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Sonderforschungsbereich (SFB 1280) „Extinktionslernen“

  • Onur Güntürkün

    Onur Güntürkün ist ein türkisch-deutscher Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Nachts halten ihn Fragen wach wie z. B. „Warum sind Gehirne asymmetrisch organisiert?“ oder „Können verschieden organisierte Gehirne die gleichen Kognitionen erzeugen?“. Er hat Jahre an Universitäten in Deutschland, Frankreich, den USA, Australien, Türkei, Belgien und Südafrika verbracht, forscht am liebsten an Tauben und Menschen, bekam zwei Ehrendoktortitel, ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und erhielt verschiedenste wissenschaftliche Auszeichnungen, wie z. B. den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis (2013) und den Communicator-Preis (2014).

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    und Dagmar Timmann-Braun

    Dagmar Timmann-Braun ist seit dem Jahr 2000 Professorin für Experimentelle Neurologie am Uniklinikum der Universität Duisburg-Essen und Arbeitsgruppenleiterin am Erwin L. Hahn Institute of Magnetic Resonance Imaging. Was sie antreibt ist das Ziel, Ataxie-Patienten zu helfen. Seit bald drei Jahrzehnten durchdringt sie hierfür wie kaum jemand sonst die Physiologie und Pathophysiologie des Kleinhirns. Eine Reise, die ihr eine stete Reihe von Förderungen, Ehrenfunktionen und Preisen bescherte, die sie immer wieder in die USA führte und auf der die Cerebellum-Expertin heute am 7T-Scanner Einsichten in die tiefsten Kleinhirn-Strukturen und seine wenig bekannten Rollen für die Kognition und bei Lernprozessen gewinnt.

Veröffentlicht/Copyright: 28. März 2018
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Neuroforum
Aus der Zeitschrift Neuroforum Band 24 Heft 2

Zusammenfassung

Im Juli 2017 etablierte die Deutsche Forschungsgemeinschaft an den Standorten Bochum, Essen, Dortmund und Marburg den SFB 1280. Ziel der Forschung des SFB ist die Aufklärung der lerntheoretischen, behavioralen, neuralen, immunologischen, genetischen und klinischen Mechanismen des Extinktionslernens – der komplexesten Form des Lernens. Dieser umfassende Ansatz ist notwendig, um die verschiedenen Facetten des Extinktionslernens zu identifizieren und somit grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse in klinische Anwendungen zu überführen. Mit 60 % der Projekte ist die Ruhr-Universität Bochum Sprecherhochschule (Sprecher: Prof. Dr. Onur Güntürkün). Der zweitgrößte Teilverbund kommt aus der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen (stellvertretende Sprecherin: Prof. Dr. Dagmar Timmann-Braun). Weitere beteiligte Institutionen sind das Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund sowie das Institut für Psychologie der Philipps-Universität Marburg.

Was ist Extinktionslernen?

Beginnen wir mit einem fiktiven Beispiel. Ein Mann fährt morgens mit dem Auto zur Universität und wartet tief in Gedanken versunken an einer roten Ampel. Bei Grün fährt er los und da passiert es: Reifen quietschen und im nächsten Augenblick wird er mit einem lauten Knall zur Seite geworfen; ein eiliger Autofahrer hat die rote Ampel übersehen und ist ihm in die Seite gefahren. Schon nach wenigen Tagen kann er aus der Klinik entlassen werden. Von den physischen Folgen des Unfalls ist er schnell genesen, aber etwas Neues hat sich in sein Leben geschlichen: Er hat Angst vor dem Autofahren, jedes laute Geräusch lässt sein Herz rasen. Als er merkt, dass er selbst bei Spaziergängen am Fahrbahnrand Angst erlebt, wendet er sich an einen Psychotherapeuten. Mit einer Konfrontationstherapie bekommt der Psychologe seine Angst recht schnell in den Griff. Allerdings kommt die Angst merkwürdigerweise in neuen Situationen immer wieder hoch. Es sieht so aus, als ob die Therapie nur Teile des Geschehens verändern konnte. Die Angst hört nicht auf, sein Leben zu verdunkeln.

