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Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Der Wanderer und sein Schatten

  • Johannes Heinrich EMAIL logo
Published/Copyright: March 5, 2025
Nietzsche-Studien
From the journal Nietzsche-Studien

Abstract

Human, All Too Human, Dawn and The Wanderer and His Shadow. Assigned to Nietzsche’s so-called “middle period,” Human, All Too Human and Dawn have received much less attention than many of his early or later works. Several recent publications attempt to correct this, including the four volumes discussed in this review essay. There are a number of recurring themes, such as Nietzsche’s writing style and the question whether, and to what extent, The Wanderer and His Shadow should be regarded as a separate work within Nietzsche’s œuvre. While Abbey as well as Ansell-Pearson and Bamford take a more general approach that seeks to provide an introductory overview of Nietzsche’s middle period, Brücker as well and Boehm and Villwock are focused specifically on The Wanderer and His Shadow, addressing the meaning of the metaphor of “wanderer and shadow” throughout Nietzsche’s work.

  1. Timon Boehm / Peter Villwock (Hg.), Engadiner Gedanken-Gänge. Friedrich Nietzsche, der Wanderer und sein Schatten. Göttingen: Wallstein Verlag 2021, 215 S., ISBN 978-3835339170.

  2. Tobias Brücker, Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“, in: David Giuriato / Martin Stingelin / Sandro Zanetti (Hg.), Zur Genealogie des Schreibens 24. Paderborn: Brill | Fink 2019, 331 S., ISBN 978-3846764053.

  3. Ruth Abbey, Nietzsche’s “Human, All Too Human”. A Critical Introduction and Guide. Edinburgh: Edinburgh University Press 2020, 242 S., ISBN 978-1474430845.

  4. Keith Ansell-Pearson / Rebecca Bamford, Nietzsche’s “Dawn”. Philosophy, Ethics, and the Passion of Knowledge. Hoboken, NJ: Wiley Blackwell 2021, 270 S., ISBN 978-1119693666.

Die der sogenannten mittleren Werkphase zugeordneten Schriften Menschliches, Allzumenschliches (1878–80) sowie Morgenröthe (1881) gelten als vergleichsweise wenig rezipierte Arbeiten Nietzsches. Jüngere und zeitnah erscheinende Bücher[1] versuchen, diese Lücke zu schließen. Die vier hier vorgestellten Beiträge zur Nietzsche-Forschung reihen sich in diese Versuche ein. Wiederkehrende Themen sind die Diskussion um die angebliche positivistische mittlere Werkphase Nietzsches, die Analyse von dessen Schreibtechnik sowie die Frage, ob und inwieweit Der Wanderer und sein Schatten (1880) ein eigenständiges Werk innerhalb von Nietzsches Œuvre darstellt. Während die Bücher von Ruth Abbey sowie Keith Ansell-Pearson und Rebecca Bamford eher allgemeine Einführungswerke darstellen, zeichnen sich die Beiträge von Tobias Brücker sowie Timon Boehms und Peter Villwocks Sammelband durch sehr spezifische Fragestellungen aus. Die letztgenannten Bücher sollen daher zunächst zusammen diskutiert werden, weil sie thematisch sehr nahe beieinander liegen. Beide besprechen hauptsächlich Nietzsches Werk Der Wanderer und sein Schatten, welches in dieser Kompaktheit in der Nietzsche-Forschung zuvor noch nicht eine solche Aufmerksamkeit erhielt.[2] In diesen Arbeiten geht es insbesondere um die Frage nach der Bedeutung der Metaphorik von „Wanderer und Schatten“ im Wanderer sowie in Nietzsches Gesamtwerk.

1. Der 2021 erschienene, von Timon Boehm und Peter Villwock herausgegebene Sammelband Engadiner Gedanken-Gänge. Friedrich Nietzsche, der Wanderer und sein Schatten widmet sich einem sehr spezifischen Thema: dem von Nietzsche nachgereichten Abschnitt Der Wanderer und sein Schatten, der in der zweiten Auflage von Menschliches, Allzumenschliches erschienen ist. Jedoch weisen die Herausgeber in ihrem Vorwort darauf hin, dass es sich beim Wanderer um ein Werk handelt, das als unabhängig zu gelten habe und das als „Buch allerdings kaum je als eigenständig […] wahrgenommen worden ist“ (9). Der Band beansprucht also interpretative Originalität. Diese kann er in weiten Teilen auch einlösen, werden hier doch besonders detailliert eher außergewöhnliche Themen der Nietzsche-Forschung angesprochen (etwa christliche Symbolik bei Nietzsche, Nietzsches Schreibprozesse oder die Metaphoriken von „Wanderer“ und „Schatten“), welche nicht selten die Felder der Literaturwissenschaft berühren und somit des Öfteren auch in nicht-philosophische Themen hinübergleiten.

Der Sammelband gliedert sich in ein Vorwort und sechs weitere Beiträge zur Thematik sowie Originalabbildungen von der Erstausgabe von Der Wanderer und sein Schatten. Die Themen reichen von Peter André Blochs Beitrag über das Glockenmotiv bei Nietzsche, Tobias Brückers Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Wanderers, Martin Kölbels Ausführungen zu Nietzsches aphoristischer Methode, Claus Zittels Vergleich zu Hans-Christian Andersen, Fechner und Nietzsche bis hin zu Hans Ruins Überlegungen zur Rolle des Dialogs mit dem Schatten sowie Peter Villwocks abschließender Analyse der christlichen Motive im Wanderer. Die Untersuchung des Wanderers ist in dem Band somit komplex, die Beiträge decken außerdem viele verschiedene Bereiche ab und sind stets sehr genau und gut nachvollziehbar geschrieben.

Im Vorwort ordnet Timon Boehm den Wanderer in Hinblick auf Nietzsches Gesamtwerk ein. Dabei bestimmt er das Alleinstellungsmerkmal vom Wanderer darin, dass es das erste Werk Nietzsches sei, das dieser als „‚freier Philosoph‘ ohne akademische Anbindung“ (9) verfasst habe. Zudem stelle der Wanderer über dieses Alleinstellungsmerkmal hinaus ein „unbekanntes Schlüsselwerk“ (9) dar. Ziel des Buches sei es, diesen Schlüsselcharakter des Werkes darzulegen. In diesem Zusammenhang sollen auch die Verbindungen zu anderen Werken Nietzsches (Fröhliche Wissenschaft (1882–87); Menschliches, Allzumenschliches I; und Also sprach Zarathustra (1883–85)) herausgearbeitet werden. Anliegen des Bandes ist somit, auf die vielfältigen „philologischen[n] und philosophische[n] Implikationen aufmerksam zu machen“ (21), welche sich im Wanderer finden lassen.

Tobias Brückers Text befasst sich in seinem Artikel mit der Entstehungsgeschichte von Der Wanderer und sein Schatten. Dieser Beitrag sowie auch seine Monografie zum Thema zeichnen sich durch eine große Belesenheit und eine detailliert beschriebene Argumentation aus. Brücker stellt die These auf, dass sich Nietzsche im Wanderer selbstbezüglich auf die Umstände seines eigenen Denkens und Schreibens beziehe. Zu diesen Umständen zählt Brücker Nietzsches Arbeits- und Notizhefte, seine Schreibverfahren sowie seine diätetischen Maßnahmen an sich selbst (richtige Ernährung, Spazieren etc.) (57). Diese Umstände bildeten den „oft vergessenen Schatten der Philosophie“ (57). Zudem sei für Nietzsche die natürliche Umgebung (Klima, Luft etc.) zentral für die Entstehung seiner Philosophie. Es handelt sich laut Brücker somit um „verortete Gedanken“ (59), welche nur in einer bestimmten Landschaft, wie z. B. der alpinen Umgebung, so entstehen konnten und welche eine wechselseitige Beziehung zu ihrer Umgebung haben.

In der Rolle der Diät für Nietzsches Denken bezieht sich Brücker auf Michel Foucaults Analysen der antiken Selbstsorge und Diätetik und fasst die Diät mit Foucault als „die Weise, in der man seine Existenz führt“ und die „Lebensführung mit Regeln aus[]statte[t]“ (61).[3] Der Autor reiht sich damit ein in diverse Werke der jüngeren Nietzsche-Forschung, welche Nietzsches Ausführungen zur Diätetik in der antiken Tradition der Selbstsorge verorten und diese wiederum mit dem Spätwerk Foucaults kontextualisieren.[4] Dem Verfasser ist hierin ganz generell zuzustimmen. Über Brückers Gedanken hinausgehend muss jedoch festgehalten werden, dass man den foucaultschen Topos der „Ästhetik der Existenz“ zudem gewinnbringend mit der Idee der ästhetischen Selbststilisierung und Selbstkultivierung[5] hätte parallelisieren können, die Nietzsche ab seiner mittleren Werkphase verstärkt propagierte.

Brücker beendet seinen Beitrag mit einem Verweis auf das Ende von Der Wanderer und sein Schatten (74). Hier betone Nietzsche erneut die Bedeutung der Umgebung, indem auf das Sinken der Sonne in einer Bergregion verwiesen werde. Im finalen Dialog des Wanderers mit seinem Schatten fragt der Wanderer zuletzt den Schatten: „Wo bist du? Wo bist du?“ (MA II, WS, Schlussdialog). Überaus feinsinnig weist Brücker daraufhin, dass hiermit keinesfalls ein Verschwinden des Schattens angesprochen ist. Vielmehr verliere der Schatten bloß seine Konturen:

Wenn in den Bergen die Sonne rasch hinter einem Bergkamm untergeht, bleibt der Himmel noch lange hell. Es legt sich ein Schatten über das Tal […]. Dieses Naturschauspiel führt dazu, daß der Schatten sich schnell über eine große Talfläche ausbreitet […]. Das „wo bist du?“ des Wanderers zeugt deshalb nicht vom Verschwinden des Schattens, sondern von dessen Ausbreitung (74).

Brücker kontextualisiert diese Überlegungen mit Nietzsches Ausführungen über den Text als „Gegend“ (MA II, WS 126). Im übertragenen Sinne lege sich also der Schatten über den gesamten vorherigen Text, über die gesamte Text-Umgebung. Mit seinem finalen Schatten-Dialog möchte Nietzsche Brücker zufolge also verdeutlichen, dass der Schatten – als Metapher für die dunklen, oft unbewussten Umstände der Philosophie – im Prozess des Schreibens und Veröffentlichens eines Werkes mehr und mehr aus dem Blickfeld gerät, obwohl er doch eigentlich im Text omnipräsent ist. Nietzsches abschließende Frage „Wo bist du?“ könne also in diesem Sinne als ein Verschwinden des Schattens bzw. der Umstände des Textes aus dem Bewusstsein des Autors verstanden werden. Kritisch gefragt werden muss an dieser Stelle, ob mit der Erklärung des Schattens als „Gegend“ nicht gewisse subjektbezogene Bedeutungen der Schatten-Metaphorik zu sehr in den Hintergrund geraten.

Die Frage „Wo bist du?“ führt daher automatisch zu der Frage „Wer bist du?“ Während also Brückers Ausführungen mit den Überlegungen zum Ort des Schattens enden, so stellt sich die Frage nach der Identität des Schattens. Ist er das Alter Ego des Autors, also des Wanderers? Ist er sein dunkles Unbewusstes? Ist also der Wanderer oder vielmehr der Schatten selbst der Autor des Textes? Oder ist der Schatten der Doppelgänger des Wanderers? Ist der Schatten am Ende identisch mit dem Text selbst? Und ist der Wanderer der Autor oder vielmehr nur eine literarische Figur Nietzsches? Diese Fragen finden sich im Beitrag von Claus Zittel wieder.

