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Auf den Spuren des Thrasymachos. Zu einer Anspielung auf Platons Politeia (336b–e) in GM I 9

  • Giorgio Leonardo Di Sarno EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 19. August 2025

Abstract

Tracing Thrasymachus. On a Reference to Plato’s Republic in GM I 9. This article examines an intertextual reference to Plato’s Republic (336b–e) in GM I 9. In addition to lexical and semantic parallels, it highlights structural and philosophical differences, focusing on the motifs of silence and interruption. By comparing Thrasymachus’s outburst in Republic I with the interjection of the „Democrat“ in GM I 9, the article reveals Nietzsche’s subtle appropriation and transformation of the Platonic dialogue form. Rather than endorsing Thrasymachus’s position, Nietzsche reconfigures the dialogical frame to stage the clash of opposing value systems and to question the legitimacy of philosophical justification itself, thus performing a critical, anti-Platonic reflection on moral discourse.

Im Übergang vom Referat der jüdischen „Umwerthung aller Werthe“ (GM I 8) zur Exposition des Gegensatzes von „vornehme[r] Moral“ und „Sklaven-Moral“ in der prominenten Rede vom „Sklavenaufstand in der Moral“ (GM I 10, KSA 5.270) findet sich ein eigentümliches Intermezzo, das nicht nur dem Wortlaut nach, sondern auch in formaler Hinsicht auf eine Stelle aus der platonischen Politeia (336b–e) Bezug nimmt, die im Folgenden als Intertext zu GM I 9 diskutiert und auf ihr weiterführendes Deutungspotenzial befragt werden soll. Nachdem GM I 8 die temptatorische Wirkung „jener schauerlichen Paradoxie eines „Gottes am Kreuze““ herausgestrichen und mit der Gewissheit geschlossen hatte, „dass sub hoc signo Israel mit seiner Rache und Umwerthung aller Werthe bisher über alle anderen Ideale, über alle vornehmeren Ideale immer wieder triumphiert hat“, bilanziert eine in der ersten Abhandlung ansonsten abwesende typologische Gestalt – der „Demokrat[]“ – den historiographischen Bericht insofern neu, als die qua Umwertung realisierte „Intoxikation“ nun als Triumph der „Moral des gemeinen Mannes“ gefeiert und ihrer normativen Rahmung durch den bisherigen Sprecher beraubt wird:

– „Aber was reden Sie noch von vornehmeren Idealen! Fügen wir uns in die Thatsachen: das Volk hat gesiegt – oder „die Sklaven“, oder „der Pöbel“, oder „die Heerde“, oder wie Sie es zu nennen belieben – wenn dies durch die Juden geschehen ist, wohlan! so hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission. „Die Herren“ sind abgethan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. […]“ (GM I 9).

Wo diese und die nachfolgenden Ausführungen zum Verhältnis von Demokratisierung, Kirche und „Nützlichkeit“ (GM I 9) nicht einfach dem Autor Friedrich Nietzsche angerechnet wurden,[1] hat dieses „literarische Zwischenspiel“[2] vielfach Irritationen hervorgerufen – Irritationen, die noch dadurch verstärkt werden, dass der Sprecher jenen Einwurf des „Demokraten“ in der Schlusspassage des Abschnitts ausdrücklich als „Epilog“ zu einer vorangegangenen „Rede“ charakterisiert und seine eigenen Ausführungen somit in die Fiktion eines mündlichen Vortrags einschreibt: „– Dies der Epilog eines „Freigeistes“ zu meiner Rede, eines ehrlichen Thiers, wie er reichlich verrathen hat, überdies eines Demokraten; er hatte mir bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hören. Für mich nämlich giebt es an dieser Stelle viel zu schweigen. –“ (GM I 9).