Im Kern des an diesem Beispiel geschilderten Problems steht die ungenügende Fähigkeit, die im Unfallmoment gelernte Assoziation zwischen Autoverkehr und Todesangst zu lösen. Die Entkoppelung dieser Assoziation ist der Kern des Extinktionslernens. Die psychologischen und neurobiologischen Prozesse des Erstlernens, also des Lernens neuer Assoziationen (Autoverkehr ↔ Angst), sind sehr gut untersucht. Dagegen sind die Mechanismen des Extinktionslernens bisher nur unvollständig verstanden. Wir wissen, dass es beim Erstlernen in der Amygdala zu einer schnellen synaptischen Verstärkung zwischen Zellverbänden kommt, die die konditionierten Stimuli (CS: Autofahren, Reifenquietschen, etc.) mit dem unkonditionierten Stimulus (US: Der Schmerz beim Aufprall) koppeln. Dadurch ist der CS in der Lage, die konditionierte Reaktion (CR: Angst) auszulösen (Abb. 1). Das später einsetzende Extinktionslernen beinhaltet wahrscheinlich zwei verschiedene, parallel ablaufende Vorgänge: Erstens kommt es partiell zu einer Schwächung der im Unfallmoment gelernten Assoziationen zwischen CS und US. Zweitens entwickelt sich ein inhibitorischer Lernprozess durch den der CS die CR hemmen kann. Konkret bedeutet das, dass Areale im Präfrontalkortex die Fähigkeit erwerben, beim Auftauchen der konditionierten Reize die Generierung der Angstreaktion in der Amygdala zu hemmen. Die initial gelernte Assoziation zwischen Autoverkehr (CS) und Schmerz (US) wird somit größtenteils durch das Extinktionslernen nicht einfach gelöscht, sondern durch einen gelernten Inhibitionsprozess außer Kraft gesetzt. Doch beim Extinktionslernen gibt es eine Besonderheit: Während beim Erstlernen der Kontext kaum abgespeichert wird (Ort des Unfalls, Wetter beim Unfall, etc.), wird beim Extinktionslernen der Kontext mitgelernt (z. B. das Aussehen der Praxis des Psychotherapeuten). Dies geschieht durch hippocampale Mechanismen. Wenn aber unsere Beispielperson nach dem Extinktionslernen im Rahmen der Psychotherapie irgendwo an einer Straße steht, sieht sie einen ganz anderen Kontext. Dann kann es zu einem „Renewal“ der Angstreaktion kommen: Durch den Kontextwechsel wird die beim Extinktionslernen erworbene Hemmung der amygdalären Angstassoziation nicht aktiviert und die Angstreaktion ist plötzlich wieder da. Psychotherapeuten versuchen deshalb Renewal zu minimieren, indem sie bei ihrer Therapie möglichst unterschiedliche Kontexte verwenden. Extinktionslernen ist somit ein Lernprozess, der sich vom Ersterwerb deutlich unterscheidet und erheblich komplexer ist, da er zusätzliche Mechanismen und ein ganzes Netzwerk von Hirnregionen benötigt.

In der Europäischen Union leiden über 60 Millionen Menschen an Angststörungen (Wittchen et al., 2011). Die Behandlung dieser Patienten verschlingt pro Jahr über 70 Milliarden Euro (Gustavsson et al., 2011). Der Kern von Angsterkrankungen ist die verminderte Fähigkeit zum Extinktionslernen. Menschen mit Angststörungen lassen sich leichter konditionieren, haben aber Probleme, eine Extinktion zu lernen. Somit persistieren und generalisieren Ängste, die einmal gelernt wurden. Doch wahrscheinlich ist die klinische Problemlage sogar noch größer. Auch bei Patienten mit chronischen Schmerzen scheint eine verminderte Fähigkeit zum Extinktionslernen das Leiden zu vergrößern. Auch hier sind die Zahlen bedrückend: 19 % der Menschen in der Europäischen Union leiden unter chronischem Schmerz (Breivik et al., 2006). Wir brauchen dringend Forschung, um über ein verbessertes Verständnis der Mechanismen des Extinktionslernens neue Therapiekonzepte zu entwickeln, um diesen Patienten zu helfen.

