ländern der OECD zusammengenommen rund 90 Prozent der Beschäftigten Frauen sind. Und für mich ist es ein Skandal, dass Frauen sogar im Pflegesektor, wo sie in überwältigender Mehrheit sind, weniger verdienen als Männer, die denselben Job machen. Und wie anderswo sind Frauen auch in der Pflege weniger oft in Führungspositionen.

PWP: Die Bezahlung und Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals sind in der Coronapandemie schon sehr in den Vordergrund gerückt worden.

Queisser: Ja, und das ist gut so. Aber applaudieren allein genügt nicht. Wir haben kürzlich eine Studie zum Pflegesektor angefertigt[7], in der wir untersuchen, wie die Bezahlung, die Arbeitsbedingungen und die Berufsentwicklung in diesem Bereich verbessert werden können. Denn in sehr vielen OECD-Ländern werden trotz großer Nachfrage und Pflegenotstand sehr geringe Löhne bezahlt und für die Beschäftigten sind es oft „Dead-end jobs“. Der Stundenlohn für Pfleger ist über alle Mitgliedsländer der OECD betrachtet 12 Prozent niedriger als der Lohn, den diese Beschäftigten in anderen Sektoren, und 8 Prozent niedriger als der Lohn, den sie im Krankenhaus verdienen könnten. Da muss man sich nicht wundern, wenn die Leute in solchen Berufen oft nur wenige Jahre arbeiten und dann in ein anderes Metier wechseln. Aber wir haben uns in der Gesellschaft noch nicht Rechenschaft darüber abgelegt, was uns die Pflege wert ist und wert sein sollte. Wer bestimmt eigentlich, dass die Arbeit eines Ingenieurs so viel mehr wert ist als die eines Pflegers? Das Argument ist natürlich, dass die Produktivität niedrig ist, aber sollte der gesellschaftliche Nutzen nicht auch zählen? Einige OECD-Länder haben deshalb in den letzten Jahren Initiativen zur wirtschaftlichen und sozialen Aufwertung der Pflege ergriffen. In Deutschland hatten wir ja auch den Pflegepakt als gemeinsame Aktion der Gesundheits-, Arbeits- und Familienminister – das ist ein gutes Beispiel, wie man das Thema fachübergreifend angehen kann.

PWP: Welche Spuren hat speziell die Coronapandemie in der Arbeitsmarktbeteiligung und der Entlohnung von Frauen hinterlassen?

Queisser: Die Pandemie hat Frauen in vielerlei Hinsicht anders als Männer betroffen. Erstens waren viele der systemrelevanten Jobs vor allem weiblich: Krankenschwestern, Pflegerinnen, Reinigungskräfte und andere Berufe, die trotz Lockdowns weiterarbeiteten und großen Infektionsrisiken ausgesetzt waren. Zweitens waren viele Jobs von Frauen durch Lockdowns betroffen, in Einzelhandel, Gastronomie und Tourismus; nicht alle waren durch Coronahilfsprogramme abgedeckt. Unsere Umfrage „Risks that Matter“[8] hat außerdem gezeigt, dass Mütter fast überall den größten Teil der zusätzlichen unbezahlten Arbeit zuhause geleistet haben. Allerdings muss man auch sagen, dass sich mittlerweile auf dem Arbeitsmarkt keine besonderen coronabedingten Nachteile für Frauen mehr zeigen. Im Gegenteil, in manchen Ländern sehen wir sogar eine stärkere Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen als vor der Pandemie und es gibt Anzeichen, dass es auch eine Verlagerung von Niedriglohnjobs in qualifiziertere Tätigkeiten bei den Frauen gegeben hat.[9]

PWP: Die OECD ist für viele Wissenschaftler nicht nur auf diesem Themenfeld eine wichtige Datenquelle. Wie erstellen Sie Ihre Datensätze, die Sie ja auch selbst für Studien nutzen?