Wenngleich in Zur Genealogie der Moral (1887) an vielen Stellen implizit oder explizit auf Platon und sogar die Politeia Bezug genommen[3] und etwa in GM I 14 das Höhlengleichnis zu einem Dialog mit „Herr[n] Vorwitz und Wagehals“ verkehrt wird, in dem letzterer von „falsche[m] schillernde[n] Licht“, „Kellerthiere[n]“ und einer „Werkstätte, wo man Ideale fabrizirt“, berichtet,[4] ist bislang nicht aufgefallen, dass GM I 9 über das Nebeneinander von Rede und Gegenrede, das sich doch nicht zum Dialog fügt, raffiniert auf das sog. Proömium anspielt, das der Diskussion zwischen Platons Sokrates und dem Sophisten Thrasymachos aus Chalkedon im ersten Buch der Politeia vorangestellt ist. Da von der Platon-Forschung wiederholt herausgearbeitet wurde, dass 336b f. maßgebliche Aspekte der Position des Thrasymachos in verdichteter Form präsentiert,[5] sei diese hier sehr kurz in Erinnerung gerufen.

Bekanntlich ist die Unterredung zwischen Sokrates und dem Sophisten als Streitgespräch, als „elenktische[] Destruktion“[6] angelegt, in der Thrasymachos die von seinen Vorrednern Kephalos und Polemarchos unterschiedlich hervorgehobene Bedeutung des Eigennutzens in seiner eigenen Antwort auf die Frage nach dem ti estin der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) radikalisierend aufgreift,[7] von Sokrates dann aber hoffnungslos in Widersprüche geführt wird. In der Übersetzung von Wilhelm Sigismund Teuffel, die sich in Nietzsches persönlicher Bibliothek befindet, lautet diese Antwort: „Ich behaupte, daß das Gerechte [δίκαιον] nichts Anderes ist als das dem Ueberlegenen Zuträgliche [κρείττονος συμφέρον].“[8] In seiner Einführung in das Studium der platonischen Dialoge (Wintersemester 1871/72 und Wintersemester 1873/74) hatte sich Nietzsche noch anachronistisch notiert: „Gerecht. ist der Wille des Herrschenden, zum Gesetz erhoben, zu seinem Vortheil“ (KGW II 4.58). Für Thrasymachos ist dieser „Wille des Herrschenden“ das bestimmende Moment nicht allein hinter Gesetzen und Sitten, sondern hinter sämtlichen sich in Geltung setzenden logoi über das Gerechte.[9] Der Rückführung moralischer Diskurse auf kontingente Interessens- und Machtstrukturen (κρατεῖ, 339a) korrespondiert die normative Ineinssetzung von Gerechtigkeit, Glückseligkeit und tyrannischer Selbstermächtigung, wie sie sich in der Außenperspektive als Ungerechtigkeit darstellt:

Das heißt Tyrannei, welche das fremde Gut nicht stückweise wegnimmt, sowohl heimlich als mit offener Gewalt, Heiliges und Erlaubtes, Persönliches und Oeffentliches, sondern Alles zusammen. […] Wenn aber jemand außer der Habe der Bürger auch noch ihre Person knechtet, so bekommen sie statt jener beschimpfenden Benennungen die Titel glücklich und preiswürdig [εὐδαίμονες καὶ μακάριοι], nicht bloß von den Staatsangehörigen, sondern auch von allen Andern welche vernehmen daß er die Ungerechtigkeit im Großen treibt; denn nicht weil sie das Ungerechte zu thun, sondern weil sie es zu leiden fürchten schmähen auf die Ungerechtigkeit die welche sie schmähen. So ist denn also, Sokrates, die Ungerechtigkeit, wenn sie auf tüchtige Weise geschieht, etwas Stärkeres und Freieres und Gewaltigeres als die Gerechtigkeit (Platon 1855, 57, Z. 25 – 58, Z. 11 (344a–c)).[10]

In der Forschung fühlte man sich wiederholt dazu berufen, die Genealogie der Moral von diesen Ausführungen her, nämlich als „nachträgliche Explikation und Begründung von Thrasymachos’ Gerechtigkeitsvorstellungen“,[11] zu begreifen, wodurch dessen Akzentuierung des Herrschaftlichen als eines der Paradigmen jener „aristokratische[n] Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt)“ (GM I 7) erschien.[12]