Der konzeptuelle Aufbau des SFB 1280

Die Gründung eines SFB macht nur Sinn, wenn durch die Komplementarität der beteiligten Arbeitsgruppen ein deutlicher Forschungsmehrwert geschaffen werden kann. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn diese Arbeitsgruppen zwar experimentell und technisch divers sind, in ihrer experimentellen Planung und ihren Fragestellungen aber einen hohen Grad an Kohärenz aufweisen. Beim SFB 1280 wurden die wissenschaftlichen Fragestellungen so strukturiert, dass sie sich zu sieben Hypothesen fassen lassen, die von den beteiligten Projekten aus unterschiedlichen Perspektiven erforscht werden. Jedes Projekt musste daher so gestaltet sein, dass es zur Beantwortung mehrerer Hypothesen beiträgt. Diese Hypothesen geben somit den wissenschaftlich-konzeptuellen Rahmen vor und sind zeitgleich experimenteller Zielpunkt der individuellen Projekte. Dies soll nun durch eine extrem verkürzte Darstellung der Hypothesen und den damit verbundenen Forschungsschwerpunkten des SFB 1280 dargestellt werden.

Abb. 1: Schematische Darstellung der lerntheoretischen Vorgänge und neuralen Amygdalasignale beim Erstlernen sowie bei der Extinktion. Beim Erstlernen wird eine Assoziation zwischen dem konditionierten Stimulus (CS) und dem unkonditionierten Stimulus (US) gelernt. Dadurch ist der CS in der Lage, die konditionierte Reaktion (CR) auszulösen. Für die Mechanismen der Extinktion gibt es zwei divergierende Erklärungen. Wenn Extinktion einfach nur auf einem Vergessensprozess beruht, sollte es zu einer Schwächung oder gar einem Verschwinden der CS-US Assoziation kommen. Wenn Extinktion aber das Neulernen einer Inhibition ist, dann könnte die CS-US Assoziation erhalten bleiben, während sich durch den Lernprozess zeitgleich eine Hemmung der CR durch den CS entwickelt. Die kleinen roten Kurven sollen den schematischen Verlauf der Assoziationsstärke (V) zwischen CS und US bzw. CS und CR über Zeit darstellen. Tatsächlich zeigen Ableitungen von Amygdalaneuronen beim Extinktionslernen, dass für alle drei vorhergesagten Lernmodulationen einzelne Zelltypen identifiziert werden konnten, deren Veränderung der Spike-Frequenz über Lernzeit den Prädiktionen der Lerntheorien entsprechen. Extinktion ist somit wahrscheinlich sowohl ein Vergessensprozess als auch das Lernen einer Inhibition.
Abb. 1:

Schematische Darstellung der lerntheoretischen Vorgänge und neuralen Amygdalasignale beim Erstlernen sowie bei der Extinktion. Beim Erstlernen wird eine Assoziation zwischen dem konditionierten Stimulus (CS) und dem unkonditionierten Stimulus (US) gelernt. Dadurch ist der CS in der Lage, die konditionierte Reaktion (CR) auszulösen. Für die Mechanismen der Extinktion gibt es zwei divergierende Erklärungen. Wenn Extinktion einfach nur auf einem Vergessensprozess beruht, sollte es zu einer Schwächung oder gar einem Verschwinden der CS-US Assoziation kommen. Wenn Extinktion aber das Neulernen einer Inhibition ist, dann könnte die CS-US Assoziation erhalten bleiben, während sich durch den Lernprozess zeitgleich eine Hemmung der CR durch den CS entwickelt. Die kleinen roten Kurven sollen den schematischen Verlauf der Assoziationsstärke (V) zwischen CS und US bzw. CS und CR über Zeit darstellen. Tatsächlich zeigen Ableitungen von Amygdalaneuronen beim Extinktionslernen, dass für alle drei vorhergesagten Lernmodulationen einzelne Zelltypen identifiziert werden konnten, deren Veränderung der Spike-Frequenz über Lernzeit den Prädiktionen der Lerntheorien entsprechen. Extinktion ist somit wahrscheinlich sowohl ein Vergessensprozess als auch das Lernen einer Inhibition.