Zittel geht kritisch auf die von Brücker in seiner Monografie vertretene These ein, wonach der Schatten im Wanderer für die Schrift stehe und der Wanderer aus dem Wanderer somit gewissermaßen in einen Dialog mit seiner eigenen Schrift trete (134).[6] Zittel argumentiert gegen diese Annahme, indem er auf die „Gleichberechtigung des Schattens innerhalb der WS-Dialogs“ (134) hinweist, welche die Souveränität des Autors gegenüber seiner Schrift unterwandern würde. Diesem Einwand Zittels ist zuzustimmen, nicht zuletzt, wenn man ein Nietzsche-Zitat berücksichtigt, welches die Wichtigkeit der Koexistenz, der Gleichwertigkeit und des Zusammenspiels von Licht und Schatten (also von Rede und Schrift) betont: „Vielfach muß anders geschrieben als gesprochen werden. Deutlichkeit ist Vereinigung von Licht und Schatten“ (Nachlass 1876, 15[27], KSA 8.286).

Zittel kontextualisiert die Figuren des Wanderers und des Schattens zudem mit Also sprach Zarathustra. Am Ende seines längeren Artikels widmet er sich der Frage nach der Identität des Schattens und des Wanderers und verfährt hierbei mit einem Bezug auf die (an Hans Christian Andersen angelehnte) Doppelgänger-Thematik. Zittel kommt zu dem Schluss, dass – aufgrund von Nietzsches Aufhebung der Dualität von Wahrheit und Schein, von Helligkeit und Dunkelheit (124 f., JGB 34) – bei Nietzsche der Unterschied zwischen Wanderer und Schatten sich letztendlich in einer Einheit auflöse. Dies bestätigen auch diverse Stellen aus Nietzsches Zarathustra, in denen er seinen Erzähler kommentieren lässt: „Also sprach der Wanderer und Schatten“ (Za IV, Unter Töchtern der Wüste 1). Der Schatten hat laut Zittel aufgehört, Eigentum des Wanderers zu sein, hat sich selbständig gemacht und den Wanderer „gedoppelt“ (140). Hiermit greift Nietzsche, wie Zittel scharfsinnig herausdestilliert, Andersens Motiv des Doppelgängers auf. Dieser sei nicht wie bei Andersen fett geworden, sondern sei abgemagert, was als eine ironische Anspielung auf Andersens Figur des Schlemihls zu verstehen sei. Nietzsche betreibt, das arbeitet Zittel anhand von Textstellen aus Also sprach Zarathustra sehr nachvollziehbar heraus, ein komplexes und vielschichtiges Spiel um seine Identität als Autoren-Ich. Im Zarathustra kehrt Nietzsche zur Dialogform vom Wanderer zurück: „Oder wie nenne ich dich? / Vergieb mir, oh Zarathustra, diese Mummerei, antwortete der Doppelgänger und Schatten […]. Mitunter nannte ich mich auch der Wanderer, / öfter aber noch Zarathustra’s Schatten“ (KSA 14.337). Der Schatten selbst nennt sich also, gleich dem Märchen von Hans Christian Andersen, selbst Wanderer, nimmt demnach zumindest vorübergehend auf betrügerische Weise die Position des Autors ein. Selbst der Wanderer ist somit nicht als authentische Sprecherinstanz zu identifizieren.

Bereits Zarathustra ist eine literarische Figur Nietzsches, die nicht mit ihm als Autor zu identifizieren ist. Nietzsche treibt jedoch dieses literarische Rollenspiel noch weiter, indem er mit dem Schatten eine weitere literarische Figur einführt, die von Zarathustra als „Possenreißer“ (KSA 14.337), also als nicht vertrauenswürdig, eingeführt wird.

Somit bleiben, das lässt sich als These aus dem bis hierhin Analysierten ableiten, nicht nur die Figuren des Wanderers und seines Schattens, sondern auch die von Nietzsche selbst als Autor seiner Schriften einer Ambiguität unterworfen. Auch Zittel stellt in diesem Sinne fest, dass viele Selbstzuschreibungen, die „Nietzsche in den Mund“ (138) gelegt worden seien, nicht unbedingt mit dem Autor Nietzsche identisch sind. Losungen wie „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“ oder wie die vom „guten Europäer“ sind somit nicht eins zu eins zu verstehen, sondern werden bei Nietzsche oft von der Figur des Schattens ausgesprochen (138).[7] Nietzsche identifiziert sich demnach – das kann im Anschluss an Zittel festgehalten werden – nicht in allen Fällen selbst als Autor seiner Schriften und steht somit nicht eindeutig hinter allen Aussagen, die in seinen Schriften getroffen werden. Er durchläuft also viele Stufen von literarischen Figuren und Masken.[8]

Bis hierhin lässt sich somit feststellen: Nietzsches Buch Der Wanderer und sein Schatten ist ein gegenüber Menschliches, Allzumenschliches unabhängiges Werk. Die Tatsache, dass Nietzsche sowohl in Jenseits von Gut und Böse (1886)[9] als auch im Zarathustra zur Schatten-Metaphorik sowie zur Dialogform zurückkehrt, unterstreicht noch einmal die Wichtigkeit, die der Wanderer im gesamten Œuvre Nietzsches einnimmt, sowie die Dringlichkeit, sich ausführlicher als bisher mit diesem Werk auseinanderzusetzen. Metaphorisch gesprochen: Ähnlich, wie sich im Wanderer und später im Zarathustra der Schatten gegenüber seinem „Urheber“ unabhängig macht, so wird auch das Werk Der Wanderer und sein Schatten unabhängig von Menschliches, Allzumenschliches, mit welchem es oft identifiziert worden ist.

Zittel kommt am Ende seines Artikels zu dem Schluss, dass Nietzsche sich im Zarathustra in „wechselnde Rollenidentitäten“ (143) aufteilt, welche auch immer wieder „Positionen von Zarathustra“ (143) einnähmen und diese in Teilen sogar parodierten. Damit einher gehe somit eine „performative Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Sprecherinstanz“ (143), welche im Zarathustra auf vielfältige Weise inszeniert werde. Der Schatten stelle in diesem Rollenspiel wiederum eine höhere Instanz dar, und an dem Dialog mit dem Schatten zeige sich ein „Meta-Dialog“ (143), da „er die im Buch häufig vorgenommenen Rollenwechsel selbst zum Thema macht […]: Der Schatten ist das Urbild von Zarathustras Doppelgängern“ (143). Am literarischen Spiel mit seinen eigenen Autoren-Schatten, so ließe sich im Anschluss an Zittels Überlegungen sagen, zeigt Nietzsche performativ auch die weitaus umfassendere Unmöglichkeit einer ungebrochenen Existenz im Allgemeinen. Es gibt kein „wirkliches“, essentialistisches Ich, das sich von einem scheinbaren Schatten-Ich abgrenzen ließe. Zittel schließt seinen Artikel dementsprechend: „Es gibt kein wahres Ich hinter dem Falschen. Es leben die Schatten. Wir leben als Schatten“ (143).

Ähnlich, wie Zittel (124 f.) bei Nietzsche Licht und Schatten als Metaphern für Wirklichkeit und Schein herausarbeitet,[10] bestimmt Hans Ruin in seinem Beitrag Licht und Schatten als das Verhältnis von Wahrheit und Lüge (153). Für Ruin ist der Schatten und damit die Lüge bzw. die Fiktion notwendiger Bestandteil der Erkenntnis. Das Licht der Erkenntnis der Aufklärung benötigt demnach als Ergänzung die Perspektive des Schattens als seines unbewussten, kreativen Untergrundes:

Vielmehr ist der Schatten zutiefst verbunden mit der Art seines Schreibens, das […] ein Schatten-Schreiben ist: ein Schreiben unter einer metaphysischen Blende, welches das Phänomen des Lichtes, der Erleuchtung und der Aufklärung von der unbeleuchteten Warte und Perspektive des Schattens aus erkundet (151).

Ruin betont zudem Nietzsches Bezug zum Kynismus, da dieser – wie Diogenes – den Wanderer darum bittet, aus der Sonne zu gehen (157). Das wäre ironischerweise gleichbedeutend mit dem Verschwinden des Schattens des Wanderers. Ruin deutet den abschließenden Ausruf des Wanderers „Wo bist du? Wo bist du?“ als wirkliches Verschwinden des Schattens, da die Person, die den Schatten werfe, aus der Sonne gegangen sei (157). Jedoch muss die Auflösung des Schattens nicht nur an das Zurücktreten der Person aus dem Licht, sondern auch mit dem Sinken der Sonne verknüpft werden. Brücker hatte in seinem Artikel sehr zutreffend darauf hingewiesen, dass das Sinken der Sonne keineswegs gleichbedeutend mit dem Verschwinden des Schattens sei, sondern in einer Berglandschaft dessen Ausbreitung in eine Omnipräsenz bedeutet (74). Diese Textstelle und die auseinandergehenden Meinungen von Brücker und Ruin darüber sind also besonders interessant. Brücker interpretiert das Sich-Ausbreiten des Schattens auf das Tal als eine Einswerdung des Textes mit seiner Umgebung (74 f.). Die abschließende Dialogszene zwischen Wanderer und Schatten lässt sich, über Brückers Überlegungen hinausweisend, jedoch auch subjektphilosophisch, nämlich als Forderung nach einer kosmischen Dekonstruktion von Subjektivität deuten. Denn die Bitte des Schattens an seinen „Herrn“, ihm aus der Sonne zu gehen, geht damit einher, dass der Wanderer sich selbst in den Schatten der Fichten stellt und somit keinen eigenen Schatten mehr wirft. Erst also, weil die Sonne sinkt und der Wanderer zugleich den Schatten „freigibt“, indem er sich selbst in einen Schatten stellt, kann sich der Schatten von seinem Herrn und seinen subjektiven Konturen lösen und sich in einer breiteren, ganzheitlicheren Schattenhaftigkeit auflösen. Diese Auflösung von Subjektivität in eine prä-subjektive und kosmische Ganzheit soll vom Wanderer, so die Bitte seines sich auflösenden Schattens, auch auf eine ästhetische Weise genossen werden. Das Untergehen der Sonne in einer Berglandschaft – und das damit einhergehende Naturschauspiel des sich über das Tal legenden Schattens – kann vom Wanderer nur unter der Bedingung ästhetisch betrachtet werden, seinen eigenen Schatten aufzugeben. Anders ausgedrückt: Schönheit entsteht erst über die Aufgabe des eigenen Ichs, verstanden als autonomes und ursächliches Subjekt. Folgt man dieser Deutung, so ist der Ratschlag des Schattens am Ende des Schlussdialogs vom Wanderer als Anregung zu verstehen, das Schauspiel des sich in eine Omnipräsenz auflösenden Ichs zu genießen: „Tritt unter diese Fichten und schaue dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt“ (WS, Schlussdialog). In einer Nachlass-Stelle, welche ebenfalls der Zeit der mittleren Werkphase entstammt, verleiht Nietzsche dieser Forderung nach der Aufgabe des Egos Ausdruck: „Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! […] Über „mich“ und „dichhinaus! Kosmisch empfinden!“ (Nachlass 1881, 11[7], KSA 9.443).

Gegen Ende seines Beitrags entwirft Ruin anhand des Zarathustra eine eigene These zu Nietzsches Idee von Autorenschaft. Während Brücker den Dialog zwischen Wanderer und Schatten im Wanderer als Dialog des Autors mit seinem Text charakterisiert, erweitert Ruin diese Perspektive. Im Zarathustra wird aus seiner Sicht Nietzsche selbst als Autor seiner früheren Schriften aufgeführt. Die Einswerdung von Wanderer und Schatten, auf die schon Zittel verwiesen hatte, kann Ruin zufolge nur geschehen, weil das Werk Der Wanderer und sein Schatten bereits abgeschlossen, d. h. publiziert und hinter sich gelassen wurde. Somit führe Nietzsche im Zarathustra diese Einswerdung als Einswerdung des Autoren-Ichs mit seinem Schatten vor (159). Deutlich werde dies daran, dass Nietzsche den Schatten ein Lied singen lasse, welches direkt aus Nietzsches eigener Feder in einem Werk außerhalb von Also sprach Zarathustra entspringe:

Zuletzt greift dann der Wanderer / Schatten / Autor die Harfe […] und beginnt zu singen. Und was singt er? Er singt einen Teil von Nietzsches eigenen Dithyramben den zweiten Teil der „Töchter der Wüste“, den er zur gleichen Zeit komponiert hat. So singt der allegorisierte Autor […] sein eigenes Gedicht für seine poetische Erfindung Zarathustra, um ihn zu erfreuen! Er, der Autor Nietzsche – der seine literarische Stimme sechs Jahre zuvor in einem Gespräch mit seinem Schatten gefunden hatte –, erscheint nun selbst als Schatten seines erschaffenen poetischen Helden (159 f.).

