Rund um das aktuelle Thema Falschinformationen im Netz und in digitalen Kommunikationskanälen
2022 führte der Arbeitskreis Informationsvermittlung die „Steilvorlagen für den Unternehmenserfolg“ zum zehnten Mal in Folge durch. Wir gratulieren sehr herzlich zu diesem Jubiläum und wünschen alles Gute für die kommenden Jahre und viele weitere erfolgreiche Steilvorlagen! Die gemeinsame Veranstaltung mit der GBI Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH und deren traditionellem Datenbank-Frühstück fand während der Frankfurter Buchmesse im Kongresszentrum in Frankfurt am Main statt und wurde auch per Livestream übertragen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Sabine Graumann (Arbeitskreis Informationsvermittlung) und Ralf Hennemann (Genios).
Steilvorlagen 2022 – nicht nur – für den Unternehmenserfolg
Mit dem Titel der Veranstaltung „Richtige Informationen – Falsche Schlüsse. Die Crux mit der Fehleinschätzung. Techniken und Methoden“ ging es zwar auch, aber bei weitem nicht nur, um best practices von Information Professionals in und für Unternehmen. Vielmehr war die „Analyse von Falschinformationen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven“, nämlich aus wirtschaftspsychologischer, technischer, recherchepraktischer und gesellschaftspolitischer Sicht, das zentrale Thema.
Die Analyse, Überprüfung und Bewertung von Informationen seien das „Core Business der Information Professionals schlechthin“, so Sabine Graumann vom Arbeitskreis Informationsvermittlung bei der Anmoderation. Ihnen sollten die Steilvorlagen dieses Jahr Hilfestellungen geben, wie sie Falschinformationen in digitalen Informationskanälen, wie Social Media, entlarven können und einen Überblick darüber geben, welche Tools und Methoden dazu zur Verfügung stehen.
Menschen sind evolutionär bedingt anfällig für Falschinformationen
Matthias Spörrle erklärte in der Keynote menschliches Entscheidungsverhalten aus evolutionärer Perspektive. Seine Kernthese lautete: „Die Natur des Menschen zu verstehen ist die Basis, um die Wirkung von falschen Nachrichten und deren Entscheidungskonsequenzen zu verstehen“. Zur menschlichen Natur gehörten unter anderem der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer (möglichst homogenen) Gruppe, die Neigung zu Assoziationen (Hund-Katze-Maus) und Denkabkürzungen (speziell, wenn das Gehirn müde ist).
Ferner seien Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse beim Menschen durch Umgebungsvariablen (wie z. B. Temperatur) beeinträchtigt, was für gezielte Manipulationen ausgenutzt werden könne. All dies mache den Menschen anfällig für Falschinformationen und unterschieden ihn im Übrigen von Künstlicher Intelligenz, die sich nicht von solchen Faktoren beeinflussen oder manipulieren ließe. Stress steigere die Neigung zu einfachen Wahrnehmungsschablonen und die Sehnsucht nach Superhelden, womit sich das verstärkte Aufkommen von Falschinformationen und Verschwörungsmythen in Krisenzeiten erklären lasse.
Sehr erhellend waren die Forschungsergebnisse, die Matthias Spörrle zur Illustration dieser evolutionär bedingten menschlichen Wahrnehmungsverzerrungen heranzog. Hier einige Beispiele: Großgewachsenen Menschen werde eine höhere Führungskompetenz unterstellt (da potenziellen Gegnern körperlich überlegen), hohe Außentemperaturen könnten ein aggressives Spielverhalten im Mannschaftssport steigern („in der Hitze des Gefechts“), in der Interaktion mit Menschen, die ein warmes Getränk zu sich nehmen, werden diese von ihrem Gegenüber auch als „wärmer“, herzlicher, wahrgenommen, als solche, die etwas Kaltes trinken. Die Gruppenorientierung des Menschen führe dazu, dass tendenziell wichtiger genommen werde, wer (Experte, Gruppenmitglied) etwas sagt, als das, was gesagt wird.
Die Verbreitung von Falschinformationen werde auch durch die Verwechslung oder Gleichsetzung von Informationsquellen und -kanälen begünstigt: Entscheidungen, die von vielen anderen (also z. B. über viele Kanäle) geteilt werden, übernehme man eher für sich selbst, auch wenn sie nur aus einer einzigen (ungeprüften) Quelle stammen, als solche, die von vielen verschiedenen Quellen bestätigt, aber nur über einen Kanal veröffentlicht werden.