Hypothese 1 Extinktionslernen beinhaltet sowohl eine Löschung der ursprünglichen Assoziation als auch das Neulernen einer Inhibition: Diese in der Psychologie umstrittene Annahme soll im SFB 1280 sowohl mit Einzelzellableitungen im Tierexperiment, als auch durch Tiefenableitungen aus dem menschlichen Kortex sowie mit behavioralen Studien untersucht werden. Bei Einzelzellableitungen mit paralleler optogenetischer Manipulation erwarten wir z. B., dass (in teilweise unterschiedlichen Hirnregionen) während der gleichen Versuchsphase einzelne Neuronen aufhören, auf den konditionierten Reiz zu reagieren, während andere Zelltypen anfangen, auf das Ausbleiben des unkonditionierten Reizes zu antworten (Abb. 1).

Hypothese 2 Extinktionslernen aversiver und appetitiver Assoziationen äußert sich im Verhalten ähnlich, ist aber neurobiologisch partiell distinkt: Extinktionslernen wird äußerst erfolgreich mit dem Furchtkonditionierungsparadigma untersucht (z. B. im SFB-TRR 58). Doch Extinktionslernen ist nicht nur eine Domäne aversiver Assoziationen, sondern funktioniert bei appetitiven Reizen sehr ähnlich. Dadurch ist man verführt zu glauben, dass auch die neurobiologischen Mechanismen des Extinktionslernens aversiver und appetitiver Assoziationen identisch sind. Sehr wahrscheinlich ist das aber nicht vollständig der Fall, z. B. spielt das Endocannabinoid-System primär beim Extinktionslernen aversiver, aber nicht appetitiver Assoziationen eine Rolle (Marsicano et al., 2002). Auch das dopaminerge System und ein Teil der Projektionsmuster amygdalärer Neuronen zeigen deutliche Unterschiede zwischen der Verarbeitung aversiver und appetitiver Reize und Konditionierungen (Brischoux et al., 2009). Vor allem bei der Therapie der Drogensucht ist ein größeres Detailwissen über die neurobiologischen Mechanismen der Extinktion appetitiver Reize dringend notwendig. Im SFB 1280 forschen deshalb vor allem tierexperimentelle Projekte mit invasiver Elektrophysiologie sowie Bildgebungsprojekte mit Versuchspersonen bzw. Versuchstieren zu dieser Fragestellung.

Hypothese 3 Kontextreize sind Stimuli, die nur schwach mit dem unkonditionierten Reiz assoziiert sind und durch die Interaktion zwischen Präfrontalkortex und Hippocampus das Verhalten kontrollieren: Meist wird angenommen, dass Kontextreize (in unserem Beispiel ist dies z. B. der Autoverkehr) eine andere Natur besitzen als die konditionierten Stimuli (z. B. das Reifenquietschen). Wir halten das für falsch und gehen stattdessen davon aus, dass der Unterschied zwischen diesen zwei Reizkategorien nur in ihrer Assoziationsstärke und ihrer zeitlichen Struktur liegt. Wegen des letzteren Punkts werden Kontextreize entsprechend unserer Hypothese auch primär im Hippocampus kodiert. Um diese Hypothese zu stützen sind tierxperimentelle Einzelzellableitungen mit optogenetischer Manipulation während Extinktionsversuchen, maßgeschneiderte Verhaltensexperimente am Menschen sowie theoretisch-neurowissenschaftliche Untersuchungen mit lernenden Robotern geplant.

Abb. 2: Schematische Darstellung der Amygdala und angrenzender corticaler und striataler Bereiche beim Nager. Warme Farben stellen palliale/corticale, kalte Farben striatale Territorien dar. Römische Zahlen benennen Kortexschichten. Die Afferenzen des Kortex und des Striatums sowie ihre Interkonnektivitäten zeigen große Ähnlichkeiten zu denen der pallialen und striatalen Amygdala. Die striatale Amygdala besitzt teilwiese auch pallidale Anteile. Abkürzungen: BLA: basolaterale Amygdala; CEA: centraler Nucleus der Amygdala; ITC: intercalated cell cluster; LA: lateraler Nucleus der Amygdala; BA: basale Amygdala; CEAl: lateraler Anteil des centralen Nucleus der Amygdala; CEAm: medialer Anteil des centralen Nucleus der Amygdala.
Abb. 2:

Schematische Darstellung der Amygdala und angrenzender corticaler und striataler Bereiche beim Nager. Warme Farben stellen palliale/corticale, kalte Farben striatale Territorien dar. Römische Zahlen benennen Kortexschichten. Die Afferenzen des Kortex und des Striatums sowie ihre Interkonnektivitäten zeigen große Ähnlichkeiten zu denen der pallialen und striatalen Amygdala. Die striatale Amygdala besitzt teilwiese auch pallidale Anteile. Abkürzungen: BLA: basolaterale Amygdala; CEA: centraler Nucleus der Amygdala; ITC: intercalated cell cluster; LA: lateraler Nucleus der Amygdala; BA: basale Amygdala; CEAl: lateraler Anteil des centralen Nucleus der Amygdala; CEAm: medialer Anteil des centralen Nucleus der Amygdala.

Hypothese 4 Die Amygdala ist ein spezialisiertes corticostriatales System: Schon Swanson und Petrovich (1998) stellten fest, dass die Amygdala keine natürliche Entität ist, sondern aus einer pallialen, Cortex-ähnlichen und einer striatalen, Basalganglien-äquivalenten Region zusammengesetzt ist (Abb. 2). Diese Einsicht hat immense Implikationen, da wir dann erwarten könnten, dass wir bei Extinktionsexperimenten Amygdala-äquivalente Kodierungsprozesse in corticostriatalen Schaltkreisen erwarten müssen. Diese Hypothese wird von praktisch allen Teilprojekten untersucht, die mit Einzellableitungen bei Tiermodellen, Tiefenableitungen beim Menschen sowie Bildgebungsverfahren arbeiten.

Hypothese 5 Das neurale Extinktionsnetzwerk ist erheblich größer als die Trias aus Amygdala, Hippocampus und Präfrontalkortex: Bereits in Hypothese 4 wurde argumentiert, dass weite Teile des corticostriatalen Systems wahrscheinlich am Extinktionsgeschehen partizipieren. Eine wichtige weitere Struktur ist das Cerebellum, welches wahrscheinlich sowohl das Erlernen des Kontextes moduliert als auch bei der Extinktion der gelernten Reaktion zentral ist. Es ist lange bekannt, dass das Kleinhirn auch ein Speicherplatz gelernter Assoziationen ist. Seine Rolle bei der Extinktion, insbesondere von gelernter Furcht, ist bisher so gut wie nicht untersucht. Es gibt erste Belege, dass der cerebelläre Kortex vor allem beim Löschen von Assoziationen eine wichtige Rolle spielt (Medina et al., 2002). Im SFB 1280 sollen diese Überlegungen sowohl mit hochauflösenden Bildgebungsstudien an Kontrollpersonen und Patienten mit Kleinhirnerkrankungen als auch durch nicht-invasive Hirnstimulationsparadigmen untersucht werden. Zudem werden in einem SFB-eigenen Konsortium auch alle anderen Bildgebungsprojekte cerebelläre Aktivierungsmuster während diverser Extinktionsstudien auswerten.

Hypothese 6 Neuroendokrine und immunologische Prozesse sind Teil des Extinktionsgeschehens: Es ist bekannt, dass unterschiedliche Transmittersysteme wie Dopamin, Noradrenalin und Serotonin eine wichtige Rolle beim Extinktionslernen spielen. Daher sind diese Transmittersysteme Teil des SFB-Forschungsprogramms, wobei vor allem das serotonerge Systeme mit komplexen optogenetischen Verfahren untersucht werden soll. Ein Schwerpunkt im SFB 1280 liegt zudem auf Untersuchungen der stressinduzierten Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse sowie des sympathischen Nervensystems. Diese Systeme haben differenzielle Wirkungen auf die Konsolidierung und den Abruf von Gedächtnisinhalten (Wolf, 2017) und werden von mehreren experimentalpsychologischen und bildgebungsbasierten Projekten erforscht. Zudem ist das Immunsystem konditionierbar und somit eine essenzielle Komponente der Lernprozesse, die dem Extinktionslernen zugrunde liegen (Hadamitzky et al., 2013). Auch dieser Aspekt wird sowohl an Versuchspersonen als auch tierexperimentell untersucht.