Queisser: Wir nutzen verschiedene Methoden. Für unsere „Social Expenditure Database“[10], zum Beispiel, greifen wir im Fall der europäischen Länder auf Daten von Eurostat zurück, aber die Daten der anderen Länder müssen wir einzeln einsammeln und dann harmonisieren, zumal die Sozialprogramme der verschiedenen Länder unterschiedlich ausgestaltet und nicht immer 1:1 vergleichbar sind. Das ist kompliziert und braucht viel Zeit, und es führt mitunter dazu, dass manche Länder sich wundern, wenn unsere Zahlen etwas anders sind als was sie geliefert haben. Was die qualitativen Daten angeht, sammeln wir viele davon auch selber, ganz klassisch über Fragebögen, oder wir bitten unsere Mitgliedsländer, bestehende Länderprofile zu aktualisieren, zum Beispiel für unsere regelmäßige Publikation „Pensions at a Glance[11]. Übrigens hat sich dieses Datensammeln auch intern, im Gefüge der OECD-Abteilungen, als hilfreich erwiesen. Bevor wir das in der Abteilung Sozialpolitik systematisch machten, wurden wir oft nicht so richtig gehört. Aber mit Hilfe guter Daten und quantitativer Evidenz hat man bessere Argumente. Sozialpolitiker sind heute nicht mehr nur die Gutmenschen, die nett zu den Armen sein wollen, ohne dass ihre Vorschläge ökonomisch tragbar wären. Heute können Sozialpolitiker zeigen, welche Art von Sozialpolitik ökonomisch wirklich Sinn ergibt.

PWP: Lassen Sie uns noch über Ihren eigenen spannenden Karriereweg sprechen. Sie haben in den neunziger Jahren, nach Abschluss Ihrer Promotion, zunächst einige Jahre bei der Weltbank in Washington gearbeitet. Wie kam das?

Queisser: Ich arbeitete damals im ifo Institut in der Abteilung Entwicklungsländer und hatte auf einer Konferenz in Budapest Mitarbeiter von der Weltbank getroffen, die mir rieten, mich dort als „Young Professional“ zu bewerben. Ich hielt das erst für eine Art Praktikum, aber ich wurde rasch aufgeklärt, dass das ein sehr gutes Einstiegsprogramm und die interne Kaderschmiede für eine Karriere in der Weltbank sei. Dann habe ich mich also beworben und wurde auch genommen. Ich hatte aber Vorbehalte. Ich hatte mich im ifo Institut schon intensiv mit Strukturanpassungen in Entwicklungsländern befasst und war mir gar nicht sicher, dass ich Teil davon sein wollte. Andererseits dachte ich mir: Es ist schwierig, in die Weltbank zu gelangen, und wenn man die Möglichkeit bekommt, kann man es sich von innen genauer ansehen – man muss ja nicht auf ewig bleiben. So kam es dann auch.

PWP: Wie schwierig war es, in das Programm aufgenommen zu werden?

Queisser: Normalerweise wurden die Young Professionals vor allem aus internationalen Elite-Universitäten rekrutiert, vor allem Ivy League und Oxbridge. Aber Anfang der neunziger Jahre suchte man in der Weltbank vor dem Hintergrund der Transformation Osteuropas nicht nur mathematisch geschulte, quantitativ arbeitende Ökonomen, sondern auch Leute wie mich, die verstanden, wie sozialpolitische Institutionen funktionieren. Die Länder Osteuropas hatten riesige Sozialversicherungen, die es zu reformieren galt, und dafür brauchte man auch in der Weltbank Expertise. In den Vereinigten Staaten fand man diese Expertise nicht so leicht; klassisch ausgebildete deutsche Volkswirte brachten sie hingegen schon eher mit. In unseren Young-Professionals-Jahrgang wurden außerdem auch Ärzte, Agrarwissenschaftler und Ingenieure aufgenommen – eben Leute mit ganz verschiedenen fachlichen Hintergründen. Das war für mich besonders interessant, und es zeigt auch, dass der Weltbank damals schon dämmerte, dass man Sozialsysteme nicht nur mit fiskalpolitischen Experten und Ökonometrikern reformieren kann. In diesem Kompetenzmix war auch eine etwas atypische, formal politikwissenschaftlich promovierte Ökonomin gefragt, und im Alltag geht es dann in den Weltbank-Projekten ohnehin sehr praktisch zu.

PWP: Und wie haben Sie dann die Weltbank aus der Binnenperspektive erlebt? Was wurde aus Ihren Vorbehalten?