Im Anschluss an diese überaus dichten und aufschlussreichen Ausführungen Ruins lässt sich sagen: Nietzsche hat sich im Zarathustra in Teilen bereits inhaltlich aus der Werkphase von Menschliches, Allzumenschliches und Der Wanderer und sein Schatten verabschiedet. Dies wird auch an Zarathustras Klage über zu viel Erkenntnis und Aufklärung (158 f., Za IV, Der Schatten) deutlich: Hiermit ist auch eine Abkehr von der gemeinhin als „aufklärerisch“ und „positivistisch“ bezeichneten Phase von Nietzsches Denken während Menschliches, Allzumenschliches angesprochen.[11] Erst durch diese Überwindung und Weiterentwicklung kann der Autor dieser Schriften zum Schatten werden. Nietzsche stellt sich im Zarathustra also selbst als den zum Schatten gewordenen Autor seiner früheren Schriften vor: „so setzt Nietzsche sich hier selbst als Figur in seine eigene Erzählung hinein“ (160).

Neben jener kosmischen Auflösung von Subjektivität hat das Verschwinden des subjektiven Schattens am Ende vom Wanderer also noch eine andere, literarische Bedeutung: Die Publikation vom Wanderer sowie die inhaltliche Distanzierung gegenüber der Werkphase von Menschliches, Allzumenschliches hat das Loslassen vom alten Autoren-Ich und somit auch die Auflösung des schreibenden Subjekts in eine Schattenhaftigkeit zur Folge. Hierzu schreibt Ruin: „Am Ende wird er sich selber als unbegreifbaren Rest seiner eigenen literarischen Schöpfung erfahren und präsentieren, das heißt: als deren Schatten“ (164). Im Zarathustra lässt Nietzsche also den Autor von Menschliches, Allzumenschliches und auch vom Wanderer bis zu einem gewissen Grade hinter sich. Jedoch bleibt, so Ruin, der Wanderer entscheidend für Nietzsche und sein Selbstverständnis als literarischer Autor und als Philosoph: „Zwischen WS und Za ist Nietzsche erst wirklich zum Autor geworden“ (163).

2. Tobias Brückers Monografie Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“ beschäftigt sich ebenfalls ausführlich mit Nietzsches gleichnamiger Schrift. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt in der Darstellung der Schreibsituation sowie der Entstehungsgeschichte vom Wanderer. Das Buch zeichnet sich insgesamt durch Stringenz sowie einen hohen Grad an Originalität aus; besonders, wenn es um die Analyse der Bedeutung von Nietzsches Schreibtechnik für dessen Philosophie geht.

Es teilt sich auf in eine Einleitung und drei größere Hauptkapitel mit diversen Unterpunkten. In der Einleitung beschreibt Brücker den methodischen Zugriff auf Nietzsches Werk. Dabei greift er auf Hans-Jörg Rheinbergers Theorie des „experimentellen Arrangements“ zurück.[12] So gleiche Nietzsches Schreibverfahren im Wanderer dem eines naturwissenschaftlichen Experiments (2). Statt Proben und Apparaten seien bei geisteswissenschaftlichem Arbeiten die Instrumente „Notizbücher […], Briefe, Lektüren, Landschaften, Diäten und Schreibverfahren“ (2). Ein solches Schreibverfahren sei, so Brücker mit Bezug auf Christoph Hoffmann, immer geprägt von der Umgebung (3).[13] Für den Fall Nietzsche bedeute dies, dass dieser durch das bewusste Aufsuchen bestimmter Kurorte („Kurort-Philosophie“) und das Praktizieren diätetischer Praktiken die Umgebung seines Schreibens strukturiert habe. Das Schreibverfahren, das ist eine der zentralen Thesen des Buches, entwickle sich somit stets in einer Schreibsituation. Beides hätte auch Einfluss auf die Inhalte der Philosophie: „Die Philosophie entwickelt sich im und beim Schreiben weiter“ (3). Auch wenn es generell richtig ist, Nietzsches Philosophieren und im Besonderen seine Schreibtechnik als ein Experiment und als Spiel mit Dosierungen zu beschreiben, so lässt sich doch fragen, ob dessen Wissenschaftskritik (Kritik an wissenschaftlichen Methoden, am Begriff der Objektivität und am Begriff der Wahrheit) es generell zulässt, ausgerechnet einen Ansatz aus der Naturwissenschaft heranzuziehen, um Nietzsches Schreiben zu charakterisieren.[14] In jedem Fall hat Nietzsche den Begriff der Wissenschaft im zeitnah erschienenen Menschliches, Allzumenschliches immer wieder mit der Philologie statt mit der Naturwissenschaft parallelisiert.[15]

Der Wanderer wird nun von Brücker als „Fallbeispiel“ (3) für die Analyse eines solchen philosophischen Schreibens herangezogen. Wie schon Boehm vertritt auch Brücker die These von der grundsätzlichen Selbstständigkeit vom Wanderer im Gesamtwerk Nietzsches: Der Wanderer sei „mehrheitlich […] formal und inhaltlich“ als „eigenständige Publikation“ (4) wahrzunehmen. Auch in Brückers Monografie spielen die bereits angesprochenen Themen der Autorenschaft und der Schrift eine zentrale Rolle: Das „Verhältnis von Autor, Schrift und Leser“ (5) stehe im Zentrum der Betrachtung. Eine weitere grundsätzliche These in der Analyse vom Wanderer besteht für Brücker in der Annahme, dass „die Bedeutung dieses Buches für Nietzsches Philosophie nicht bloss im Text, sondern auch in der Produktionsweise und der Werkpolitik liegt“ (7). Somit werde Nietzsches Grundgedanke des Werdens nicht nur inhaltlich, sondern auch formal umgesetzt: Philosophie werde von Nietzsche nicht mehr mit dem Anspruch betrieben, objektive und feste Überzeugungen darzulegen und zu entwickeln. Dies zeige sich auch in dessen Produktionsweise beim Wanderer, die über eine mehrstufige Abfolge von Notizbüchern bis hin zur Publikation einen vorübergehenden, werdenden, niemals komplett finalisierten Arbeitsprozess darstelle. Mit dem methodischen Einbeziehen der Manuskripte dürfe jedoch nicht eine Abwertung des Schreibens gegenüber dem Denken einhergehen, wie es besonders in der englischsprachigen Werkausgabe in Teilen geschehen sei (19). Die Notizbücher seien also kein Zeugnis eines Denkers, der nach einer adäquaten Form des Schreibens für sein Denken suche, wie es selbst verdiente Nietzsche-Forscher angenommen hätten. Vielmehr sei, was Nietzsche angehe, gerade nicht mehr von einem „unabhängige[n] Autor“ zu sprechen, „der sich seine Formen autonom auswählt“ (20). Denn dies käme letztlich dem Genie-Gedanken gleich, den Nietzsche wiederum in Menschliches, Allzumenschliches so nachhaltig zurückgewiesen habe.

Brücker geht darüber hinaus auf die in der Forschung[16] bereits breiter diskutierte Frage ein, ob die Vermischten Meinungen sowie der Wanderer eigenständige Werke oder aber einen Anhang von Menschliches, Allzumenschliches darstellten (22 ff.). Um diese Frage beantworten zu können, stelle sich wiederum die Frage, ob sich der Wanderer in die sogenannte freigeistige Phase Nietzsches einordnen lasse, von der im Allgemeinen gesprochen werde, wenn es um die Charakterisierung von Menschliches, Allzumenschliches oder Die fröhliche Wissenschaft gehe. Brücker zieht dies in Zweifel, indem er zurecht auf zentrale Unterschiede zwischen Menschliches, Allzumenschliches und den Wanderer hinweist. So vertrete Nietzsche im Wanderer eine demokratiefreundlichere Haltung als in Menschliches, Allzumenschliches; zudem sei der sentenzenhafte Stil von Menschliches, Allzumenschliches, der sich vor allem an den französischen Moralisten orientiere, durch einen „lockeren Stil“ (23) ersetzt worden. Außerdem finde sich im Wanderer ein verändertes Verhältnis zur Autorenschaft. Ergänzend hierzu weist Brücker darauf hin, dass der Wanderer das erste Werk Nietzsches sei, das in einer isolierten Umgebung (St. Moritz) und Schreibsituation sowie mit einem durchgängigen Schreibverfahren verfasst worden sei. Trotz all dieser Spezifizierung vom Wanderer betont Brücker, dass „der Status des Wanderer nicht eindeutig bestimmt“ (25) werden könne, da Nietzsche selbst wiederholt von Menschliches, Allzumenschliches als einem Werk mit zwei Anhängen gesprochen habe. Unter Abwägung all dieser Argumente kommt Brücker am Ende zu folgender These:

Der Wanderer war bis 1885, als Nietzsche eine vollständige Überarbeitung von Menschliches plante, in den Augen des Autors grösstenteils ein eigenständiges Werk. Um die heute selbstverständliche Einordnung vom Wanderer als Nachtrag zu Menschliches zu verstehen, muss der Kontext der Neuen Ausgaben von 1886 rekapituliert werden (26).

Nietzsches neue Vorrede von 1886 ordnet den Wanderer sowie die Vermischten Meinungen und Sprüche als Anhänge zu Menschliches, Allzumenschliches. Jedoch mahnt Brücker auch hier Zweifel an, inwiefern man den neuen Vorreden Nietzsches unhinterfragt folgen solle, wenn es um die Einordnung vom Wanderer gehe. Denn Nietzsche verfolge mit diesen Vorreden auch werkpolitische Ziele für die Neuausgabe wie z. B. die Konstruktion einer „Werkkohärenz“ (29).

Zunächst ist hierzu festzustellen, dass Brücker zu Beginn seiner Monografie den Wanderer noch sehr viel eindeutiger als eigenständiges Werk darstellte (4). Seine Meinung scheint sich also im weiteren Verlauf des Buches auszudifferenzieren. Brückers Auffassung zum Thema einer vermeintlichen Eigenständigkeit vom Wanderer fällt also ambivalenter aus als z. B. die von Timon Boehm. Dieser hatte in der Einleitung zum Sammelband den Wanderer nicht nur als eigenständiges, sondern sogar als Schlüsselwerk Nietzsches bestimmt und dies u. a. damit begründet, dass Nietzsche mit dem Wanderer und dem Schatten zwei Figuren etabliert habe, die sich „von nun an durch sein Gesamtwerk“ (10) ziehen würden. Zudem komme dem Wanderer eine besondere Bedeutung zu, weil hier zentrale Merkmale nietzscheanischer Philosophie (wie sein Perspektivismus) zum ersten Mal zum Ausdruck kämen. Dies sind sehr valide Punkte, vor allem, wenn man sie mit den von Brücker selbst hervorgebrachten formalen Argumenten verbindet, die für die Eigenständigkeit vom Wanderer spricht. Auch Claus Zittel betont die Eigenständigkeit vom Wanderer, einem Werk, das zwar als Anhang geläufig, jedoch separat veröffentlicht worden sei (103). Dieses Argument ist ebenfalls gewichtig. Insgesamt sprechen daher deutlich mehr Argumente für eine Selbstständigkeit von Nietzsches Wanderer. Nietzsches eigene, ab 1886 erfolgte, zeitweilige Einordnung des Werkes als Anhang muss aufgrund von veränderten Vorzeichen seiner Philosophie zu dieser Zeit stark relativiert werden.