Dass Nietzsche mit der Position des platonischen Thrasymachos vertraut gewesen ist, kann vorausgesetzt werden. Sieht man von seiner Einführung in das Studium der platonischen Dialoge ab, die eine eigene, stark an Franz Susemihls Die genetische Entwicklung der platonischen Philosophie (1857) angelehnte Rekonstruktion der Politeia I enthält (KGW II 4.57–59),[13] dann konnte er sich die thrasymacheische Gerechtigkeitsauffassung spätestens durch das Studium von Leopold Schmidts Ethik der alten Griechen (1882) in Erinnerung rufen lassen.[14] Bekanntlich findet sich auch im zweiten Band der Parerga und Paralipomena (1851) eine „Kleine dialogische Schlussbelustigung“,[15] in der Arthur Schopenhauer den Sophisten in einer deutlich auf das platonische Porträt verweisenden Form zu Wort kommen lässt. Interessanter als ideengeschichtliche Kurzschlüsse, die schon methodisch problematisch sind, ist im Hinblick auf GM I 9 allerdings die Doppelfunktion des Tyrannischen, das in der Politeia keinesfalls bloß als inhaltlicher Antwortvorschlag auf die Frage nach dem summum bonum diskutiert wird. Über demütigende Forderungen und Vergleiche, aggressive Metaphern und die Weigerung, sich auf das dialektische Spiel der Gründe einzulassen,[16] trägt Thrasymachos sein agonales Welt- und Selbstverständnis vielmehr schon in seinem Dialogverhalten aus, worauf der platonische Sokrates auch fortwährend hinweist. Am eindringlichsten dargestellt findet sich diese tyrannische Figurenzeichnung in der kurzen Sequenz 336b–e, die von Thrasymachos’ Einmischung in das Gespräch handelt:

Noch während unseres Gespräches hatte Thrasymachos öfters einen Anlauf genommen uns zu unterbrechen und das Wort zu ergreifen [ἀντιλαμβάνεσθαι τοῦ λόγου], war aber von seinen Nebensitzern daran gehindert worden, weil diese das Gespräch aushören wollten; als wir aber zu Ende waren und ich jene Worte gesprochen hatte konnte er nicht mehr ruhig bleiben, sondern sich zusammennehmend stürzte er wie ein wildes Thier [θηρίον] auf uns los, um uns zu zerreißen [ὡς διαρπασόμενος]. Ich und Polemarchos geriethen in Angst und Bestürzung; er aber schrie mitten unter uns hinein: Was für Unsinn treibt ihr da schon lange, Sokrates? […] Wie ich das hörte erschrak ich und blickte ihn voll Angst an, und ich glaube hätte ich ihn nicht eher angesehen als er mich, so hätte ich die Stimme verloren (Platon 1855, 45, Z. 17 – 46, Z. 18 (336b–e)).