Queisser: Ich habe das vier Jahre lang gemacht, und es war eine unglaublich interessante Zeit. Aber ich habe mir schon viele Fragen gestellt, was den sogenannten Washington Consensus betraf.

PWP: Also das von IWF und Weltbank damals von überschuldeten Ländern geforderte Bündel an Strukturanpassungsmaßnahmen, von der Drosselung der Staatsausgaben, der Privatisierung, der Währungsabwertung, der Handelsliberalisierung bis hin zur Marktderegulierung.

Queisser: Ja. Heute ist die Bank in dieser Hinsicht längst nicht mehr so dogmatisch, sondern viel selbstkritischer und auch pragmatischer. Doch wenn man damals beispielsweise in Afrika arbeitete und sah, dass die Strukturanpassung so läuft, dass man im Prinzip Gründe sucht, um beispielsweise einem Land 100 Millionen Dollar zu geben – ein Betrag, der festgelegt wurde, nachdem sämtliche Geberländer ihre Zusage gegeben hatten, wobei aber klar war, dass fast alles davon gleich nach Eingang an den Londoner Club, das heißt die Banken, bei denen das Land verschuldet war, überwiesen würde –, dann konnte man damit nicht glücklich sein. Ich habe damals aus erster Reihe beobachtet und gelernt, wie dieses internationale Finanzsystem funktioniert, und ich kann nicht sagen, dass ich begeistert war von dem, was ich sah. Selbst wenn ich mit etwas betraut war, wo ich mich als frisch Promovierte mit gerade einmal 30 Jahren zwar ganz gut auskannte, nämlich ein Rentensystem für ein Land zu entwerfen, dann fand ich das trotzdem ein bisschen …

PWP: … vermessen?

Queisser: Ja, vermessen, und unverantwortlich. Gegen einigen Widerstand bei der Weltbank hatte ich aber schließlich das Glück, mit einigen Mitarbeitern der ILO zusammenarbeiten zu können, die viel praktische Erfahrung mit Afrika und mit der Administration sozialer Sicherung hatten. So haben wir dann unsere Rentenreformen hinbekommen. Aus der Binnenperspektive wird einem dabei allerdings auch klar, dass es von außen immer so aussieht, als ob die Weltbank extrem viel Macht hat, aber am Ende machen die Länder natürlich das, was sie können und was sie wollen. Damals pushte die Weltbank allerorten Rentenreformen stark, auf Basis des chilenischen Beispiels mit seinem voll privatisierten Modell individueller Sparkonten. Die Rentenreformen in Ungarn und Polen zum Beispiel wurden stark von der Weltbank beeinflusst. Man war der Meinung, dass dieses Modell, wo der Kapitalstock nicht vom Staat, sondern von privaten Finanzdienstleistern verwaltet wird, sowohl für die Alterssicherung als auch für den Aufbau eines nationalen Finanzmarkts eine gute Idee sei und dass man so mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen könnte.[12] In Deutschland kam das seinerzeit ganz schlecht an. Die Suggestion, dass alles, was staatlich sei, nicht funktioniere, sorgte mächtig für Ärger. Die Rentenversicherung in Deutschland funktioniert, ist nicht korrupt, und die Verwaltungskosten sind extrem niedrig. Die Weltbank war zwar gar nicht darauf aus, das deutsche Rentensystem zu reformieren, aber in Deutschland nahm man derlei persönlich.

PWP: Was war der entscheidende Grund, dass Sie die Weltbank nach vier Jahren wieder verließen? Waren es diese Einsichten aus der Binnenperspektive?

Queisser: Zum einen hatte ich Heimweh nach Europa. Zum anderen hatte ich in der Tat nach wie vor Differenzen mit dem, was wir in der Weltbank machten. Ich hatte auch den Eindruck, dass ich häufig in Ländern unterwegs war, deren kulturellen und politischen Kontext ich einfach nicht gut genug verstand, um gute Beratung zu leisten. Und noch etwas kam dazu: Damals herrschte in der Weltbank die Atmosphäre, dass eine Frau, die aufsteigen will, härter sein muss als ein Mann. Und so waren die Frauen auch, die dort aufgestiegen waren. Sie waren alle Kämpferinnen, wie das oft in dieser Generation war. Aber mir war klar, dass ich das nicht wollte. Viele der Frauen, die es in der Weltbank zu etwas gebracht hatten, waren entweder geschieden oder alleinstehend, die wenigsten hatten Kinder. Es war noch die Zeit, wo man als Frau alles geben musste, um sich durchzusetzen.