Entstehungsbedingungen und Methoden zur Erkennung von Falschinformationen
Mit dem interessanten Beispiel der Kleinstadt Veles in Mazedonien führte Thomas Mandl in sein Vortragsthema ein: Die Arbeitslosenquote ist dort hoch (70 %), das Lohnniveau niedrig (durchschnittlich 150 Euro/Monat). Indem sie gegen Bezahlung massenhaft Falschinformationen ins Netz stellten, gelangte eine Gruppe junger Leute plötzlich zu relativem Reichtum. Dabei verfolgten sie selbst keine Machtinteressen und politische Ziele mit der Verbreitung von Falschinformationen. Mit diesem und weiteren Beispielen wurde deutlich, dass häufiger als vermutet ökonomische Motive zur Verbreitung von Falschinformationen führen.
In seinem Vortrag ging Thomas Mandl unter anderem den Fragen nach: Was sind die Entstehungsbedingungen für Falschinformationen? Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz bei der Aufdeckung von Falschinformationen und welche Gegenstrategien sozialer oder technologischer Art gibt es überhaupt?
Er führte Beispiele für manuelle Methoden (Checklisten und Fact Checking Sites) und für Werkzeuge (Maschinelles Lernen, Apps und Browser-Erweiterungen) auf. Algorithmen (z. B. Bots) spielten in diesem Kontext eine Doppelrolle: Sie unterstützen zum einen das Aufspüren von Falschinformationen, produzierten aber inzwischen auch schon selbst umfangreiche Text- und Bildinformationen, wie das 2019 bei Springer erschienene, erstmals rein maschinell erzeugte Buch „Lithium-Ion Batteries. A Machine Generated Summary of Current Research“.
Thomas Mandls Fazit: Falschinformationen auf die Spur zu kommen sei ein sehr aufwendiger Prozess, für den der Einsatz von KI unverzichtbar sei. Es gelte abzuwägen, in welchen Einzelfällen dieser Aufwand gerechtfertigt sei. Wenn auch die derzeit verfügbaren Tools noch nicht perfekt funktionierten, müssten sich Information Professionals damit befassen, den Markt dafür beobachten, neue Entwicklungen überprüfen und in ihr Handeln einbeziehen.
Gegen Fake, Verschwörung und Propaganda im Internet
Bereits seit 2011 ist der Mimikama – Verein zur Aufklärung gegen Internetmissbrauch in Österreich aktiv. Er klärt über Internetbetrug und Falschinformationen auf, betreibt eine Faktencheck-Plattform (www.mimikama.org) und vermittelt mit Workshops und Kursen Medienkompetenz.
André Wolf stellte in seinem Vortrag dar, welche Herausforderungen mit „Internet, Social Media und das veränderte Verhältnis zwischen Sender, Empfänger und filternder Instanz“ verbunden sind, und dass wir lernen müssen, damit umzugehen. Hierzu gehöre auch der Umgang mit Hass und Shitstorms im Netz. Sein Appell an die davon Betroffenen: „Lasst Euch niemals silencen!“
Wie seine Vorredner führte er aus, warum in Krisen mehr Falschinformationen produziert und verbreitet werden. Er unterschied dabei die folgenden Eskalationsstufen:
Narrative, Trollerei
Fake News
Verschwörungstheorien, die komplexe Probleme auf einfache sinnstiftende Erzählungen (Narrative) herunterbrechen (Beispiel Q-Annon) und die schließlich
von verbalen Hassaktionen zu realer Gewalt und demokratiefeindlichen Übergriffen führen können.
„Einfache“ Fake News seien weniger problematisch und könnten schneller entlarvt werden, wohingegen Narrative zu erkennen aufwendiger sei.
In Ergänzung zum Faktencheck werte man bei Mimikama nun auch Falschinformationen aus vergangenen Zusammenhängen, wie der Corona-Pandemie, aus und ziehe daraus Schlüsse für künftige Situationen. Ziel sei, antizipieren zu können, was im Hinblick auf die aktuellen Krisen (Russland-Ukraine-Krieg, Energiekrise, evtl. Wiederaufflackern der Pandemie) und den befürchteten „Wutwinter“ an Falschinformationen und Verschwörungserzählungen zu erwarten sei. Dies ermögliche es, sich besser darauf vorzubereiten und dem im Vorfeld schon entgegenzuarbeiten (Prebunking). Auf diese Weise könne die Widerstandskraft gegen Falschinformationen präventiv gestärkt werden.