Brücker analysiert darüber hinaus das Verhältnis von Autor und Schrift anhand der Bedeutung des Figurenpaars von Wanderer und Schatten im Wanderer. Er führt in diesem Zusammenhang den Phaidros-Dialog von Platon an: Dort werde in der Unterscheidung von Schrift und Rede die Schrift lediglich als Schattenbild der eigentlichen und wahrhaften Rede beschrieben (75).[17] Nach dieser Argumentation Brückers steht der Schatten in Nietzsches Wanderer sinnbildlich für die eigene Schrift, hat also selbstreferenziellen Charakter: „Der Wanderer führt dann nämlich weniger einen Dialog mit sich selbst als mit der Schrift“ (75). Dieser These wird (wie gesehen) von Claus Zittel (134) kritisch begegnet. Zittel muss hierin zugestimmt werden, zum einen, weil Nietzsche an vielen Stellen seines Werkes die Gleichwertigkeit und das dialektische Spiel zwischen Licht und Schatten, d. h. zwischen Wirklichkeit und Schein, betont (JGB 34). Zum anderen muss – wie ja eigentlich Brücker auch selber betont hat (20) – bei Nietzsche von einer grundsätzlichen Untrennbarkeit von Autor und Schrift ausgegangen werden. Das Werk und die Philosophie entstehen für Nietzsche demzufolge beim Schreiben, und es gibt keinen selbstständigen Autor, der nur noch nach Formen für den Ausdruck seiner Philosophie sucht. Das Gespräch zwischen dem Wanderer und seinem Schatten kann daher nicht als Dialog zwischen Autor und Schrift identifiziert werden. Vielmehr sollte von einer Einheit oder zumindest von einer Untrennbarkeit von Autor und Schatten ausgegangen werden – wie für Nietzsche Wahrheit nicht mehr von Fiktion und die wirkliche Welt nicht mehr von der scheinbaren unterschieden werden können.[18]

Zittel (134) betonte zudem mit Recht (und auch Brücker weist in einer Fußnote darauf hin), dass Platon nur in der Schleiermacher-Übersetzung von einem Schattenbild spricht und in anderen Übersetzungen nur von einem Abbild die Rede ist. Selbst wenn man jedoch die Übersetzung vom „Abbild“ übernimmt, so ist der Wanderer dem Schatten weder im Wanderer noch im Zarathustra überlegen, denn, wie der Bezug zu Andersens Schatten als Doppelgängerfigur (Zittel 124 f.) zeigt, der Schatten übernimmt teilweise sogar die Rolle des Wanderers und ist somit dem Wanderer oder dem Autor nicht hierarchisch unterlegen.

Brückers Idee, Nietzsche mit Platons Schriftkritik kurzzuschließen, muss daher generell in Frage gestellt werden. Sicher birgt die Schattenmetaphorik Referenzen zu Platons Werk, jedoch bedeutet dies nicht, dass Nietzsche dessen Ansichten übernimmt. Vielmehr scheint es, dass er dessen Auffassung von „wahrer“ und „scheinbarer“ Welt ironisch bricht und umkehrt. Brücker jedoch hält daran fest, dass Nietzsche eine quasi-platonische und dualistische Version der Lese- und Schreibkunst vertritt: „Nietzsche löst Platons Unterscheidung zwischen Schrift und Rede nicht auf, sondern überführt sie in eine auf den Leser ausgerichtete Schreibpraktik“ (77). Immerhin schränkt Brücker ein: „Die Schrift ist nicht entkoppelt von Schreiben und Lesen. Deshalb braucht es eine Schreibkunst und eine Lesekunst“ (77). Die Idee solle somit im Leser wiedererzeugt werden (78). Zugestimmt werden muss Brücker hingegen bei dessen Einwand gegen Deutungen aus der Nietzsche-Forschung, die die Figur des Wanderers allzu einseitig und voreilig mit der nietzscheanischen Idee des freien Geists identifizieren. Denn wie Zittel in seinem Beitrag richtigerweise feststellt, spielt Nietzsche, besonders im Zarathustra, mit diversen Identitäten als Autor und stellt viele seiner Thesen, Terminologien (wie „freier Geist“) und Werke als bereits „schattenhaft“ bzw. doppelgängerhaft vor (138).

Unterstützt werden muss zudem Brückers Ansicht, dass Nietzsche das souveräne Autoren-Ich bzw. das Künstler-Ich zurückweise, wie er auch – bereits in seiner mittleren Werkphase – nachhaltig das „souveräne Subjekt“ (84) im Sinne einer autonomen Urheberschaft kritisch hinterfrage. Sehr nachvollziehbar wird von Brücker auch Nietzsches Schreibsituation während des Verfassens vom Wanderer beschrieben: so stellt er detailliert – und anhand von Nietzsches Briefen – den Einfluss der „physisch-materiale[n] Umgebung“ (86) auf Nietzsches Schreiben dar. Darüber hinaus wird das Wandern als Nietzsches Schreibverfahren herausdestilliert, was durch einen Brief Nietzsches an Peter Gast belegt wird: „Alles ist, wenige Zeilen ausgenommen, unterwegs erdacht und in 6 kleine Hefte […] skizziert worden“ (5. Oktober 1879, Nr. 889, KSB 5.450, 86).[19] Außerdem arbeitet Brücker überzeugend heraus, dass auch die Umwelt als zeitliche Abfolge von Tag und Nacht Einfluss auf Nietzsches Schreiben hatte: „Die zeitliche Dimension der Schreibsituation kommt auch im Rahmendialog des Wanderers zur Sprache. Die Gesprächszeit zwischen Wanderer und Schatten ist nämlich begrenzt durch das Tageslicht der Sonne“ (88).

An einer späteren Stelle revidiert Brücker seine eigene These vom Wanderer als Autor und dem Schatten als seiner Schrift (75), indem er nun den „Autor und Leser als Wanderer und Schatten“ (132) betrachtet. Der Dialog zwischen Wanderer und Schatten ist also der zwischen Autor und Leser. Denn der von Nietzsche eingeforderte „Ungehorsam gegenüber dem Autor“ (132), der aus der Ent-Autorisierung des Autoren-Ichs hervorgehe, ginge einher mit einer freundschaftlichen Vertrautheit des Autors mit seinen Lesern. Brücker interpretiert somit den Rahmendialog vom Wanderer in diesem Sinne: „Aber du hattest Recht: gute Freunde geben einander hier und da ein dunkles Wort als Zeichen des Einverständnisses, welches für jeden Dritten ein Rätsel sein soll. Und wir sind gute Freunde“ (WS, Rahmendialog, 132). Diese „Schatten-Leser Vermutungen“ (137) sind insgesamt durchaus legitim, jedoch stellt sich die Frage, inwiefern sie sich mit Brückers eigener These von der Synonymität „Schrift-Schatten“ widersprechen.

Brücker widmet sich darüber hinaus der Wichtigkeit der Diätetik für Nietzsches Verständnis vom Schreiben (152 ff.). Die Themen der Diätetik und der Selbstsorge sind, wie bereits weiter oben angedeutet, in der jüngeren Nietzsche-Forschung ausführlich behandelt worden.[20] Den Zusammenhang zu Nietzsches Auffassung vom Schreiben herzustellen ist jedoch originell: Nietzsche spricht in MA II, WS 16 von den „nächsten Dinge[n]“ (wie Essen, Wohnen, Kleidung etc.), denen es wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken gelte. Die Formulierung von den „nächsten Dinge[n]“ verweist auch auf die spätere Werkphase Nietzsches,[21] was zeigt, dass er sich diese Themen betreffend treu blieb. Brückers These in diesem Zusammenhang ist folgende: „Die Diätetik prägt […] nicht nur Nietzsches Philosophie, sondern auch seine Vorstellung von Lesen, Schreiben und Autorenschaft“ (152). Brücker stellt fest, dass Nietzsche seine Anleitungen zur Diät zum einen aus der antiken Philosophie der Selbstsorge und zum anderen aus zeitgenössischen, populärwissenschaftlichen Texten zog. Die Diätetik wurde laut Brücker zum Teil „der Organisation seines Schreibverfahrens“ (153).

In der Beschreibung der Bedeutung der Diätetik geht Brücker – wie bereits kurz angedeutet – auch auf Foucaults Analysen der antiken Selbstsorge ein (161).[22] Brücker betont, dass Foucaults Auffassung einer diätetischen Lebenskunst „nicht aus einem allgemeinen Wissen, sondern aus Praktiken, welche auf das eigene Selbst angewendet werden“ (162), bestünden. Nietzsche verwende im Wanderer zudem den sokratischen Topos der Selbsterkenntnis, da wir in den alltäglichen Dingen unwissend seien und deshalb von dem ärztlichen Blick Anderer abhingen (MA II, WS 6).[23] Die Selbsterkenntnis ist also die Voraussetzung für die rechte Sorge um sich selbst und befreit uns von der Notwendigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis: „Kennt man sich selbst, ist man auf feste Resultate und klare Erkenntnisse nicht mehr angewiesen“ (165).

Der wissenschaftsorientierte „Freigeist“ aus Menschliches, Allzumenschliches wird somit ergänzt durch die Figur des Wanderers, der seine Selbstbestimmtheit aus einer aus Selbsterkenntnis gespeisten, leiblich orientierten Sorge um sich selbst ableitet. In diesem Zusammenhang kommt Brücker jedoch auch zu der etwas kryptischen Schlussfolgerung, dass der Schatten den „nahen Alltag, die Diät und die Umgebung“ (166) personifiziere, da der Schatten im Schlussdialog vom Wanderer von jenen nächsten Dingen spreche, die ihm zugutekämen. „Einen Schatten zu haben“, so schlussfolgert Brücker, „heisst, einen Leib zu haben“ (166). Selbstverständlich ist Nietzsches Schatten-Metapher nicht monokausal zu erklären. Dennoch entsteht an dieser Stelle eine Unklarheit: Steht der Schatten nun für die Schrift oder für die Umgebung? Steht er sinnbildlich für die Diät? Oder für ein Doppelgänger-Autoren-Ich? Da von Brücker der Schatten wiederholt als Erklärung für zum Teil sehr verschiedene nietzscheanische Begriffe (Diät, Schrift oder Leser) eingesetzt wird, entsteht eine gewisse inhaltliche Beliebigkeit.

Ausdrücklich zuzustimmen ist Brücker hingegen bei seiner These, dass sich Nietzsches Diätetik-Philosophie aus dem Wanderer konsequent in seinem späteren Werk fortsetze. Denn die Rede von den „nächsten“ und den „kleinen“ Dingen, die zuerst im Wanderer auftaucht, kehrt sowohl in Die fröhliche Wissenschaft als auch in seinem Spätwerk Ecce homo (1888) an entscheidender Stelle zurück: „diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Clima, Erholung […] – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm“ (EH, Warum ich so klug bin 10). In Die fröhliche Wissenschaft übernehme Nietzsche laut Brücker zudem Teile seiner Theorie zur diätetischen Schreibsituation, welcher er zur Entstehungszeit vom Wanderer in St. Moritz entwickelt hatte: „Die diätetisch verstandene Selbsterkenntnis sowie der Wille, mit diesem Wissen die eigene Existenz nach bestimmten Kriterien zu formen, findet sich erstmals in der Lehre der ‚nächsten Dinge‘ und in der St. Moritzer Schreibsituation“ (194).[24]

Anschließend an diese Überlegungen Brückers muss man hinsichtlich der Debatte um die Wichtigkeit des Wanderers für Nietzsches Gesamtwerk festhalten: Nietzsches Wanderer hat in Hinblick auf das Thema der Schreibsituation und seine Auffassung von Diät und Selbstsorge eine zentrale Bedeutung und läutet sowohl für Nietzsches Schreibstil als auch für seine Philosophie eine Wende ein.