PWP: Wie war denn der Umgang der Männer mit den Frauen in der Weltbank?

Queisser: Es war schon eine Machokultur, ohne dass viel darüber nachgedacht wurde. Gender equality war noch überhaupt kein Thema. Trotzdem waren meine besten Mentoren nicht etwa die Frauen, die ich als Vorgesetzte erlebte, sondern die Männer. Wir alle im Team sind im Übrigen auch wahnsinnig viel gereist; ich habe das für mich einmal durchgezählt und gesehen, dass ich zwei Drittel des Jahres nicht zuhause in Washington war. Schon allein das machte ein Privatleben schwierig. Von „Work-Life-Balance“ war keine Rede. So wollte ich nicht auf Dauer leben, und begann mich ein wenig umzuschauen.

PWP: Sie wurden in Paris fündig, im Development Center, der Abteilung Entwicklungsforschung bei der OECD.

Queisser: Ja, und das Jobinterview dort war eines der schwierigsten, die ich je hatte. Das war ein Parforce-Ritt durch die verschiedensten entwicklungspolitischen Themen, Währungspolitik in Argentinien, Agrarpolitik in Afrika, Transformation staatseigener Unternehmen in Osteuropa. Ich bekam den Job und schrieb dann erstmal eine Studie über die zweite Generation, das heißt post-Chile, der Rentenreformen in Lateinamerika. Das hat Spaß gemacht, weil ich so meine praktisch gesammelten Erfahrungen systematisieren und zu Papier bringen konnte.

PWP: Sie sind heute Abteilungsleiterin bei der OECD. Wie steigt man in diese Etage auf?

Queisser: Innerhalb der OECD aufzusteigen, ist nicht einfach – aber nicht, weil es Frauen dort generell schwer hätten. Nach meiner Erfahrung ist der Umgang mit Frauen dort im Gegenteil viel besser und unterstützender, als ich es an der Weltbank erlebt habe. Dabei mag mir geholfen haben, dass ich mich schon sehr früh im Studium auf etwas extrem Technisches spezialisiert habe. Rentenpolitik ist an sich ja nicht besonders kompliziert; es geht nur um Geld, wie es hereinkommt und wohin es dann wieder fließen soll. Gesundheitspolitik mit vielen verschiedenen Akteuren wie Versicherungen, Ärzten, Krankenhäusern, der Pharmaindustrie etc. ist zum Beispiel viel komplizierter. Aber die wenigsten Leute kennen Rentensysteme im Detail. Wenn man dann als junge Frau am Tisch sitzt und solche Details erklärt, bekommt man keinen Widerspruch, weil es selten einer besser weiß. So erntet man dann auch rasch Respekt. Deswegen rate ich auch jungen Frauen, die in die wirtschaftspolitische Forschung und Beratung streben, dass sie sich darum bemühen sollten, irgendetwas richtig gut zu können – möglichst etwas, womit sie eine technische Nische besetzen. Nicht alle ökonomischen Nachwuchskräfte müssen Spitzentheoretiker werden, aber ein Spezialgebiet, in dem man sich richtig gut auskennt, braucht man schon. Und mit dieser Expertise darf man dann auch nicht hinter dem Berg halten, sondern muss sie laut verkünden, ganz selbstbewusst.

PWP: Und warum war es, wie Sie sagen, gar nicht so einfach, in der OECD aufzusteigen?