Hypothese 7 Strukturspezifische Hirnreifungsgeschwindigkeiten sowie individuelle Variationen im Extinktionslernen erzeugen unterschiedliche Konditionierungs- und Pathologiemuster: Die Amygdala reift schneller als der Hippocampus. Das könnte dazu beitragen, dass bei sehr kleinen Kindern das Extinktionslernen primär aus einer Löschung der alten Assoziationen besteht, während später eine gelernte Hemmung dazukommt. Zudem kann die Untersuchung der Konditionierbarkeit von Individuen evtl. Unterschiede im Extinktionsgeschehen z. B. bei Schmerzkonditionierungen vorhersagen. Mehrere Arbeitsgruppen, die auf entwicklungspsychologische, neurologische und klinisch-therapeutische Ansätze spezialisiert sind, testen diese Hypothese. Dazu gehört auch, dass in einem Projekt eine Expositionstherapie im Scanner stattfinden soll, um die neuralen Korrelate des Extinktionslernens bei der Verhaltenstherapie zu untersuchen.

Fokusgruppen

Jeder SFB sieht sich zwei Herausforderungen ausgesetzt: Erstens, wie sollte man am besten die überlappenden Ergebnismuster aus den komplementären Forschungsprojekten wissenschaftlich abschöpfen? Zweitens, wie schafft man es, dass sich über eine Periode von 12 Jahren jedes Teilprojekt bzgl. seiner technisch-methodischen Exzellenz optimal weiterentwickelt? Aus Sicht der Organisatoren des SFB 1280 fehlt in den bisherigen Strukturen von Sonderforschungsbereichen eine entsprechende Entität, da diese kombinierten Aufgabenstellungen weder durch wissenschaftliche Teilprojekte noch durch Serviceprojekte gleichzeitig abgebildet werden. Daher kam es, zusätzlich zu den 17 wissenschaftlichen Teilprojekten, zur Gründung von zwei Fokusgruppen, die sowohl Forschungs- als auch Serviceanteile für einen bestimmten Forschungsbereich beinhalten.

Die Fokusgruppe F01 „Learning Dynamics“ hat die Aufgabe, die trial-by-trial Veränderungen der neuralen und behavioralen Daten der individuellen Lerndynamiken zu analysieren. Hierbei sollen diese Analysen als Forschungsvorhaben vom Postdoc in F01 durchgeführt werden. Gleichzeitig soll diese Person peu à peu die PIs der entsprechenden Projekte in die Lage versetzen, selber solche Analysen zu implementieren. Das langfristige Ziel ist es, modellbasierte Daten aus verschiedenen Projekten zu importieren, um die evtl. unterschiedlichen Lernregeln in den verschiedenen Paradigmen und Hirnarealen zu identifizieren. Dies wäre ein längerfristiges Ziel, welches nur durch die für den SFB 1280 vorgesehene Kombination aus einer hohen Kohärenz in den experimentellen Planungen bei gleichzeitiger Divergenz in den angewandten Techniken und untersuchten biologischen Systemen möglich ist.

Die Fokusgruppe F02 „Neuroimaging“ hat zum Ziel, in allen Bildgebungsprojekten modernste technische Methoden der Datenakquise und -analyse sicherzustellen und gleichzeitig metaanalytisch die Bildgebungsdaten unter hypothesengetriebenen Fragestellungen zu analysieren. Hierzu sollen von den in F02 eingestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die in den beteiligten Bildgebungsinstitutionen genutzten Scanner-Sequenzen optimiert und homogenisiert werden. Dies schafft die Möglichkeit, die Bildgebungsdaten zu integrieren, um detaillierte Struktur-Funktions-Analysen der vielen im SFB 1280 durchgeführten Studien metaanalytisch zu nutzen. Gleichzeitig werden alle Bildgebungsgruppen über den gesamten Zeitraum der SFB-Förderung durch F02 auf dem höchsten technischen und methodischen Stand gehalten.