Im finalen vierten Kapitel seines Buches widmet sich der Autor schwerpunktmäßig der Rolle des Schreib-Materials für die nietzscheanische Autorenschaft sowie der Rolle der Philosophie des Werdens für Nietzsches eigene Werkpolitik. Brücker stellt hierbei die These auf, dass der Wanderer auf dem Weg zu Nietzsches Philosophie einen „Meilenstein“ (240) darstelle, denn Nietzsche hätte zur Entstehungszeit vom Wanderer einen aphoristischen Schreibstil etabliert, welcher sich durch „rasche Verwertung“ auszeichne und der „eingebettet“ sei in „eine Philosophie des Werdens“, die auf inhaltlicher Ebene den „momentanen Denkzustand“ (240) Nietzsches abbilde. Die derzeitigen Hauptelemente von Nietzsches Philosophie, so die These Brückers, drückten sich also auch in seinem Schreibstil aus: „Die Philosophie des Werdens ist daher Philosophie, Schreibverfahren und Werkpolitik in Einem“ (240).

Richtigerweise zitiert und unterstreicht Brücker die Überlegungen von Christian Benne und Enrico Müller, wonach für Nietzsche das Material seiner Schriften nicht mehr „im Sinne der Tradition als schon existierende Materie [denkt], die wie der Ausgangsstoff des Bildhauers nur noch zur Plastik geformt wird. Vielmehr wird das Material im Prozess der Formgebung miterzeugt“ (242).[25] Wenn sich Brücker jedoch hinter diese Zurückweisung souveräner und ursächlicher Autorenschaft und Subjektivität bei Nietzsche stellt, so bleibt die Frage zu beantworten, warum er andererseits eine Unterscheidung zwischen Autor und Schrift betont (75). Dies wiederum würde gerade suggerieren, dass es einen solchen autonomen Autor gäbe, welcher souverän über ein bereits fertiges Material verfüge, für das er lediglich die richtige Form finden müsse.

Solche kleineren kritischen Punkte und Widersprüche machen jedoch nicht die Genauigkeit und Originalität von Brückers Thesen ungeschehen. So beschreibt er z. B. die Schreibkunst Nietzsches, welche darin bestünde, „das lebendige Werden im Aggregatszustand der Meinung einzufangen“ (256). Hiermit beschreibt Brücker sehr zutreffend die Bedeutung, die Nietzsches aphoristischer Stil auch hinsichtlich der Inhalte seiner Philosophie habe: Wenn man ernst macht mit der Ansicht, dass alle Erkenntnis nur vorübergehend, sprachlich vermittelt und interessengeleitet sein kann und dass der Gedanke einer objektiven Wahrheit ersetzt wird durch viele, perspektivische Scheinwahrheiten, so muss sich dies auch im Stil zeigen, in der solche Erkenntnisse vorgetragen werden. Meinungen, so folgert Brücker scharfsinnig, sind also für Nietzsche nichts Unfertiges oder Negatives, keine „unausgearbeiteten Gedanken, die er nicht zu Überzeugungen gebracht hat“ (256), sondern in aphoristischer Form vorgetragene Meinungen seien vielmehr Abbildung des Lebens selbst, welches immer im Werden begriffen ist und in dem sich Erkenntnisse nur perspektivisch erschließen lassen.

Für Nietzsche besteht demnach, so lässt sich in Anschluss an Brücker feststellen, ein höherer Wert in der Darstellung vorübergehender Scheinwahrheiten als darin, in metaphysischer Manier die objektive Richtigkeit solcher „Wahrheiten“ zu behaupten. Und für eine solche Herangehensweise spielt wiederum der Stil eine entscheidende Rolle. Dies wurde, und auch hierin muss man Brückers Überlegungen folgen, von Nietzsche sogar in eine kritische Methode verwandelt. So änderte Nietzsche im Verlauf seines Gesamtwerkes seine Meinungen oft, aber eben aus einer Methode heraus: „wir müssen Verräther werden“, zitiert Brücker den Nietzsche aus Menschliches, Allzumenschliches, „Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben“ (MA I 629, 258). Anders ausgedrückt: Nietzsche bestätigt gerade durch die Wankelmütigkeit seiner philosophischen Überzeugungen deren wahrscheinlich wichtigste Konsequenz: nämlich den Werdenscharakter des Daseins sowie das notwendig Vorübergehende der Meinungen und Überzeugungen.

Im abschließenden Fazit verweist Brücker noch einmal auf die Wichtigkeit der Philosophie des Werdens auch für die Produktion von Nietzsches Werken: „Das rasche Notieren und Publizieren bilden die materiale Grundlage der Philosophie des Werdens“ (279). Die Richtigkeit dieser Aussage hätte an der ein oder anderen Stelle noch etwas spezifiziert werden können, indem auch auf die philosophischen Grundlagen von Nietzsches Werdensphilosophie (Leibphilosophie, Erkenntniskritik, Begriff der Interpretation, Heraklitismus) noch etwas genauer hätte eingegangen werden können.

In jedem Fall endet Brücker mit der durchaus begründeten Hoffnung, dass sich ein Buch wie Der Wanderer und sein Schatten im Idealfall auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten schreiben ließe. Denn das Einführen einer bestimmten experimentellen Methode über längere Zeitstrecken hinweg könnte diesbezüglich eine gewisse Kohärenz garantieren:

Auf den Wanderer übertragen heisst dies, dass die St. Moritzer Schreibsituation im Optimalfall an anderen Orten ebenfalls durchführbar ist und dabei andere Gedanken (sprich Differenzen) entstehen lässt. Die reproduktive Kohärenz wird durch die Bestandteile der Schreibsituation und der Schreibverfahren garantiert (286).

3. Ruth Abbeys Buch Nietzsche’s “Human, All Too Human”. A Criticial Introduction and Guide möchte eine generellere Einführung in Menschliches, Allzumenschliches liefern und spezialisiert sich nicht, wie die beiden bereits besprochenen Bücher, auf bestimmte Aspekte aus Nietzsches mittlerer Werkphase. Die Einführung ist insgesamt verständlich und nachvollziehbar verfasst. Sie liefert eine gute Übersicht über zentrale Aspekte aus Menschliches, Allzumenschliches (Moralkritik, Religionskritik, Wahrheitskritik, Wissenschaftlichkeit) und formuliert hierbei auch eigene Thesen wie die zu Nietzsches pragmatischer Erkenntniskritik. Die Autorin entwirft in diesem Zusammenhang den im Laufe des Buches immer wiederkehrenden Begriff „epistemology-plus“ (14). Hiermit ist gemeint, dass Nietzsche nicht bloß nach dem Wahrheitsgehalt bestimmter Aussagen und Erkenntnisse fragt, sondern auch danach, was für eine Art Mensch zu solchen Erkenntnissen fähig ist bzw. ob es dem Einzelnen gelingen kann, Befriedigung aus solchen Erkenntnissen zu ziehen.

Die Verfasserin ordnet ihr Buch in eine Einleitung und elf Kapitel. Diese Strukturierung orientiert sich an den elf Hauptstücken aus Menschliches, Allzumenschliches I und II, die von der Autorin chronologisch durchgearbeitet werden. Für unseren Zusammenhang ist es weniger interessant, diese allgemeine Darstellung von Menschliches, Allzumenschliches nachzuzeichnen. Vielmehr soll im Folgenden der Fokus auf Abbeys Punkten und Thesen liegen, die besonders interessant oder originell erscheinen und die thematisch an die bis hierhin besprochenen Bücher anknüpfen.

Was das Verhältnis von Menschliches, Allzumenschliches, Vermischte Meinungen und dem Wanderer angeht, so vertritt Abbey in ihrer Einleitung die Meinung, dass, obwohl die einzelnen Werke nicht zeitgleich verfasst worden seien, sie dennoch nachträglich miteinander verschmolzen wurden, was mit den publikatorischen Entscheidungen der zweiten Auflage von 1886 sowie mit den von Nietzche hinzugefügten Nachwörtern zu tun habe. Abbey widerspricht dieser Entscheidung in ihrer eigenen Interpretation der Eigenständigkeit vom Wanderer und Vermischte Meinungen jedoch: „this introduction and guide treats the three original works separately“ (14). Auch Brücker betont den nachträglichen Wunsch Nietzsches in der zweiten Auflage von Vermischte Meinungen und dem Wanderer, diese als Ergänzung und Anhang zu Menschliches, Allzumenschliches zu verstehen (29). Wie besprochen, sieht Brücker die Angelegenheit jedoch etwas differenzierter als Abbey: Er akzeptiert zwar die Berücksichtigung von Nietzsches nachträglichen Vorworten von 1886 zu den beiden Teilen von Menschliches, Allzumenschliches (indem dieser die Einheit der drei Werke betonte), weist jedoch auch auf den werkpolitischen Charakter hin, den dieses Vorwort besitze (MA II, Vorrede 2), und betont, dass es Nietzsche bzw. den Herausgebern der Werkausgabe darum gegangen sei, nachträglich eine Kontinuität seiner Schriften festzustellen. Abbey hingegen entscheidet sich dafür, die nachgereichten Vorreden von 1886 generell nicht als Teil der jeweiligen Werke zu betrachten. Ihrer Meinung nach sind die Vorworte Ausdruck von den Positionen, die Nietzsche zu ihrer Entstehungszeit vertrat. Sie könnten somit nicht als Teil des Entstehungsprozesses von Menschliches, Allzumenschliches gewertet werden (14 f.). Brückers Position hierzu ist ähnlich, jedoch erlaubt er es, die Argumentation der späten Vorworte in die Beantwortung der Frage miteinzubeziehen, ob es sich beim Wanderer um ein eigenständiges Werk handelt oder nicht. Abbey hingegen weicht dieser Frage inhaltlich aus, indem sie sich auf die formale Ebene fokussiert und den Inhalt der Vorworte gar nicht erst berücksichtigt. Dies erscheint an dieser Stelle etwas unbefriedigend, da den Argumenten aus Nietzsches Vorwort nicht wirklich begegnet wird. Nietzsche selbst spricht in einer der Vorreden von der Notwendigkeit, seine Schriften „zurück zu datieren“, teilweise sogar „zurück hinter die Entstehungs- und Erlebnisszeit eines vorher herausgegeben Buches“ (MA II, Vorrede 1). Hiermit meint Nietzsche, seine Schriften sprächen ohnehin immer nur von Dingen, die er zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits hinter sich gelassen habe. Das Argument an dieser Stelle ist also – insofern man die Berücksichtigung der nachträglichen Vorreden zulässt –, dass es ohnehin keine authentische Erlebniszeit der jeweiligen Werke gibt, sodass es umgekehrt auch legitim wäre, nachträglich eine neue Interpretation der Werke zuzulassen. Nietzsche legitimiert hiermit die Zulässigkeit seiner nachgereichten Vorreden. Man hätte sich zumindest mit dieser Argumentation auseinandersetzen müssen, ohne ihr notwendigerweise zu folgen.

Abbey gesteht zumindest zu, dass ihre Entscheidung, die Vorreden und ihre Argumente aus der inhaltlichen Bewertung auszuschließen, „atypical“ (15) innerhalb der Nietzsche-Forschung sei. Allgemein jedoch ist ihrem Ansatz, den Wanderer sowie die Vermischten Meinungen als selbstständige Werke zu betrachten, zuzustimmen. Hierfür sprechen, wie schon beschrieben, zu viele Argumente auch der Autoren des Engadiner-Sammelbandes. Während also alle bis hierhin besprochenen Autoren grob der These zustimmen, dass es sich beim Wanderer um ein selbstständiges Werk handelt, unterscheidet sich die diesbezügliche Position von Abbey dahingehend, dass sie annimmt, der Wanderer mache (mit seinen Themen der Selbstsorge, der Willensfreiheit und der Politik) keine signifikanten inhaltlichen Fortschritte gegenüber den Kapiteln aus Menschliches, Allzumenschliches (19 f.). Dieser Sichtweise widersprechen sowohl Brücker wie auch Timon Boehm, der darauf hinweist, dass Nietzsche im Wanderer erstmals seinen späteren Perspektivismus vorwegnehme (10). Brücker betont z. B. in seiner Monografie, dass es neben den Inhalten vor allem der Stil sei, der den Wanderer von früheren Schriften unterscheide (240). So gelinge es Nietzsche dort erstmals, einen aphoristischen Stil und ein Schreibverfahren zu etablieren, welche sich durch rasche Verwertung auszeichneten und deshalb in direkter Wechselwirkung zu seiner inhaltlichen Ausrichtung der Philosophie des Werdens stünden. Außerdem zeigt Brücker in seinem Buch anhand vieler Textbeispiele auf, dass sich im Wanderer deutlich demokratiefreundlichere Töne zeigten als noch in Menschliches, Allzumenschliches (22 f.).[26] Darüber hinaus muss auf die Dialog-Form hingewiesen werden, die Nietzsche im Wanderer erstmals methodisch anwandte. Wie u. a. Zittel deutlich gemacht hat, wurde dieses Verfahren von Nietzsche im Zarathustra sowie in Jenseits von Gut und Böse fortgeführt und erweitert.[27] Hierdurch zeigt sich nicht nur die Selbstständigkeit, sondern auch die Innovationskraft von Nietzsches Wanderer. Außerdem wird darüber die Wichtigkeit vom Wanderer für die folgenden Werke Nietzsches offenbar.

