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Amanda Doxtater: Visions and Victims. Art Melodrama in the Films of Carl Th. Dreyer

  • Stephan Michael Schröder EMAIL logo
Published/Copyright: December 1, 2025

Rezensierte Publikation:

Doxtater, Amanda. 2024. Visions and Victims. Art Melodrama in the Films of Carl Th. Dreyer. The University of Wisconsin Press.


Im Personalverzeichnis der dänischen Filmproduktionsfirma Nordisk findet sich im Jahr 1918 zu Carl Th. Dreyer der Eintrag „Fratraadt 1/5 18 som Forfatter, fortsætter som Instruktør“. Seit 1913 hatte Dreyer für die Firma Drehbücher begutachtet, redigiert und nicht zuletzt selbst geschrieben; 1918 durfte er jetzt endlich selbst Regie führen. Für Dreyer war dies der Beginn einer internationalen Karriere, in deren Verlauf er zu einem der anerkanntesten europäischen Regisseure wurde, vielfach ausgezeichnet als Epitom des europäischen Kunstfilms in Absetzung vom populären Unterhaltungskino. Aber in welchem Verhältnis steht Dreyers Tätigkeit als Autor häufig melodramatischer, auf einen Massenmarkt zielender Drehbücher (alle im Übrigen online einsehbar unter carlthdreyer.dk) zu seinem späteren Schaffen als auteur-Regisseur?

Dreyer selbst hat eine scharfe Grenze zwischen seiner Tätigkeit für Nordisk und deren Produktion in den 1910er Jahren einerseits und seinen eigenen filmischen Ambitionen und Realisationen andererseits gezogen. In der dänischen Filmproduktion, so Dreyer in einem programmatischen Zeitungsartikel 1920, seien Filme immer nur ,fabriziert‘ worden. Fabrik versus Kunst: Dreyers Narrativ über seine Biographie ist von großen Teilen der Dreyer-Forschung perpetuiert worden. Dem frühen Wirken Dreyers wurde so zumeist keine nachhaltige Bedeutung zugeschrieben, die über das Erlernen des puren Handwerks der Drehbucherstellung und Filmproduktion hinausging.

In ihrer Studie Visions and Victims. Art Melodrama in the Films of Carl Th. Dreyer wendet sich Amanda Doxtater entschieden gegen diese „standard teleological trajectory of his development from a practitioner of popular culture to an art cinema auteur“ (xiv). Doxtaters Ziel ist es, eine Kontinuität zwischen Dreyers Tätigkeit als Drehbuchschreiber für Nordisk und seinem späteren auteur-œuvre aufzuzeigen, die sie mit Dreyers Einsatz des melodramatischen Modus in seinen ,Kunstfilmen‘ begründet. Trotz der Omnipräsenz des Melodramas und des Melodramatischen in Nordisk-Filmen sowie der unübersehbaren Faszination für Leid und Pathos in Dreyers Filmen ist ein solcher Rekurs in der Forschung bislang eher vermieden worden. Den Grund hierfür sieht Doxtater nachvollziehbarerweise im Stigma des Populärkulturellen und in der diskursiven Effeminisierung des Melodramas. Unter Rückgriff auf die einschlägige Forschung Peter Brooks’, aber auch die feministische Melodramaforschung Linda Williams’ oder Christine Gledhills, die in den letzten Jahrzehnten ganz wesentlich zur Aufwertung des Melodramas als ästhetischer Ausdrucksform beigetragen haben, plädiert Doxtater für eine Interpretation von Dreyers Filmen als Manifestationen eines ,Kunstmelodramas‘. Dieses art melodrama sei zu verstehen als „an iteration of the melodramatic mode informed by art cinema. It explicitly combines melodrama’s privileging of the expressive potential of the suffering human body, emotion, and spectacle, on the one hand, with art cinema’s claim to ambiguity, aesthetic distance, media consciousness, reflexivity, authorial subjectivity, and formal experimentation, on the other“ (3–4). Der Nachweis des melodramatischen Modus in Dreyers Filmen wird von Doxtater nicht zuletzt als ein feministisches Projekt verstanden, geht es ihr doch ganz explizit darum, „asserting melodrama, emotion, and the body as central in Dreyer’s work“ (15).

In ihrer Studie operiert Doxtater mit zwei zentralen, thematisch miteinander verknüpften Analysebegriffen: Archiv und Effigiekultur. Unter ersterem versteht sie nicht nur das konkrete Dreyer-Archiv im Dänischen Filminstitut, sondern auch das persönliche Repositorium, auf das Dreyer für seine Filme zurückgreifen konnte: seine eigenen früheren Aufzeichnungen, Motive, Ideenskizzen, Nordisk-Drehbücher und selbstverständlich Filme. Den Begriff der Effigiekultur übernimmt sie aus Mark Sandbergs inspirierender Studie Living Pictures, Missing Persons: Mannequins, Museums and Modernity von 2005. Sandberg beschreibt hier anschaulich die Überlagerung verschiedener medialer Repräsentationen (z. B. museale Ausstellung und neue Abbildungstechnologien) und das daraus folgende Wechselspiel von Voyeurismus und Immersion der Zuschauenden in der skandinavischen Ausstellungskultur um 1900. Doxtater versucht dies für ihr Vorhaben fruchtbar zu machen, indem sie in Dreyers Filmen die Bedeutung des Körpers für die zu interpretierende filmische mise-en-scène betont und die Gleichzeitigkeit der (bedrohten, verstümmelten, verbrennenden, hypnotisierten, toten) Körper und der Ephemeralität des kinematographischen Bildes unterstreicht, die bei den Zuschauenden sowohl starke Affekte hervorrufe als auch zur Medienreflexion anrege.