Strukturelle Rahmenbedingungen und Zukunftsplanungen des SFB 1280

Die Ruhr-Universität Bochum hat eine lange Tradition neurowissenschaftlicher Verbundforschung. Dies wurde 2008 vertieft durch die Gründung des Research Departments Neuroscience, in dem Neurowissenschaftler aus verschiedensten Fakultäten vereint sind. Das Research Department verwaltet auch die exzellente und gemeinschaftliche genutzte technische Infrastruktur der Neurowissenschaften. Durch solche Mechanismen konnte parallel zum SFB 874 (Integration und Repräsentation sensorischer Prozesse; Sprecherin: Prof. Dr. Denise Manahan-Vaughan) der SFB 1280 mit einem anderen Forschungsfokus etabliert werden. Das Bochumer Rektorat wird zur Unterstützung des SFB 1280 eine W2-Professur „Neuronale Grundlagen des Lernens“ in der Fakultät für Psychologie einrichten. Die Bochumer Neurowissenschaftler kooperieren im Rahmen der Universitätsallianz Ruhr sowie des SFB 1280 eng mit den Essener Kollegen und nutzen z. B. gemeinsam den Essener 7T-Humanscanner (Erwin L. Hahn Institute for Magnetic Resonance Imaging).

Der SFB 1280 bietet die einzigartige Möglichkeit, die Neurowissenschaft von Lern- und Gedächtnisprozessen in der Tiefe zu verankern und mit all seinen relevanten Komponenten zu untersuchen. In der Perspektive über 12 Jahre haben sich die Forschenden deshalb zum Ziel gesetzt, Aspekte der theoretischen Neurowissenschaft sukzessive stärker zu integrieren. Ein Mechanismus hierfür ist die Fokusgruppe F01, die von Anfang an die Analyse der Einzeltrial-Dynamik und data mining-Ansätze innerhalb des SFB erweitern soll. Ein zweiter Entwicklungspunkt sind die (epi)genetischen Komponenten des Extinktionslernens, die ab der zweiten Förderperiode human- und tierexperimentell gewonnene Analysen von lernassoziierten DNS-Methylierungsmustern sowie Histon- und DNS-Modifikationen charakterisieren sollen. Drittens sind Längsschnittuntersuchungen geplant, mit denen die ontogenetische Entwicklung des Extinktionslernens unter entwicklungspsychologischen, neurowissenschaftlichen und klinischen Perspektiven erforscht werden soll. Wir sind davon überzeugt, dass die hier geschilderte Organisation des SFB 1280 einen exzellenten Ansatz darstellt, um translationale Erkenntnisse zwischen Grundlagenforschung und klinischen Wissenschaften herzustellen. Mit dieser Forschungsstrategie wollen wir über einen Zeitraum von 12 Jahren die gemeinsamen und distinkten Mechanismen des Extinktionslernens in unterschiedlichen Systemen und Organismen analysieren.

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Onur Güntürkün

Onur Güntürkün ist ein türkisch-deutscher Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Nachts halten ihn Fragen wach wie z. B. „Warum sind Gehirne asymmetrisch organisiert?“ oder „Können verschieden organisierte Gehirne die gleichen Kognitionen erzeugen?“. Er hat Jahre an Universitäten in Deutschland, Frankreich, den USA, Australien, Türkei, Belgien und Südafrika verbracht, forscht am liebsten an Tauben und Menschen, bekam zwei Ehrendoktortitel, ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und erhielt verschiedenste wissenschaftliche Auszeichnungen, wie z. B. den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis (2013) und den Communicator-Preis (2014).

Dagmar Timmann-Braun

Dagmar Timmann-Braun ist seit dem Jahr 2000 Professorin für Experimentelle Neurologie am Uniklinikum der Universität Duisburg-Essen und Arbeitsgruppenleiterin am Erwin L. Hahn Institute of Magnetic Resonance Imaging. Was sie antreibt ist das Ziel, Ataxie-Patienten zu helfen. Seit bald drei Jahrzehnten durchdringt sie hierfür wie kaum jemand sonst die Physiologie und Pathophysiologie des Kleinhirns. Eine Reise, die ihr eine stete Reihe von Förderungen, Ehrenfunktionen und Preisen bescherte, die sie immer wieder in die USA führte und auf der die Cerebellum-Expertin heute am 7T-Scanner Einsichten in die tiefsten Kleinhirn-Strukturen und seine wenig bekannten Rollen für die Kognition und bei Lernprozessen gewinnt.

Literatur

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Published Online: 2018-03-28
Published in Print: 2018-05-25

© 2018 by De Gruyter

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