Auf diesen Überlegungen aufbauend, folgt Abbey der Chronologie der Kapitel von Menschliches, Allzumenschliches, wobei sich an dieser auf einige wenige, besonders interessante Punkte von Abbeys Ausführungen konzentriert werden soll, besonders diejenigen, welche in einem Zusammenhang zu den anderen hier besprochenen Büchern stehen. Innerhalb des zweiten Hauptstücks Zur Geschichte der moralischen Empfindungen konzentriert sich Abbey auf die Darstellung zentraler nietzscheanischer Themen wie der Kritik an der Religion oder Willensfreiheit. Hierbei beschäftigt sich die Verfasserin auch mit dem in der Forschung bisher eher unterrepräsentierten Thema der Rolle der Anderen in Menschliches, Allzumenschliches I. Abbey beschreibt – besonders in Auseinandersetzung mit den Aphorismen MA I 49 und 50 – die überraschende Forderung, den unegoistischen menschlichen Trieben mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Hierunter zähle Nietzsche Eigenschaften wie Freundlichkeit, Gutmütigkeit oder „politeness of the heart“ (50). Ohne dabei eine dezidierte Theorie des Mitgefühls zu entwerfen, präsentiere Nietzsche an dieser Stelle dennoch eine Darstellung von „a micro expression of sociability among acquaintances“ sowie von „effective human bonds“ (50). Um an dieser Stelle tatsächlich eine genauere nietzscheanische Theorie des Mitfühlens zu entwerfen, wäre ein ergänzender Verweis auf Nietzsches zeitnah erschienener Schrift Morgenröthe hilfreich gewesen, in der er ausführlicher zu den Themen Mitleid und Mitempfinden Stellung nimmt. In M 142 spricht Nietzsche ganz dezidiert von einer „Theorie der Mitempfindung“ (KSA 3.135). Die „Lehrmeisterin des Verstehens“ (KSA 3.134) sei die Furcht. Die Fähigkeit, sich in den Anderen hineinzufühlen, beruhe also auf dem eher entgegengesetzten Trieb, hinter dem Ausdruck des Gegenübers versteckte Absichten und eine Gefahr zu befürchten. Durch dieses minutiöse Ausdeuten der Mimik und Gestik des Anderen entwickelte sich Nietzsche zufolge eine verschärfte Fähigkeit zum Mitempfinden, denn der Einzelne versuchte über das instinktive Nachahmen des Ausdrucks des Anderen herauszufinden, ob sich hinter diesem Ausdruck eine geheime Absicht verberge: „Die Fähigkeit des raschen Verstehens“ beruht somit „auf der Fähigkeit […], sich rasch zu verstellen“ (M 142, KSA 3.135).[28] Abbey stellt in Bezug auf MA I 2 fest, dass für Nietzsche das Mitleiden und Mitempfinden nicht etwas Angeborenes sei, sondern es vielmehr auf Lernprozesse zurückgehe: „Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und völlig kann es nie gelernt werden“ (MA I 101, 52). Diese wichtigen Überlegungen Nietzsches weiter auszuführen wäre unter stärkerer Einbeziehung der Morgenröthe möglich und sinnvoll gewesen. Am Schluss jedoch kommt Abbey zu der sehr überzeugenden These hinsichtlich Nietzsches Überlegungen zum Mitgefühl: „Nietzsche is not implying that unegoistic actions are impossible but only that they should not be presumed to be automatic“ (53). Mitempfinden geht also bei Nietzsche, das lässt sich an die Überlegungen Abbeys anschließend sagen, auf angelernte soziale Prozesse zurück, welche auf Nachahmung und gegenseitigem Misstrauen beruhen.

Abbey geht wie schon die vorherigen Autoren auf das Thema des Wanderers in Menschliches, Allzumenschliches ein (155): Nietzsche führe in MA I 638 die Figur des Wanderers eng an sein eigenes philosophisches Ideal: „Indeed, ‚the wanderer‘, the ‚free spirit‘ and ‚the philosopher‘ seem to be synonymous labels in this passage. The wandering seeker after truth not only does not know his final destination, but he does not see himself as having one. No goal exists for him“ (155). Abbey schließt sich also der These an, die bereits Brücker und andere vertreten haben: der Figur des Wanderers als Sinnbild für Nietzsches Philosophie des Werdens und der Ungewissheit, welche an seinen wahrheitskritischen Skeptizismus anknüpft, den dieser ab Menschliches, Allzumenschliches mehr und mehr ins Zentrum rückte.[29] Auch Brücker verweist in seinem Artikel in Bezug auf MA I 638 darauf, dass der Wanderer als Figur vorgestellt wird, welcher „seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit“ habe (67). Zittel wiederum wies richtigerweise darauf hin, dass Nietzsche bestimmte Äußerungen und Selbstbezeichnungen als „Wanderer“, „guter Europäer“ oder „Freigeist“ „in den Mund“ (138) gelegt worden seien, jedoch keinesfalls eins zu eins seine eigenen Positionen widerspiegelten, da sie oft von seiner literarischen Figur des Schattens ausgesprochen worden seien.[30] Somit muss man Abbeys Ausführungen an dieser Stelle etwas einschränken, denn insofern Nietzsche den Wanderer mit den „freien Geister[n]“ (MA I 638) identifiziert, ist zumindest einzuwerfen, dass dies innerhalb eines komplexen nietzscheanischen Spiels mit Figuren, Masken und Autorenschaft geschieht.

Abbey fragt – wie schon die Autoren des oben besprochenen Sammelbandes – nach der Bedeutung der Figur des Schattens im Zusammenspiel mit der des Wanderers. Letzterer sei mit Nietzsche selbst zu identifizieren (191 ff.). Hierbei geht sie unter anderem auf die von Jeremy Fortier vertretene These ein, dass der Schatten für das Verdrängte, Unverstandene und Vernachlässigte in der Psyche des Wanderers stehe.[31] Abbey stimmt dieser Sichtweise zum Teil zu, insofern der Schatten „for all the supposedly darker things about human existence“ (192) stehe. Jedoch korrigiert sie Fortier, indem sie darauf hinweist, dass Nietzsche den Wanderer sehr positiv über seinen Schatten sprechen und ihn darüber hinaus über die Wichtigkeit des Zusammenspiels von Licht und Schatten referieren lasse. In der Tat sagt der Wanderer: „wie sehr ich mich freue, dich zu hören und nicht bloß zu sehen. Du wirst es wissen, ich liebe den Schatten wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit […] gebe, ist der Schatten so nöthig wie das Licht“ (WS, Rahmendialog). Abbey ist also zuzustimmen, wenn sie ausführt, dass für Nietzsche die dunkle Seite der Existenz nicht etwas bloß Unbewusstes und Verdrängtes ist, sondern etwas, dass es anzunehmen und zu bejahen gelte: „Nietzsche allows that things appearing to be diametrically opposed to one another could actually be intimately related to one another“ (193). Nicht zuzustimmen ist ihr jedoch in der These, dass es sich bei dem Schatten um den dunklen Teil des Autoren Nietzsches handele, da Nietzsche wie gesehen seine Autorenschaft in viele Personae, Schatten, Masken und Figuren aufteilt und sich keinesfalls einseitig mit der literarischen Figur des Wanderers identifiziert: „Mitunter nannte ich mich auch der Wanderer, / öfter aber noch Zarathustra’s Schatten“ (KSA 14.337).

Gegen Ende ihres Einführungsbuches geht Abbey noch einmal auf die Frage ein, ob und inwiefern sich der Wanderer von Menschliches, Allzumenschliches unterscheidet. Einerseits betont sie, die meisten inhaltliche Punkte aus dem Wanderer seien lediglich eine Zusammenfassung vieler Überlegungen aus Menschliches, Allzumenschliches (195). Jedoch sei z. B. der Aspekt der Selbstsorge, den Nietzsche im Wanderer stark macht, zwar „in harmony“, aber doch „different“ (195) von Menschliches, Allzumenschliches. Wie Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches die „Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten“ (MA I 3) fordere, so wende er sich im Wanderer folgerichtig den „nächsten Dingen[n]“ (MA II, WS 5) zu. Abbey hat zumindest für diesen Zusammenhang recht, wenn sie davon spricht, dass Nietzsche mit dem Wanderer eine Fortführung seiner Philosophie aus Menschliches, Allzumenschliches betreibe. In diesem Sinne widerspricht Abbey auch der Annahme Ansell-Pearsons, dass Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches eine skeptische und naturalistisch-positivistische Herangehensweise wähle und diese im Wanderer mit den Fragen der Gesundheit und der Selbstsorge zu vereinen suche (200).[32] Zwar, so stimmt Abbey Ansell-Pearson zu, gehe es um Nietzsches Versuch der Vermählung einer metaphysikkritischen, wissenschaftlichen Methodik mit den Fragen von Diät, Klima und Umwelt. Jedoch grenzt sie sich von ihm ab, wenn dieser Menschliches, Allzumenschliches als positivistisches Werk charakterisiert. Sie spricht stattdessen von einer „‚epistemology-plus‘-perspective“ (200), welche neben der Frage danach, ob bestimmte Wahrheiten erkenntnistheoretisch zutreffend seien, auch die nach der Nutzbarkeit für ein gut geführtes Leben miteinbezieht. Abbey arbeitet also an dieser Stelle ein pragmatisches Wahrheitsverständnis Nietzsches heraus, welchem es, zumindest für diesen Zusammenhang, zuzustimmen gilt. Denn Nietzsche vertrat bereits zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches die Auffassung, dass es keineswegs – wie es die Korrespondenztheorie der Wahrheit sowie die Naturwissenschaft verlangt – eine Welt gebe, die sich unabhängig von unseren Wahrnehmungsstrukturen sowie unserer Sprache beschreiben und mit der sich unsere Vorstellung der Dinge abgleichen lasse: „Jedes Wort ist ein Vorurtheil“ (MA II, WS 55), und: „Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt von einander, untheilbar, jedes an für sich seiend. Es liegt eine Mythologie in der Sprache versteckt“ (MA II, WS 11). Nietzsche vertrat demgegenüber die Meinung, dass wir es bei der Wirklichkeit mit einem nicht-abzuschließenden, nicht ein für alle Mal erkennbaren Strom des Werdens zu tun haben. In diesem Sinne muss die positivistische These, hierin muss Abbey beigepflichtet werden, bezüglich Menschliches, Allzumenschliches zurückgewiesen werden:

His depiction of reality as this holistic continuous flow causes trouble for any conventional notion of modern science. For him, genuine scientific knowledge would have to see and respond to the world in this way, and not try to artificially atomise pieces of information and hypostatise them as enduring facts (203).

Im Anschluss an Abbey lässt sich somit festhalten: Wirkliche Wissenschaft nach Nietzsche müsste sich mit den Voraussetzungen beschäftigen, die uns meinen lassen, es gebe „objektive Wahrheiten“ oder voneinander isolierbare Dinge, anstatt anzunehmen, solche isolierten Dinge würden sich unabhängig von uns in der Wirklichkeit finden.