In Sokrates’ kommentierender Beschreibung wird Thrasymachos, der in den auf 336c folgenden Passagen das elenktische dialégesthai ebenso wie die sokratische Ironie als Machtinstrumente kritisieren und ein Begriffsverbot über nahezu sämtliche das Gespräch bislang bestimmenden Termini verhängen wird,[17] schon literarisch in das Porträt eines auf Herrschaft aspirierenden Ungeheuers eingeschrieben.[18] Die Ausdrücke thêrion und diarpasómenos stiften hierbei einen bildlichen Zusammenhang, den Sokrates im weiteren Gesprächsverlauf immer wieder aufgreifen wird: Die Kritik an der wechselseitigen Verständigung über das Gerechte wird zum Angriff einer furchterregenden Bestie[19] stilisiert, deren Anblick Sokrates zwar beinahe verstummen lässt, die zu zähmen ihm aber schließlich gelingt.[20] Die wörtlichen, semantischen sowie strukturellen und kompositorischen Ähnlichkeiten zwischen 336b–e und GM I 9 zeigen sich in der Übersetzung Teuffels recht deutlich: In beiden Fällen unterrichtet das bis zu diesem Zeitpunkt wortführende Ich in einem Zwischenkommentar aus der Erzählperspektive von den starken, kaum kontrollierbaren Reaktionen, die seine moralphilosophischen Ausführungen auf Seiten eines Zuhörers provoziert hätten, der sich bislang bedeckt gehalten, dem eigenen Affront nun aber in Form einer den normativen Voraussetzungen und Begrifflichkeiten des Hauptredners diametral entgegengesetzten Widerrede Ausdruck verliehen habe. Dass der Demokrat durch das Zitieren in Anführungszeichen – „das Volk hat gesiegt – oder „die Sklaven“, oder „der Pöbel“, oder „die Heerde““ (GM I 9) – und durch die Bemerkungen „oder wie Sie es zu nennen belieben“ und „(was liegt an Worten!)“ in Distanz zum distinkten Begriffsgebrauch des Sprechers, allen voran dessen affirmativer Rede von vornehmeren Ideale[n]“ (GM I 8) tritt, spricht dafür, dass an den inhaltlichen Gegensatz sich in beiden Fällen ein methodisches Verbot bestimmter Begriffe und Sprechweisen knüpft, hatte doch auch Thrasymachos nur kurz nach seiner Einmischung befohlen: „Und daß du mir nur nicht sagst es [sc. das Gerechte] sei das Pflichtmäßige [δέον] oder das Nützliche [ὠφέλιμον] oder das Vorteilhafte [λυσιτελοῦν] oder das Gewinnbringende [κερδαλέον] oder das Zuträgliche [συμφέρον]“ (Platon 1855, 46, Z. 12–14 (336d)).

Wirft man einen kurzen Blick auf die Verhältnisse, in denen diese Begriffe im unmittelbaren Umkreis von GM I 9 ansonsten bemüht werden, so zeigen sich schnell weitere, über die analoge Kritik an bestimmten philosophischen Sprechweisen hinausgehende Parallelen zwischen Thrasymachos und dem „Demokraten“ beziehungsweise zwischen 336b–e und GM I 9. So scheint es für „Herr[n] Vorwitz und Wagehals“ in GM I 14 ganz selbstverständlich, die Rede von den „Mächtigen, d[en] Herrn der Erde“ ohne distanzierende Anführungszeichen gegen den offenbar verlogenen Begriffsgebrauch der „Menschen des Ressentiment“ zu bemühen.[21] Dies ist deshalb von Interesse, da GM I 14, dessen Bezugnahmen auf insbesondere Politeia 514a–520e bereits nachgewiesen werden konnten,[22] „Herr[n] Vorwitz und Wagehals“ gerade als bisherigen Zuhörer der Reden des sprechenden Ichs charakterisiert: „Reden Sie jetzt! Was geht da unten vor? Sprechen Sie aus, was Sie sehen, Mann der gefährlichsten Neugierde – jetzt bin ich der, welcher zuhört. –“ (GM I 14). Insofern der Hauptredner mit „Herr[n] Vorwitz und Wagehals“ schon seinen Sprachgebrauch, also sehr viel mehr gemeinsam hat als mit dem ebenfalls zuhörenden „Demokraten“ aus GM I 9, scheint der neunte Abschnitt mit der Vereinzelung des Gegenredners ein zentrales Motiv der Figurenkonstellation des ersten sowie der nachfolgenden Bücher der Politeia aufzugreifen, tritt Thrasymachos hier doch in Opposition nicht allein zu Sokrates, sondern schließlich zu sämtlichen Gästen im Hause Kephalos.[23] Wie Nietzsche sich an dem platonischen Prätext abarbeitet und diesen dabei eigentümlich umwendet, zeigt sich schließlich am elften Abschnitt, der jenen vom „Demokraten“ (GM I 9) ausdrücklich abgelehnten Begriff des ‚Vornehmen‘ mit dem 336b–e bestimmenden Motiv des wilden, furchterregenden Ungeheuers in Verbindung bringt:

Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildniss zurück: – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich (GM I 11, KSA 5.275).

