Nachruf auf Wolfram Fischer
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Harm Schröter
Prof. Dr. mult. Wolfram Fischer (1928–2024) was a leading figure in social and economic history in Germany, bridging both fields throughout his career. Starting with research on social topics like poverty, he shifted to state activity and economic development. Fischer taught at the Free University Berlin between 1964 and 1996, as well as at Harvard and Oxford among many other places. He chaired the Historical Commission of Berlin after German reunification. His key works include the Social History Workbook and the six-volume Handbook of European Economic and Social History. Fischer was well-known for fostering new ideas and mentoring young scholars. He continued to publish after retirement, leaving a lasting legacy of more than 400 publications and thereby keeping a great influence.
Prof. Dr. mult. Wolfram Fischer ist im Frühjahr 2024 verstorben. Er war über Jahrzehnte hinweg einer der einflussreichsten Vertreter seiner Generation in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.
Zu Beginn seiner Karriere hat er zu sozialen Themen wie Handwerksburschen oder Armut veröffentlicht, doch verlagerte sich sein Schwerpunkt stetig zu historischen Feldern staatlicher Aktivität, sowie der Historie von makro- und mikroökonomischer Entwicklung. Seit den 1980er Jahren haben sich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Forschung und Publikation weitgehend getrennt, Fischer war einer der wenigen, die weiterhin in beiden Bereichen publizierten.
Fischers Einfluss wird bereits durch seine „Hausmacht“ an der Freien Universität zu Berlin deutlich: in den 1980er Jahren verfügte das Institut über vier Professoren, drei Sekretärinnen, zwei Bibliothekarinnen (für die Hausbibliothek), sieben wissenschaftliche Assistenten und Angestellte, sowie ein bis drei studentische Hilfskräfte pro Lehrperson. Das waren Dimensionen, die sonst eher in den angewandten Naturwissenschaften vorkamen. Umgangssprachlich nannte man den Bereich „Fischer-Institut“, und in der Tat verfügte Fischer eigenständig und ohne interne Konsultation über den Wechsel des Instituts von einem zum anderen Fachbereich innerhalb der FU.
Mit weit über 400 Veröffentlichungen gehört Wolfram Fischer zu den produktivsten Kollegen. [1] Bevor er 1964 seine Professur an der FU Berlin antrat, lehrte er in Karlsruhe und Münster. Er erhielt mehr Einladungen zum Forschen und Lehren, als er wahrnehmen konnte. Als Gastprofessor hat er unter anderem in den USA (Harvard, Stanford, Princeton, Georgetown, W. Wilson Center), in England (Oxford), in Kanada (Calgary), sowie in Israel (Jerusalem) gearbeitet. Zwei Jahre, nachdem er dem Ruf an die FU gefolgt war, wurde er in den Vorstand der Historischen Kommission zu Berlin berufen, deren Vorsitz er 1990 in der herausfordernden Phase unmittelbar nach der Wiedervereinigung Deutschlands übernahm.
Schon während seiner Zeit als Dekan des wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichs 1968–70, also auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, war er mit schwierigen, politisch bedingten Herausforderungen konfrontiert gewesen. Als Konsequenz trat er 1970 der Notgemeinschaft für eine freie Universität bei, die sich politischer Beeinflussung in Lehre und Forschung entgegenstellte. Durch seine Initiative wurde im Verein für Socialpolitik der ‚Historische Ausschuss‘ wieder gegründet.
Fischer war Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Academia Europaea und der American Philosophical Society. Die Ehrungen und Erfolge beruhten auf Fischers Können, ja Brillanz, aber auch darauf, dass er die Gelegenheit geschickt zu nutzen wusste: Es war die Zeit der Systemauseinandersetzung zwischen West und Ost, als beide Seiten auch auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte ihre Überlegenheit zu demonstrieren versuchten. Hatte doch bereits Marx die Ökonomie als grundlegendes Element menschlicher Existenz hervorgehoben. Nach dem Zusammenbruch der DDR kam es zu der skurrilen Initiative des führenden Wirtschaftshistorikers der DDR, Prof. Thomas Kuczinski, der sich anbot, als Assistent am „Fischer-Institut“ anzufangen, da er, wie er sagte, noch viel zu lernen habe…
Als Sohn eines Lehrers in Tannenberg/Schlesien, war Fischer eine Universitätskarriere nicht in die Wiege gelegt worden. Auch in den darauffolgenden Jahren deutete nichts darauf hin: 1944 als Flakhelfer eingezogen, musste er, Jahrgang 1928, schließlich noch Soldat werden. Gleich mehrfach gelang es ihm, aus französischer und amerikanischer Gefangenschaft zu fliehen. Er begann eine Gärtnerlehre, holte das Abitur nach und bewarb sich in Baden-Württemberg um einen Platz für eine Lehrerausbildung. Mit dem Hinweis, man habe für die kommenden 20 Jahre genug Lehrer, wurde er abgewiesen. Daraufhin begann er zu studieren – und wurde am Ende der wohl wichtigste Professor seines Faches in seiner Zeit.