Am Schluss ihres Buches verweist Abbey auf eine wahrscheinliche Kontinuität der Wanderer-Schatten-Thematik über den Wanderer hinaus zur Morgenröthe: „The idea of the Shadow and all that it stands for only being visible in the light of knowledge is reiterated […]. Night falls and the Shadow, necessarily, disappears. It is worth noting the title of Nietzsche’s next book Daybreak, […] which suggests that the Shadow will return“ (224). Dieses auf Menschliches, Allzumenschliches und den Wanderer folgende Werk Nietzsches ist Thema des letzten zu besprechenden Buches.

4. Das 2021 gemeinsam von Keith Ansell-Pearson und Rebecca Bamford verfasste Buch Nietzsche’s “Dawn”. Philosophy, Ethics and the Passion of Knowledge vertritt den Anspruch eines Übersichtswerkes zu Nietzsches Schrift Morgenröthe. Ganz wie die oben besprochenen Autoren in Bezug auf den Wanderer, so betonen die Verfasser dieses Buches bezüglich der Morgenröthe die Eigenständigkeit des Werkes sowie die bisher fehlende Aufmerksamkeit für diese Schrift innerhalb der Sekundärliteratur. Eine Ausnahme bilde der von Jochen Schmidt veröffentlichte Kommentar zu Nietzsches Morgenröthe,[33] jedoch sei ihr eigenes Buch die bisher erste Veröffentlichung auf englischer Sprache zur Morgenröthe, welche die Länge einer Monografie habe. Ziel des vorliegenden Buches sei es dementsprechend, die Morgenröthe als „a distinct, internally coherent, philosophical project“ (1 f.) zu analysieren, anstatt sie als bloße Übergangsarbeit zu Nietzsches späterem Werk zu betrachten. In diesem Sinne sei das Ziel: „to reintroduce Dawn to contemporary scholarship as a fascinating and worthwhile piece of philosophy, that is of continuing relevance to our efforts to respond to philosophical problems“ (10).

Während Abbey in ihrem Einführungsbuch zu Menschliches, Allzumenschliches in ihrer Gliederung chronologisch Nietzsches Aufbau des Werks folgt, gliedern Ansell-Pearson und Bamford ihr Buch themenspezifisch in zehn Kapitel (und einen Briefnachlass), ohne hierbei immer der Chronologie Nietzsches zu folgen. Dies macht insofern Sinn, als dass Nietzsches eigene Argumentation nicht immer chronologisch verläuft und die aphoristische Methodik gerade ein systematisierendes Philosophieren, welches sich eines chronologischen Argumentierens bedient, unterwandern soll. Nietzsche fordert also, wie schon Brücker (132) in seiner Monografie betonte, durchaus einen aktiven Leser ein, der autonom den Inhalt seiner Schriften neu zusammensetzt. Die Methodik der beiden Verfasser deckt sich somit mit Nietzsches eigenen Aussagen zum philologischen Umgang mit seinen Schriften.

Inhaltliche Schwerpunkte der Untersuchung bilden neben Nietzsches Religions- und Moralkritik seine Auffassung vom Mitleid sowie seine Dekonstruktion autonomer Subjektivität. In ihrer Einleitung gehen die beiden Autoren bereits etwas genauer darauf ein, warum die Morgenröthe ein eigenständiges Werk innerhalb von Nietzsches Œuvre darstelle. So wird vor allem der Terminus „Sittlichkeit der Sitte“ aus M 9 als eine der wichtigsten „critical innovations“ (2) erwähnt, welche von Nietzsche in der Morgenröthe entwickelt worden seien. Tatsächlich kommen die Verfasser im Laufe ihres Buches immer wieder auf dieses Thema zu sprechen und leiten viele von Nietzsches Ansichten aus der Morgenröthe aus diesem übergeordneten Terminus der Sittlichkeit der Sitte ab. Eine der zentralen Thesen des hier besprochenen Buches ist somit, dass die einflussreiche Idee der Sittlichkeit der Sitte als eine umfassende Methodik gefasst wird: „What this means is that the scope of Nietzsche’s critique of customary morality is not limited to morality: it involves inquiry itself“ (3). Nietzsches Begriff der Sittlichkeit der Sitte wird also von den Autoren weitaus breiter gefasst denn als bloße Moralkritik. Sie gehe über in Fragen der Selbstsorge, der physischen Gesundheit sowie der „Ästhetik der Existenz“ hinaus, etwa wenn Nietzsche fordere, sich von den allgemeinen Ratschlägen des Arztes zu lösen, weil diese für den Einzelnen krankmachende Folgen haben könnten (53, M 322).

Eine weitere Annahme von Ansell-Pearson und Bamford ist die Parallelität von der Morgenröthe mit Nietzsches Thesen aus seinem späteren Werk. Abbey zweifelt z. B. an, dass es methodisch zulässig sei, Nietzsches nachgereichte Vorreden in der Untersuchung der jeweiligen Werke einfließen zu lassen, da sie einer anderen Werkphase mit anderen inhaltlichen Grundannahmen entsprängen.[34] Ansell-Pearson und Bamford hingegen ziehen durchaus Aussagen heran, die Nietzsche in seinen späteren Schriften zur Morgenröthe gefällt hatte: In Ecce homo z. B. spricht Nietzsche von der Morgenröthe als von seinem „jasagende[n] Buch“ (EH, M 1). Ausgehend von solchen Äußerungen vertreten die Autoren die These, dass zentrale Annahmen von Nietzsches späteren Werken – ewige Wiederkehr, amor fati, Kritik der christlichen Moral u. a. – bereits in der Morgenröthe ihren Ursprung haben (5). Diese Aufzählung müsste jedoch durch die (von den Verfassern leider weitestgehend ignorierte) Frage ergänzt werden, inwiefern Nietzsches erstmals in der Morgenröthe verwendete Rede vom „Gefühl der menschlichen Macht“ (M 146) bereits die spätere These vom Willen zur Macht vorwegnimmt. Zudem trifft der von Brücker erwähnte methodische Einwand, wonach Nietzsches spätere Äußerungen zu früheren Schriften einen werkpolitischen Charakter (mit eigenen Interessen) tragen, sicher insbesondere auf Ecce homo zu. Daher sind solche Einordnungen Nietzsches auch mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Grundsätzlich jedoch ist Ansell-Pearsons und Bamfords These, wonach die Morgenröthe zentrale Thesen von Nietzsches Spätphilosophie vorwegnehme, zuzustimmen. Dies zeigt sich schon in Nietzsches Bezugnahme auf die Idee der Sittlichkeit der Sitte (M 9) innerhalb der für das spätere Werk so wichtigen Auseinandersetzung mit der Figur des souveränen Individuums (GM II 2).

Insgesamt lässt sich bereits an dieser Stelle sagen, dass das Buch deutlich mehr eigenständige inhaltliche Thesen entwickelt als die Einführung von Abbey und dass es auch deutlich mehr Kontextualisierungen zu anderen Schriften Nietzsches aufweist. Somit verdeutlicht es neben aller betonten Eigenständigkeit der Morgenröthe auch zu Recht den enormen Einfluss auf spätere Schriften und beschreibt darüber hinaus die Herleitung der Morgenröthe aus Menschliches, Allzumenschliches (Kapitel 1).

Im zweiten Kapitel widmen sich die Autoren der „Campaign Against Morality“ (45), die für Nietzsche in der Morgenröthe eine zentrale Rolle spiele. Wie schon Abbey (4) heben auch Ansell-Pearson und Bamford hervor, dass es verkürzt und irreführend sei, Nietzsches eigene Selbst-Stilisierung als „Immoralist“ (M, Vorrede 4) allzu ernst zu nehmen (45). Vielmehr wende sich Nietzsche nur gegen einen bestimmten Typus von Moral, den er z. B. in der Morgenröthe mit dem Terminus „Sittlichkeit der Sitte“ beschreibe. Überdies finde bei Nietzsche – wie auch später bei Foucault – eine Aufwertung einer „Ethik des Selbst“ gegenüber der Moral statt. Wenn Nietzsche also von Moral spreche, solle ein bestimmter Typus von Moral (Sittlichkeit der Sitte) attackiert werden, nicht das Feld des Ethischen als Ganzes (47). Diesen Ausführungen ist ausdrücklich zuzustimmen, und sie lassen sich durch ein sehr sprechendes Zitat aus der Morgenröthe untermauern: „Ich leugne nicht […], dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; […] aber ich meine: […] aus anderen Gründen, als bisher“ (M 103).

In diesem Sinne, so die Verfasser, wolle Nietzsche den Leser der Morgenröthe dazu einladen, am Prozess der Umgestaltung und Selbstüberwindung der Moral teilzunehmen, da es ein Prozess sei, der fortlaufend sei und sich auch im Einzelnen vollziehe (50, M, Vorrede 4). Nietzsche will laut den beiden Autoren unser Vertrauen in die Moral erschüttern, poche aber zugleich darauf, dass es richtig sei, die meisten unsittlichen Handlungen zu vermeiden (51, M 103). Nietzsche zufolge sollen – das muss im Anschluss an die Ausführungen der Autoren ergänzend hinzugefügt werden – andere Motive und Voraussetzungen für sittliches Handeln gesucht und gefunden werden, weil die bisherigen Gründe in ihrem Kern nihilistisch und lebensfeindlich waren.[35]

Im vierten Kapitel ihres Buches widmen sich Ansell-Pearson und Bamford ausführlich zwei weiteren zentralen Themen nietzscheanischer Moralkritik: dem des Mitleids sowie dem der moralischen Vorstellungskraft. Auch Abbey widmet sich in ihrer Arbeit den Problemen des Mitleids und möglichen unegoistischen Handlungen (50 ff.) und kommt zum Schluss, dass für Nietzsche nicht-egoistisches Handeln durchaus möglich sei, dieses aber zunächst sozial erlernt werden müsse (53).

Ansell-Pearson und Bamford besprechen diese Zusammenhänge etwas ausführlicher und breiter als Abbey. Ein Schwerpunkt der Untersuchungen der beiden Autoren liegt auf der Analyse der nietzscheanischen Kritik an Schopenhauers Mitleidsethik. Dabei wird – auch unter Bezugnahme auf andere Arbeiten Abbeys[36] – die These entworfen, dass ein wichtiger Grund für Nietzsches Zurückweisung des Mitleidsgedankens in dessen Therapeutik und Selbst-Ästhetisierung liege (97). So bestünde ein Hauptanliegen der nietzscheanischen Selbstsorge in der Akzeptanz der Einsamkeit, der eigenen Not und des Leidens im Allgemeinen.[37] Dieses Ertragen-Lernen werde wiederum durch das Gefühl des Mitleids, welches den Impuls zur Leidensminimierung erzeugt, herausgefordert und geschwächt. Ein Hauptmotiv für Nietzsches Zurückweisung des Mitleids liegt also – so lässt sich in Anschluss an diese sehr richtigen und originellen Überlegungen der beiden Autoren sagen – in dessen Philosophie der Selbstsorge begraben. Ein weiterer Grund für die nietzscheanische Mitleidskritik, so fahren Ansell-Pearson und Bamford fort, liege darin, dass Nietzsche die Annahme zurückweise, man könne bloß aus einem Motiv heraus handeln (M 133). Diese Fehlannahme ginge laut Nietzsche auf Schopenhauers „Theorie eines mystischen Processes“ zurück, „vermöge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eins macht“ (M 142). Die beiden Autoren geben an dieser Stelle Nietzsches Position richtig wieder. Jedoch stellt sich die Frage, ob Nietzsche wiederum Schopenhauer gerecht wird.