Zusammengelesen mit den intertextuellen Bezügen zwischen GM I 9 und Politeia 336b–e, ließe sich dies als fast schon trivialer Hinweis darauf lesen, dass in GM I 9 die Rollen vertauscht sind, der Gegenredner durch und durch domestiziert und gerade kein furchterregendes thêrion ist, das den Redner zu zerfleischen sich anschickte. In doppelt verkehrten Verhältnissen würde das wortführende Ich in seiner „letzte[n] Zuversicht“ auf „etwas Vollkommenes, zu-Ende-Gerathenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphirendes, an dem es noch Etwas zu fürchten giebt!“ (GM I 12), also gerade die Robe des aus der Politeia sowohl politisch wie auch dialogisch ausgeschlossenen Tyrannen anlegen, der sich nun nicht mehr von „Raubthiere[n]“ (GM I 11) oder wilden Tieren (336b), sondern eben von zahm gewordenen „Demokraten“ (GM I 9) unterbrechen lassen muss. Bevor ich auf die Deutungsspielräume eingehe, die diese Transformation von 336b–e eröffnet, sei noch ein letzter Passus zitiert, der den Verdacht in dreifacher Hinsicht plausibilisiert, der Demokrat unterbreche in GM I 9 nun gerade einen Redner, der sich in seinen normativen Voraussetzungen mindestens partiell am thrasymacheisch-tyrannischen Ideal orientiere. In diesem Sinne führt GM III 18 zunächst den vom Demokraten in GM I 9 distanzierten, in GM I 14 sowie überhaupt in GM I positiv gebrauchten Begriff der „Herren“ mit demjenigen des „Raubthier[s]“ und diese beiden dann mit dem Motiv des Tyrannischen zusammen, das schließlich explizit aus dem Horizont der platonischen Philosophie begriffen wird:

Denn man übersehe dies nicht: die Starken streben ebenso naturnothwendig auseinander, als die Schwachen zueinander; wenn erstere sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Willens zur Macht […]; letztere dagegen ordnen sich zusammen, mit Lust gerade an dieser Zusammenordnung, – ihr Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt der geborenen „Herren“ (das heisst der solitären Raubthier-Species Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird. Unter jeder Oligarchie liegt – die ganze Geschichte lehrt es – immer das tyrannische Gelüst versteckt; […] (So war es zum Beispiel griechisch: Plato bezeugt es an hundert Stellen, Plato, der seines Gleichen kannte – und sich selbst …) (GM III 18).[24]