Queisser: Die Herausforderung war die sehr flache Hierarchie der OECD: Es gibt nicht viele Führungspositionen. Wie überall ist für den Aufstieg auch Mobilität wichtig, aber es ist nicht so einfach, in andere Abteilungen zu wechseln, wenn man Experte für ein bestimmtes Gebiet ist. Ein Weg nach oben kann sein, für eine Weile ins Kabinett zu wechseln und so eine breitere Sicht auf die gesamte Organisation zu bekommen. Meine Mentorin – die OECD hatte damals schon Mentoringprogramme, und um mich kümmerte sich eine Frau – schickte mich also dort hin. Die Arbeit im Kabinett ist sehr interessant, aber auch sehr anstrengend, 24/7. Damals war das Kabinett noch klein. Es bestand neben dem Generalsekretär Angel Gurría – einem Mann mit einem ungeheuren Energielevel, der zuvor in Mexiko Außenminister und Finanzminister gewesen war – aus dem Büroleiter und seiner Stellvertreterin, vier oder fünf Beratern und dem Redenschreiber. Es war toll: Wenn Gurría von spannenden Leuten Besuch bekam, die man gern auch einmal erleben wollte, dann durfte man oft mit im Raum sitzen. Als dann aber die Abteilungsleitung Sozialpolitik frei wurde, bewarb ich mich im Zuge der Ausschreibung darum und bekam den Posten. Die Zeit im Kabinett war dafür eine zusätzliche Qualifikation.

PWP: Worin besteht heute Ihre Arbeit als Abteilungsleiterin konkret?

Queisser: In dieser Position forscht man nicht mehr viel selbst, rechnen müssen andere. Aber man stellt Fragen und konzipiert Forschungsprojekte, man editiert das zusammengetragene Material, und nicht zuletzt kümmert man sich um das Personal. Derzeit arbeiten in meiner Abteilung etwa 30 Leute, aufgeteilt auf verschiedene Teams, die jeweils von ausgezeichneten Senior Economists geleitet werden. Dort findet die Datenanalyse statt, laufen Missions, werden Berichte geschrieben. Ich muss sehen, dass das alles zusammenpasst, dass Fristen eingehalten werden, dass die Teams gut funktionieren, und natürlich auch repräsentieren. Ich empfinde es grundsätzlich als meine Aufgabe, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Leute trauen, zu mir zu kommen und zu sagen, wenn der Schuh irgendwo drückt. Außerdem kümmere ich mich natürlich auch um das Fundraising – das ist oft sehr sportlich; damit verbringe ich sehr viel Zeit.

PWP: Ach, wirklich?

Queisser: Ja, wirklich. Für meinen Bereich muss ich mindestens zwei Drittel an freiwilligen Zuwendungen einwerben; nur ein Drittel der Mittel habe ich gesichert als fixes Budget, welches von den Mitgliedsländern kommt. Deren Beiträge werden in Abhängigkeit von der jeweiligen Wirtschaftskraft berechnet, zuzüglich eines Festbetrags. Dieses Budget wird dann gemäß den Prioritäten der Mitgliedsländer auf die Organisation verteilt. Freiwillige Beiträge, sozusagen Drittmittel, bekommen wir von den einzelnen Ländern für Projekte, an denen sie besonders interessiert sind, und auch von der EU-Kommission im Wege der Auftragsvergabe.

PWP: Könnten Sie bitte ein paar konkrete Beispiele für solche Aufträge nennen?

Queisser: Eine relativ neue Entwicklung sind Aufträge, die wir von der Generaldirektion „Reform“ bei der EU-Kommission bekommen; deren Aufgabe ist es, EU-Ländern bei der Implementierung wirtschaftspolitischer Reformen zu helfen. In diesem Rahmen beraten wir verschiedene Länder direkt, zum Beispiel mit Blick auf die Harmonisierung von Sozialleistungen in Spanien, bei der Rentenreform in Slowenien, der Gleichstellung im Arbeitsmarkt in Ungarn oder bei der Förderung älterer Arbeitnehmer in Litauen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Derzeit arbeiten wir auch an einer Studie zur Digitalisierung der sozialen Sicherung im Auftrag von Südkorea. Auch das deutsche Familienministerium hat uns schon viele Projekte gegeben, zum Beispiel zu den Themen Entgelttransparenz, haushaltsnahe Dienstleistungen und Gewalt gegen Frauen. Die norwegische Regierung wiederum hat uns vor kurzem gebeten herauszufinden, weshalb trotz einer doch eigentlich recht generösen Familienpolitik die Fruchtbarkeit im Land so stark abgenommen hat. All das ist inhaltlich sehr spannend und macht viel Spaß, vor allem weil man weiß, dass es für diese Studien auch wirklich Interesse in den jeweiligen Ländern gibt.