Richtig an diesen Ausführungen ist, dass bei Schopenhauer das Phänomen des Mitleidens auf der metaphysischen Grundlage ruht, wonach sich im Mitleiden die durch die Erscheinungsformen Raum und Zeit vermittelte Illusion einer Verschiedenheit der einzelnen Individuen auflöse zugunsten der Einsicht „daß das eine Individuum im andern unmittelbar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen wiedererkenne.“[38] Jedoch gibt es bei Schopenhauer auch eine andere, konkretere Ebene jenseits aller metaphysischen oder mystischen Begründungszusammenhänge. Der Vorwurf, der Schopenhauer (u. a. von Nietzsche) gemacht wird, besteht zu einem großen Teil darin, dass jener angeblich annehme, der Zustand des Mitleidens führe zu einer alle individuellen Zwischentöne verwischenden Identifizierung mit dem Anderen. Hiergegen ließe sich einwenden, dass bei Schopenhauer der Andere in seiner Andersheit sehr wohl Bestand hat. So schreibt er in seiner Schrift Über die Grundlage der Moral (1840):

es bleibt uns gerade jeden Augenblick klar und gegenwärtig, daß Er der Leidende ist, nicht wir: und geradezu in seiner Person, nicht in unserer, fühlen wir das Leiden, zu unserer Betrübniß. Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß er der unserige sei.[39]

Es wäre demzufolge interessant, der Frage nachzugehen, inwiefern Schopenhauers Mitleidsethik gerettet und gegen die nietzscheanische Kritik verteidigt werden kann. Hierfür wäre eine Differenzierung vonnöten: Wie kann das Leiden des Anderen mitempfunden werden, ohne dass in diesem Gefühl eine Differenzierung von „Ich“ und „Du“ komplett aufgehoben würde?[40] Den Autoren entgehen solche Differenzierungen in diesem Zusammenhang leider. Zuzustimmen gilt es ihnen hingegen in ihrer grundsätzlichen These, dass es Nietzsche in der Morgenröthe durchaus um die Etablierung einer Ethik und nicht um eine Abschaffung moralischen Handelns gehe. Jedoch sei die Ethik, die Nietzsche im Blick habe, eine, die die Idee des Mitleids hinter sich lasse: „We follow Ansell-Pearson’s pointing out of the value of solitude to a project of self-fashioning in a post-Mitleid ethical context“ (98). Nietzsche geht somit – das lässt sich im Anschluss an die beiden Verfasser feststellen – in seinen eigenen ethischen Vorstellungen hinter universalistische Ansätze (Kant) oder Mitleidsethiken (Schopenhauer) zurück und bezieht sich auf die antike Selbstsorge und Selbst-Gestaltung und hiermit verbundene „Ethik des Selbst“. Ethisch ist diese Sichtweise, weil es Nietzsche keinesfalls um eine solipsistische Selbstinszenierung geht, sondern Selbstsorge vielmehr immer eingebunden ist in soziale Beziehungen: „This indicates […] that Nietzsche envisages how the possible ethics of self-fashioning agent is embedded in a web of social connections“ (100).[41] Für Abbey ist nach Nietzsche ein Mitempfinden mit Anderen grundsätzlich möglich, jedoch müsse es sozial erlernt werden (52 f.). Ansell-Pearson und Bamford wiederum gehen, wenn man so will, andersherum vor: Bei ihnen beruht die nietzscheanische Ethik auf der auf den ersten Blick selbstbezüglich erscheinenden Selbst-Kultivierung, die jedoch immer schon auf den Beziehungen mit Anderen aufbaue (100, M 467).[42]

Im sechsten Kapitel ihres Buches setzen sich die Autoren detailliert mit der Frage auseinander, welche Rolle die Themenfelder der Subjektivität, des Selbst sowie der Autonomie in Nietzsches Morgenröthe spielen. Hierbei gehen sie von einem möglichen Selbstwiderspruch in Nietzsches Philosophie der Selbst-Kultivierung aus: „yet it is unclear how self-cultivation is possible if there is no unified self“ (141). Dieser Widerspruch wird jedoch zum Teil aufgelöst, indem darauf verwiesen wird, dass für Nietzsche das Selbst keine in sich geschlossene Einheit darstellt, sondern sich aus diversen Trieben und Affekten zusammensetze (M 109). Insofern kommen die Verfasser zu dem Schluss, dass der Topos der Selbstbeherrschung der Triebe bei Nietzsche ohne das Konzept eines vernunftbetonten Subjekts auskomme (143 f.). Stattdessen sei es wiederum nur ein „andrere[r] Trieb[]“ (M 109), welcher unseren Intellekt, der einen Trieb bekämpft, leite. Dementsprechend stehe es nicht in unserer eigenen Macht, wenn wir wollen, dass wir einen bestimmten Drang oder Trieb in uns bekämpfen. Diesen Überlegungen der Autoren ist durchaus zuzustimmen. Jedoch müsste dem noch hinzugefügt werden, dass Nietzsche bei aller Kritik am Begriff eines vernünftigen, autonomen Subjekts ein neues Konzept von Autonomie vorstellt. Dieses ist dadurch bestimmt, dass wir unsere Triebe und Affekte, die unser Handeln leiten, wiederum über Praktiken der Selbstsorge und der Diätetik in eine selbstbestimmte Rang- und Reihenfolge bringen.[43]

Nach Überlegungen zu Epikurs Idee einer Garten-Gemeinschaft und dessen Einfluss auf Nietzsches Philosophie der Lebenskunst (201) gehen die Autoren im neunten Kapitel ihres Buches näher auf die politischen Implikationen der Morgenröthe ein. Neben Nietzsches Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Ausdrucksformen des Sozialismus und des Kapitalismus wird vor allem die Forschungslage zu Nietzsches Ausführungen der „Rasse“-Problematik in der Morgenröthe diskutiert (213 ff.). Zunächst folgen Ansell-Pearson und Bamford – was die Morgenröthe betrifft – an dieser Stelle jenem Forschungsstrang, welcher Nietzsche im Ganzen vor allem ein kulturhistorisches und nur sehr selten ein biologistisch-essentialistisches Verständnis von Rasse unterstellt.[44] Einer solchen Bewertung ist nachhaltig zuzustimmen. Hierzu muss ergänzt werden, dass vor allem Gerd Schank in seinem Standardwerk zum Thema Rasse bei Nietzsche betont, dass dieser den zeitgenössischen, sozialdarwinistischen, biologistischen Rassegedanken zurückweist, in denen biologische Reinheitsvorstellungen eine hervorgehobene Rolle spielen. Bei Nietzsche hingegen wirkt die Vermischung von Völkern bereichernd und positiv. Nietzsches eigene Vorstellungen von Rasse zielen darüber hinaus auf ein kulturelles Verständnis, d. h., hiermit ist in erster Linie eine Gemeinschaft angesprochen, welche eine Einheit darstellt, die sich vor allem über soziale und kulturelle Identitäten bestimmt.[45]

Demgegenüber führen die Autoren jedoch ins Feld, dass auch solche Vorstellungen als rassistisch bezeichnet werden können, die – wie Nietzsche in M 272 – Rasse nicht biologistisch, sondern kulturhistorisch begründen, insofern auch hier von festen Charaktereigenschaften einer bestimmten Gruppe ausgegangen werde (214). Gegen dieses Argument lässt sich pauschal nichts einwenden. Jedoch kann einschränkend hinzugefügt werden, dass Nietzsche zumindest nicht ein biologistisch-nationalsozialistischer Rassismus unterstellt werden kann, welcher totalitär argumentiert und in einer Rasse eine biologische Gefahr für eine andere Rasse sieht. Nietzsche hing somit nicht einem trennenden und hierarchisierenden Rassismus an.[46] Zumindest für eine deutsche Diskussion wirkt dieses Argument durchaus entlastend.

Ansell-Pearson und Bamford weisen zurecht darauf hin, dass Nietzsche in M 272 von „reingewordenen Rassen“ spricht und dass Kultur und Rasse hier nicht notwendigerweise als Synonyme auftreten. In diesem Zusammenhang muss jedoch erwähnt werden, dass bei Nietzsche Rassen nicht „rein“ werden über eine feindselige Isolierung gegenüber anderen Rassen, sondern dass sie über „Völkervermischung […] durch kulturelle ‚Arbeit‘ […] im […] Sinn einer ‚Synthese‘, ‚rein‘ werden“[47] können.

Auch gehen die Verfasser darauf ein, dass Nietzsche „concerned with racial breeding and with human development“ sei und dass „these two need not to be treated as identical“ (214). Ästhetische Selbst-Kultivierung sei demnach bei Nietzsche nicht mit einer „Züchtung der Rassen“ zu identifizieren. Dem muss jedoch ein anderes Verständnis von Zucht entgegengehalten werden. Nietzsche geht gerade in der Morgenröthe immer wieder auf diätetische Praktiken der Selbstsorge (wie Isolation, Ernährung, Rücksicht auf Ort und Klima) ein, die helfen sollen, den Einzelnen im Sinne eines „gesunden Wachstums“ und einer Selbst-Kultivierung zu „züchten“.[48] Obschon hierbei für Nietzsches eine gesunde Leiblichkeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, so verläuft doch eine solche Züchtung des „höheren Typus“ nicht anhand biologistischer Kriterien, sondern hauptsächlich über nicht-biologische Mittel wie Vereinsamung und Gewissensbildung. Und die „Selektion“, die eine solche Züchtung hervorrufen soll, ist nicht sozialdarwinistisch zu verstehen, da der Einzelne in der Lage ist, auch aktiv in einem solchen Prozess miteinzuwirken.[49] Leibliche Gesundheit ist für Nietzsche nicht etwas allgemein Gegebenes, sondern generell etwas, das stark pluralistisch zu begreifen ist und das man sich „beständig noch erwirbt und erwerben“ (FW 382) muss. Eine nietzscheanische „Züchtung“ kann somit zumindest nicht in einem totalitär-rassistischen Sinne zu verstehen sein. Bei aller auf den ersten Blick drastischen Rhetorik handelt es sich bei Nietzsche nicht um eine äußerliche Selektion von Menschen oder von Rassen voneinander, sondern letzten Endes um eine Selektion und Züchtung bestimmter Eigenschaften im Menschen, die wiederum (über diätetische Einwirkungen auf sich selbst) gestärkt oder geschwächt werden sollen.[50] Der Deutung von Robert C. Holub, die Ansell-Pearson und Bamford in ihrem Buch zwar erwähnen, aber letztlich zurückweisen, gilt es demnach zuzustimmen. Hiernach ging es zumindest dem Nietzsche der mittleren Werkphase (einschließlich der Morgenröthe) hauptsächlich um das Thema der Gesundheit und nicht um das einer rassistischen Kolonialisierung (215).[51]

Das zehnte und letzte Kapitel des Buches liefert neben Reflexionen über Nietzsches Metapher der Aeronauten auch eine abschließende Bewertung der Stellung der Morgenröthe innerhalb von Nietzsches Gesamtwerk. Die Autoren übernehmen hierfür Nietzsches eigene Einordnung aus Ecce homo, wo er die Morgenröthe zwischen den ja- und den nein-sagenden Büchern seiner mittleren und späten Werkphase unterscheidet. Dies ist zumindest dahingehend mit einem vorsichtigen Fragezeichen zu versehen, insofern Nietzsche in seinem späteren Werk eigene, werkpolitische Intentionen verfolgte, wenn es um die rückschauende Einordnung früherer Schriften ging.

Ansell-Pearson und Bamford ordnen zuletzt, Nietzsches Unterscheidung aus Ecce homo folgend, die Morgenröthe als eines der ja-sagenden, d. h. affirmativen, Bücher Nietzsches ein, in denen „a positive vision of humanity as future-oriented and self-cultivating“ (225) verhandelt werden solle. Das insgesamt analytisch scharfe, sehr komplexe und dennoch verständlich geschriebene Buch schließt somit mit der für die Nietzsche-Forschung wichtigen Feststellung, dass die Morgenröthe diejenige Schrift sei, von der aus Nietzsche in sein späteres Werk starte: „we suggest that it is important to appreciate that he proceeds with this work within the clearing created by the campaign against morality that he first sets into motion in Dawn“ (243).

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Online erschienen: 2025-03-05

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