Wie seine Vorredner fasste auch André Wolf zusammen, was eigentlich Falschinformationen so verführerisch und erfolgreich macht: die Sehnsucht nach einfachen Erklärungsmustern in Krisensituationen, der Rückgriff auf uralte Mythen und Muster in aktuellen Verschwörungserzählungen, die Bestätigung bereits vorhandener eigener Annahmen und Vorbehalte (Beispiel Impfskepsis) und die mit den Falschinformationen transportierten Emotionen. Daraus leitete er den Appell an Journalisten ab, ihre (seriösen) Texte attraktiv und lebendiger zu formulieren – ein Anspruch, dem er selbst mit seinem spannenden Vortrag auf jeden Fall voll und ganz gerecht wurde.
Kompetenzen und Erfolgsfaktoren für „Bespoke Research“
Carsten Gayers Vortrag über Bespoke Research fiel auf den ersten Blick etwas aus dem Themenrahmen der Steilvorlagen 2022. Zwar ging es in dem Vortrag nur am Rande um den Umgang mit Falschinformationen, aber auch hier um die erforderlichen Kompetenzen und geeigneten Vorgehensweisen für die Recherche von seriösen und zuverlässigen (Wirtschafts)Informationen.
In einer spontanen Online-Umfrage vor dem Vortrag stimmten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Steilvorlagen bei der Frage, was für die Kundenberatung auf Top Management-Ebene wichtiger sei – Branchenkenntnis oder kommunikative Kompetenz – mit großer Mehrheit für kommunikative Kompetenz. Sie sei, so Carsten Gayer, erforderlich, um im Kundenberatungsgespräch Klarheit über Auftrag, Erwartungen und die zu erforschenden Daten und Informationen zu erzielen. Entscheidend für den Erfolg der Researchprojekte sei bereits die „Needs Analysis“ und das kontinuierliche Stakeholder Management. Gegenüber z. B. fertigen Reports sei das individuell auf den Kunden zugeschnittene Vorgehen flexibel, dynamisch und anpassungsfähig im Projektverlauf, verlässlich und liefere exklusives Wissen.
Auch im Rahmen des von Carsten Gayer vorgestellten „Bespoke Research“ kommen KI-Tools – allerdings „gepaart mit menschlicher Intelligenz“ zum Einsatz. Sie werden für die Suche in unstrukturierten Informationen eingesetzt, helfen Fake News und „Noise“ zu eliminieren und so der Flut an verfügbaren Wirtschaftsinformationen Herr zu werden.
Fazit
Die Veranstaltung hat Steilvorlagen für die aktuelle gesellschaftliche Aufgabe der Bekämpfung von Falschinformationen geliefert und damit ihr Versprechen eingelöst. Sie sollte den Information Professionals Hilfestellungen geben, wie sie Falschinformationen entlarven können, und einen Überblick darüber geben, welche Tools und Methoden dazu zur Verfügung stehen. Dies ist mit den durchweg qualitativ hochwertigen, lehrreichen und anregenden Vorträgen sehr gut gelungen.
Alle Redner haben in ihren Vorträgen die gesellschaftlichen, psychologischen, und ökonomischen Einflussfaktoren herausgearbeitet, welche die Entstehung und Verbreitung von Falschinformationen begünstigen, und die Bedeutung von Medien- und Informationskompetenz im Umgang mit Falschinformationen hervorgehoben. Sie haben Verständnis für Zusammenhänge geweckt, das dabei hilft, der Verbreitung von Falschinformationen entgegenzuwirken.
Auf die Frage, ob sie öffentliche Fördermittel eher in die Entwicklung neuer Tools oder in das Bildungswesen investieren würden, fiel die Entscheidung der Referenten in der Podiumsdiskussion unisono pro Bildungswesen aus. Während man die Entwicklung der Tools dem Markt überlassen könne, sei die Situation an den Schulen mehr als reformbedürftig, und für die Förderung der Informationskompetenz an Schulen müssten dringend öffentliche Gelder bereitgestellt werden.
In diesem Zusammenhang wies André Wolf darauf hin, dass Mimikama ein komplettes Bildungspaket für Schulen erarbeitet habe und einsetze und gab damit allen Information Professionals, die sich mit Informationskompetenz und Bildung beschäftigen, noch eine wertvolle Information mit auf den Weg.
Im Anschluss an Vorträge und Podiumsdiskussion fanden noch Expertengespräche in drei virtuellen Breakout-Sessions statt: Expertengespräch mit Carsten Gayer und Matthias Spörrle, Expertengespräch mit Thomas Mandl und André Wolf sowie GENIOS News Talk: Relaunch genios.de, GENIOS Corporate DatenService (Schnittstelle, Datenlieferung für Analyse, Auswertung auf den eigenen Servern).
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Gudrun Schmidt
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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