Das Gespräch führte Karen Horn. Monika Queisser wurde von Max Kratzer fotografiert, Karen Horn von Johannes Ritter.

Zur Person

Monika Queisser: Sozialpolitik, Rente, Gleichstellung

Karen Horn

Monika Queisser, 1963 im kalifornischen Palo Alto geboren, war von Haus aus alles andere als auf die Wirtschaftswissenschaften abonniert. Ihr Vater ist der Physiker Hans-Joachim Queisser; er war im Jahr 1959 in die Vereinigten Staaten gekommen, wo er im später so genannten Silicon Valley zu Solarzellen und Halbleitern forschte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er Professor an der Universität Frankfurt und wurde wenig später einer der Gründungsdirektoren des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung in Stuttgart. Die Mutter entstammt einer Ingenieursfamilie aus Mecklenburg. Monika Queissers Brüder sind Ingenieur und Chemiker geworden. „Ich bin die einzige Abtrünnige in der Familie“, sagt sie.

Für ein wirtschaftswissenschaftliches Studium entschied sie sich nach dem Abitur in Stuttgart 1982 erst einmal nur, „weil man sich damit viele Türen offenhält“. Eigentlich hatte sie die Betriebswirtschaftslehre im Blick, bekam dann aber von der damals zuständigen Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) einen Studienplatz für Volkswirtschaftslehre an der LMU München zugewiesen. Weil das Grundstudium in BWL und VWL dort identisch war, ließ sie sich darauf ein, mit dem Gedanken, später wechseln zu können. Für München sprach aus ihrer Sicht zudem, dass man dort auch Journalismus studieren konnte, was sie ebenfalls reizte. Also schrieb sie sich parallel auch noch für ein zweites Vollstudium an der Deutschen Journalistenschule ein. In diesem Studiengang wurden Kommunikationswissenschaften, Politik und Soziologie als Hauptfächer unterrichtet, in den Semesterferien ergänzt durch Praktika. Als Nebenfach wählte sie auch hier die Wirtschaftswissenschaften.

Die Volkswirtschaftslehre packte sie im Laufe des Studiums und ließ sie nicht mehr los. „Am Anfang macht man als Student ja nur, was von einem verlangt wird. Erst viel später erkennt man dann aber die logischen Verbindungen zwischen der Betriebswirtschaftslehre und der Mikroökonomik, der Mikroökonomik und der Makroökonomik – und das ist dann großartig.“ Die beruflichen Weichen waren gestellt, als sie ein Proseminar zur Sozialpolitik belegte – da ging es um ganz konkrete Dinge wie Sozialversicherung, Arbeitnehmergewinnbeteiligung, Maschinensteuer. „Damals entstand meine Liebe zur Sozialpolitik.“ Monika Queisser war regelrecht fasziniert. Auf diesem Feld wählte sie dann das Thema ihrer volkswirtschaftlichen Diplomarbeit: Es ging um die Rentensysteme in drei südasiatischen Ländern. Dafür hatte sie sich einen Forschungsaufenthalt von acht Monaten am Institute for South Asian Studies in Singapur organisiert. Dort recherchierte sie gleichzeitig auch für ihre zweite Diplomarbeit: In Politikwissenschaft, ihrem Hauptfach innerhalb des Journalistikstudiums, schrieb sie über Nationbuilding und die Rolle der Medien, insbesondere über die Erfahrungen mit der Zensur.

Nach Abschluss beider Studiengänge sah Monika Queisser, die schon nebenbei für den Bayrischen Rundfunk gearbeitet hatte, ihre Zukunft zunächst im Wirtschaftsjournalismus. Sie hatte in sich vielleicht keine Edelfeder, aber doch ein Talent entdeckt, die komplizierte Welt der Wirtschaft in einfachen Worten zu erklären. Doch sie fand im Journalismus nicht gleich einen Job, der sie hinreichend lockte. Stattdessen ergab sich 1990 die Möglichkeit, im ifo Institut in München zu arbeiten, zur einen Hälfte in der Kommunikationsabteilung und zur anderen in der Entwicklungsländerabteilung. Als in Letzterer ein von der Volkswagenstiftung finanziertes Projekt zu den Auswirkungen der von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank angestoßenen Strukturanpassungen in Lateinamerika auf Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung zu bearbeiten war, hob sie begeistert die Hand. Sie bekam den Zuschlag, lernte in einem Intensivkurs in den Sommerferien auf die Schnelle Spanisch („das ist ja nicht so schwer“) und wechselte dann ganz in die ifo-Entwicklungsländerabteilung über.