Persönlich war Fischer großzügig, bescheiden, dennoch durchaus selbstbewusst. Seine Assistenten förderte er durch persönliche, strategische Forschungsgespräche und Vermittlung in sein berufliches Beziehungsnetzwerk. Im Semester veranstaltete er jeden Freitag ab 16:00 Uhr ein Kolloquium, in dem Wissenschaftler aus dem eigenen Haus, aber vor allem Gastprofessoren Forschungsthesen vortrugen. Obwohl die Teilnahme freiwillig war, fanden sich, trotz dem unmöglichen Veranstaltungszeitpunkt, regelmäßig 20 bis 30 Historiker und Historikerinnen zur Diskussion ein – wer könnte das nachmachen? Dieses Kolloquium steht stellvertretend wohl auch für den nachhaltigsten Aspekt seines Wirkens: das Anstoßen und Durchsetzen neuer Ideen. So war es Fischer, der, während die Treuhandanstalt noch arbeitete, den Anstoß gab, diese Arbeit wissenschaftlich zu reflektieren. Der mehrfach interpretierbare Ausspruch und zugleich Titel des 1993 publizierten Buches Das Unmögliche wagen [2] geht auf ihn zurück.
Fischer hat viel veröffentlicht, doch gibt es keine „Fischer-These“ wie die seines Namensvetters Fritz. Dagegen hat er wesentlich die Quantifizierung und Digitalisierung der Forschung in beiden Feldern, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, mitgetragen und -gestaltet. Durch seine vielen Schülerinnen und Schüler im In- und Ausland wirkt er indirekt fort. Seine einflussreichsten Werke sind wohl das Sozialgeschichtliche Arbeitsbuch, sowie das Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte (6 Bde. mit ca. 5.000 Seiten von der Antike bis zur Gegenwart). [3] Dass er dieses Megaprojekt mit vielen Einzelbeiträgen von Kollegen aus ganz Europa und den USA zur Veröffentlichung führen konnte, hat ihn besonders stolz gemacht. Selbstbewusst schreckte er vor keiner Aufgabe zurück. Als man ihn einmal scherzhaft fragte, ober sich den Posten des Vorstandsvorsitzenden von Siemens zutrauen würde, antwortete er: „Nun, ich habe es noch nicht probiert!“ Auch nach seiner Emeritierung 1996 forschte und publizierte er weiter. Wolfram Fischer verstarb hochbetagt am 28. April 2024 im Kreise einer großen Familie.
© 2025 Harm Schröter, published by De Gruyter
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Nachruf auf Wolfram Fischer
- Special Issue Articles
- Investment and Saving Opportunities for Different Socio-Economic Groups in Medieval and Early Modern Europe
- Politics, Investments and Public Spending in Bologna (End of 13th – First Half of 14th Century)
- Financing Poor Relief in the Small Lower Rhine Town of Kalkar in the Late Middle Ages
- Credit for the Poor, Investments for the Rich? Different Strategies for Investing and Saving Money in Medieval Tirol
- Financing the Commune
- Investing in a New Financial Instrument: The First Buyers of Urban Debt in Catalonia (Mid. 14th Century)
- Set for Life: Old-Age Pensions Provided by Hospitals in Late-Medieval Amsterdam
- Credit Investments in Northern Italian States (17th–18th Centuries)
- Research Forum
- Food Crises in Germany, 1500–1871
Artikel in diesem Heft
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- Financing the Commune
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- Set for Life: Old-Age Pensions Provided by Hospitals in Late-Medieval Amsterdam
- Credit Investments in Northern Italian States (17th–18th Centuries)
- Research Forum
- Food Crises in Germany, 1500–1871