Rezensierte Publikation:
Harri Veivo. 2022. Dans L’ombre de l’avenir. La poésie d’avant-garde en Finlande 1916-1944. Caen: Presses universitaires de Caen.
Harri Veivos Monographie Dans l’ombre de l’avenit. La poésie d’avant-garde en Finlande 1916–1944 (dt. etwa „Im Schatten der Zukunft. Die Avantgarde-Poesie Finnlands 1916–1944“) richtet den Fokus auf eine Literatur, die in der französischen Literaturwissenschaft wohl kaum bekannt ist: den finnlandschwedischen und den finnischsprachigen Modernismus. Unter Berücksichtigung dieses Umstands muss die Studie als Pionierarbeit verstanden werden, da sie einen guten Einstieg in eine besonders produktive und prägende Phase der nordeuropäischen Literaturgeschichte bietet. Auβerdem ist Veivos Ansatz auch für ein Publikum, das mit den hier behandelten Autor:innen vertraut ist, von Interesse, da Finnlands schwedischsprachige und finnischsprachige Moderne in der Forschung häufig getrennt voneinander untersucht werden, was angesichts der Mehrsprachigkeit der Akteur:innen und den Verbindungen, die sie untereinander pflegten, zumindest in Frage gestellt werden kann.
Veivo legt in diesem Sinne eine ausgewogene Analyse von ausgewählten lyrischen Werken der folgenden Personen vor: Edith Södergran (Kapitel 5), Elmer Diktonius (Kapitel 6), Katri Vala (Kapitel 8), Aaro Hellaakoski (Kapitel 9) und Gunnar Björling (Kapitel 10). Darüber hinaus werden viele weitere Schriftsteller:innen wie Henry Parland, Hagar Olsson oder Olavi Paavolainen miteinbezogen.
Der Aufbau der Studie trägt dem Umstand Rechnung, dass die Adressat:innen mit den historischen Hintergründen, deren Kenntnis für ein tieferes Verständnis der „Avantgarde-Poesie“ nötig ist, wahrscheinlich kaum vertraut sind, indem mit einem Kapitel über „Le contexte historique de la Finlande“ eingeleitet wird. So unterstreicht Veivo, dass die hier im Mittelpunkt stehenden Texte nicht nur eine finnische Ausprägung der europäischen Avantgarde sind, sondern dass sie geprägt sind von ihrer Entstehungszeit und -umgebung, sprich der jungen Nation Finnland, deren Konstituierung zwischen den Nachbarmächten Schweden und Russland, zu deren Staatsgebieten Finnland phasenweise gehörte, im 19. Jahrhundert Fahrt aufgenommen hatte und deren Geschichte mit einem blutigen Bürgerkrieg beginnt. Hinzu kommt ein zugespitzter Sprachenstreit, der von nationalistischen Tönen sowohl der schwedisch-als auch der finnischsprachigen Finn:innen geprägt wurde. Vor diesem Hintergrund sind die formal-ästhetischen Experimente besonders auch als Versuche zu verstehen, diese zeitgenössischen Spannungen nicht nur aufzugreifen, sondern neue Wege aufzuzeigen. Dass diese neue Zukunft bereits in den Schatten weiterer Kriege getaucht war, bringt bereits Veivos Titel gut zum Ausdruck.
Man kann Veivo leicht folgen, da er nicht nur Autor:innenportraits und Analysen einiger zentraler Gedichte präsentiert, sondern auch das literarisch-kulturelle Feld absteckt und zentrale Metaphern dieser recht diversen Künstlergruppierungen in den Mittelpunkt rückt. So wird die Struktur der Studie angenehm aufgelockert.
In Kapitel 3 werden die wichtigsten Zeitschriften, Ultra (zweisprachig), Tulenkantajat (finnischsprachig) und Quosego (schwedischsprachig) vorgestellt und in Kapitel 7 wird anhand von drei Beispielen (Södergran, Diktonius und Paavolainen) gezeigt, wie unterschiedlich ein Ort wie der Vulkan Chimborazo symbolisch aufgeladen und für die eigene ästhetisch-politische Agenda funktionalisiert werden konnte. Damit liefert Veivo ein anschauliches Beispiel für die Vielstimmigkeit und Diversität des finnischen Modernismus, die es nahelegen, von finnischen Modernismen im Plural zu sprechen, wobei sich diese Polyphonie eben nicht in erster Linie auf die Zwei-und Mehrsprachigkeit der Schriftsteller:innen zurückführen lässt.
Insgesamt ist Dans l’ombre de l’avenir als gelungene Einführung zu verstehen, die bekannte Forschungsergebnisse zusammenführt, wobei eine Reihe von wissenschaftlichen Monographien der letzten ca. zehn Jahre nicht rezipiert wurden (Meurer-Bongardt 2011, Tidigs 2014, Möller-Sibelius 2015, Kuhlefelt 2018, Jarlsdotter-Wikström 2020). Dies ist schade, da sich hier viele neue Perspektiven eröffnen. Möglicherweise hat Veivo sich bewusst auf die Forschung beschränkt, die sich explizit mit Lyrik beschäftigt, allerdings spricht aus seiner Darstellung deutlich der Anspruch, das gesamte literarische Feld zu skizzieren, weshalb ein Überblickskapitel über die Prosa und Dramatik der Modernist:innen das Bild sinnvoll vervollständigt hätte.
Einen ansprechenden Abschluss bildet der Anhang mit Fotos der präsentierten Schriftsteller:innen, wobei nicht nur Portraitaufnahmen, sondern auch Bilder von Festen, der Stadt Helsinki etc. mit aufgenommen wurden und Veivos Darstellung stimmungsvoll komplettieren.
© 2025 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
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Artikel in diesem Heft
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- Kondrup, Johnny, Britta Olrik Frederiksen, Christian Troelsgård & David Bloch: Dansk Editionshistorie Bd. 1–4
- Christian Donat: Modalpartikeln im Norwegischen
- Nordin, Jonas: Kodex. Boken i medeltidens Sverige
- Benedikt Jager: Seehundspeck und Hundeschlitten: Alfred Otto Schwede als Übersetzer des skandinavischen Nordens
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- Amanda Doxtater: Visions and Victims. Art Melodrama in the Films of Carl Th. Dreyer
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