Aus der Forschung an diesem Projekt ergab sich schließlich auch noch eine – „im Prinzip ökonomische“ Promotion bei dem Münchner Politikwissenschaftler Dieter Grosser. An der politikwissenschaftlichen Fakultät der LMU konnten sich die Promovenden aussuchen, ob sie einen eher wirtschaftspolitisch ausgerichteten Dr. rer. pol. oder einen Dr. phil. erwerben wollten. Monika Queisser optierte für Ersteres und koppelte für ihre Dissertation das Thema der Rentenreform in Chile aus ihrem ifo-Projekt aus, um es zu vertiefen.[13] Das akademische Leben in der Wissenschaft machte ihr Freude. „Ich kannte das ja aus meinem Elternhaus – das war etwas, was ich immer schon sehr mochte, auch wegen der großen Freiheit, die damit verbunden ist.“ Nach der Promotion aber auch noch eine Habilitation in Angriff zu nehmen, reizte sie nicht. Statt in die reine Forschung und Lehre zog es sie in die konkrete, wirtschaftspolitisch unmittelbar relevante Analysearbeit in Instituten und Institutionen.

So ging sie im Rahmen des „Young Professionals Program“ an die Weltbank in Washington. Dort blieb sie für die Dauer von vier Jahren und kümmerte sich um Rentensysteme sowie um die Regulierung und Aufsicht von privaten Rentenfonds und Versicherungen. Es war eine interessante Zeit, wie Monika Queisser im Rückblick sagt, aber auch ziemlich anstrengend – und ganz wohl fühlte sie sich bei der Weltbank nie. Schon aufgrund ihrer Einsichten aus der Projektarbeit am ifo Institut hatte sie erhebliche Vorbehalte gegen den von IWF und Weltbank praktizierten „Washington Consensus“, das als Antwort auf die lateinamerikanische Schuldenkrise der achtziger Jahre entstandene und von den betroffenen Ländern geforderte Bündel stabilitäts- und wachstumspolitischer Maßnahmen zur Strukturanpassung.

So kam sie 1997 nach Europa zurück und heuerte bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris an. Die französische Hauptstadt ist seither ihre Heimat. Zunächst arbeitete sie als Referentin in der OECD-Abteilung „Global Interdependence“, zuständig für die Reform der Rentensysteme und Finanzmarktentwicklung in Schwellenländern. Ihre Weltbank-Erfahrung kam Monika Queisser in den komparativen Länderstudien zugute, die sie hier zunächst anstellte, bevor sie 1999 in das Sekretariat wechselte, das die OECD-Mitgliedsländer auf dem Gebiet der Sozialpolitik bedient. Dort beschäftigte sie sich sowohl mit der Renten- als auch mit der Behindertenpolitik.

Um innerhalb der internationalen Organisation weiter aufsteigen zu können, absolvierte sie erst einen Aufbaukurs in Ökonometrie an der London School of Economics (LSE) und bewarb sich dann 2007 auf Empfehlung einer Mentorin für einen Posten als Beraterin im Kabinett, also im Beraterstab des OECD-Generalsekretärs. Damals hatte der umtriebige Mexikaner José Ángel Gurría das Amt inne – „ein Mann mit einem ungeheuren Energielevel“. Ein Jahr lang arbeitete sie „24/7“ im Kabinett und bewarb sich dann 2009 von dort aus erfolgreich weiter für die nunmehr freiwerdende Leitung der Abteilung für Sozialpolitik. Mit ihrem rund 30 Personen umfassenden Team befasst sie sich neben ihrem Dauerbrenner Rentenpolitik auch mit Familien-, Jugend- und sozialer Wohnungspolitik sowie mit Fragen der Gleichstellung.

Online erschienen: 2023-11-28
Erschienen im Druck: 2024-01-03

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 23.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pwp-2023-0047/html
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