Nur kurz seien die Implikationen dieses intertextuellen Bezugs für die Interpretation von GM I 9 aufgezeigt, wofür sich der Motivkomplex von Schweigen und Verschweigen („Für mich giebt es nämlich an dieser Stelle viel zu schweigen. –“) besonders anbietet. Bei näherer Betrachtung erweist sich das Schweigen als zentrales Motiv in der Abweichung von Politeia 336b–e. Zwar nehmen beide, sowohl der Demokrat in GM I 8 und 9 als auch Thrasymachos in der Politeia, die Sprechpausen ihrer Vorredner zum Anlass, einen bislang unterbelichteten Aspekt zur Sprache zu bringen, etwas Verschwiegenes also thematisch werden zu lassen. Während es in der Politeia zunächst Sokrates ist, der fürchten muss, beim Angriff der Bestie Thrasymachos verstummen zu müssen, ihn im Elenchos dann aber endgültig zum Schweigen bringt und damit aus dem Diskurs der Bücher II bis X gleichsam ausschließt, ist das Intermezzo in GM I 9 gegenchronologisch komponiert: Die Gegenrede folgt nicht auf die kommentierende Einordnung durch das intratextuelle Ich, sondern umgekehrt, wodurch gerade die dialogische Bezugnahme auf den Demokraten vermieden und anstelle der dialektischen Prüfung das als solches angesprochene, bloße Schweigen gesetzt wird. Mit Rücksicht auf den Streitschrift-Charakter der Genealogie lässt sich dies als ein Reflexionsmodus verstehen, der sich dem integrativen Moment platonischer Dialogpraxis verweigert, indem er der moralischen Bedingtheit auch noch des eigenen Sprechens über den Werth“ der Moral (GM, Vorrede 3) fortwährend Ausdruck verleiht.[25] Tatsächlich wurde die demokratische Zurückweisung vornehmerer Ideale bereits in Vergangenheit von Nietzsches (multi-)perspektivierenden Schreibpraktiken her verstanden, was sich für den intertextuellen Bezug auf Politeia 336b–e nun gerade so deuten lässt, dass mit dem Rekurs auf das thrasymacheische Raubtier weniger einer „Apologie der Tyrannis“[26] das Wort geredet als vielmehr die inkommensurable Verschiedenheit der Perspektiven und Affekt-Interpretationen“ (GM III 12) zur Darstellung gebracht werden soll.[27] Im Hinblick auf die neuerlich akzentuierte Motivik des Schweigens sowie eingedenk des in GM I 9 vorherrschenden Mangels an Dialogizität[28] lässt sich in dieser Inkommensurabilität selbst schon ein antiplatonisches Moment erkennen, das auf höherer Reflexionsstufe an den platonischen Thrasymachos anknüpft, sich aber deshalb nicht mehr sinnvoll als „Umkehrung des Platonismus“[29] beschreiben lässt: Dass die dialogische Hierarchisierung von Perspektiven in GM I 9 dem unvermittelten Konflikt gegensätzlicher Werthaltungen weicht, lässt sich als konsequente Weiterführung von Thrasymachos’ Kritik am instrumentellen Charakter des dialégesthai verstehen.[30] Ebenso wie Thrasymachos in seinem Angriff darauf ausgeht, den lógos an sich zu reißen und Sokrates die Stimme zu nehmen, so lässt sich schon der anfängliche Einwurf „– „Aber was reden Sie noch von vornehmeren Idealen!““ (GM I 9) nicht allein als des Demokraten Heraustritt aus dem Schweigen, sondern zugleich verstehen als partielles Redeverbot, als Aufforderung an den Hauptredner, nicht mehr den demokratischen Triumph, sondern eben die vornehmeren Ideale zu verschweigen.

Indem sie das Verschweigen nun nicht mehr dialogisch rationalisiert, sondern die eigene Ausschlussgeste als solche beobachtbar macht und damit die idiosynkratischen blinden Flecke und epistemischen Defizite der Rede des Sprechers offenlegt, zeigt sich an der paradoxalen Thematisierung des eigenen Schweigens besonders deutlich die gleichermaßen antiplatonische wie skeptizistische Funktion, die dem intertextuellen Bezug auf Politeia 336b–e in GM I 9 zukommt und die darin schon auf das Bild einer dialektikkritischen Sophistik vorausweist, das der späte Nietzsche in einer Aufzeichnung von 1888 zeichnen wird:

Der Augenblick ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral, […], sie geben die Dialektik zu verstehen als Mittel, jeder Überzeugung den Anschein des Rechts zu schaffen {zu verstehen daß man mit einiger jede Moral sich dialektisch zu rechtfertigen lasse, – daß es keinen Unterschied mache}: das heißt, sie errathen, wie alle Begründung einer Moral {notwendig} sophistisch ist {sein muß – } (Nachlass 1888, 14[116], KSA 13.292 / KGW IX 8, W II 5.105).

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Online erschienen: 2025-08-19
Erschienen im Druck: 2025-09-30

© 2025 the author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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