In einem quasi propädeutischen Kapitel beschäftigt sich Doxtater zunächst mit Dreyers Drehbüchern für Nordisk. Diese stellen für sie den Anfang von Dreyers Kunstmelodrama-Archiv dar, auf das er später immer wieder rekurriert habe – wobei Doxtaters Postulat einer solchen Kontinuität nicht nur auf eine ,Melodramatisierung‘ der späteren Dreyer’schen Filme hinausläuft, sondern zugleich dem populären frühen dänischen Kino auch explizit attestiert, das Kunstmelodrama bereits ästhetisch erforscht zu haben. Es folgen Einzelkapitel zu Dreyers fünf berühmtesten Filmen (La Passion de Jeanne d’Arc (1928), Vampyr (1932), Vredens Dag (1943), Ordet (1955) und Gertrud (1964)), die unter Rückgriff auf zumeist einen bestimmten Nordisk-Film oder ein melodramatisches Subgenre aus Dreyers Nordisk-Zeit sub specie melodramatischer Modus als metareflexive Verhandlung Dreyers mit seiner eigenen Vergangenheit gelesen werden. La Passion de Jeanne d’Arc wird so in Bezug gesetzt zu „varieté, a topos or perhaps subgenre of art melodrama prevalent at Nordisk that explored pathos and spectacle engendered by live spaces of performance, the interactions of bodies within it, and the media reflexivity involved with filming them“. (47) Bei Vampyr wiederum werden die Verbindungen zum ,Opfer-Film‘ der 1910er ausgelotet, einem melodramatischen Subgenre, in dem Opfer in all ihrer Körperlichkeit und zugleich semantischen Doppeldeutigkeit (victim/sacrifice) im Zentrum stehen. Die Perspektive auf die Ästhetik des Melodramatischen in Dreyers Filmen erweist sich durchweg als äußerst produktiv, wenn Doxtater z. B. ausführt, wie die berühmte Haarschneideszene in La Passion de Jeanne d’Arc, die gemeinhin als Ausweis von Dreyers realistischem Authentizitätsstreben gilt, in ihrer ganzen Brutalität und mit ihrem ganzen Pathos melodramatisch gedeutet werden sollte, oder wie die melodramatischen Impulse in Filmen der Nordisk im Dreyer’schen Kunstmelodrama in extremerer Form wiederbelebt werden. Die siebzehnminütige Wiederauferstehungsszene in Ordet, die Filmgeschichte geschrieben hat, interpretiert sie als prototypische Verschmelzung von Kunstkino und Melodrama, und Gertrud, Dreyers letzten Film, als ein Kunstmelodrama über das Kunstmelodrama, also als autoreflexiv in zweiter Ordnung.

Amanda Doxtater demonstriert in Visions and Victims. Art Melodrama in the Films of Carl Th. Dreyer gleichermaßen nachdrücklich wie nachvollziehbar, dass Dreyers explizite Distanzierung von den melodramatischen Filmen seiner Nordisk-Zeit als Bourdieu’sche Feldpositionierung verstanden werden sollte und keineswegs bedeutet, dass er in seinen Filmen nicht intensiv auf den Modus des Melodramatischen zurückgegriffen hat. Bei Dreyer sei eine fundamentale Gleichzeitigkeit von Attraktivität und Ablehnung des melodramatischen Modus am Werk, die de facto dazu geführt habe, dass er den melodramatischen Modus in Form des Kunstmelodramas innovativ erneuert habe. Leider mehr angedeutet als ausgeführt wird in diesem Kontext die These, dass auch ein Großmeister des Hollywood-Melodramas wie Douglas Sirk (geboren als Hans Detlef Sierck) im Lichte einer allgemeinen europäischen Tradition des Kunstmelodramas zu sehen ist.

Doxtater hat eine Studie vorgelegt, die von ihrer tiefen Vertrautheit mit der ganzen Breite des Dreyer’schen Schaffens (nicht zuletzt mit seinen frühen Drehbüchern) zeugt. Die sorgfältigen, subtilen Analysen von zentralen Filmen lassen immer wieder verblüffende Querbeziehungen zwischen seinem Schaffen bis 1918 als Drehbuchautor der Nordisk und nach 1918 als Filmemacher erkennen. Doxtaters Buch mit der klar formulierten These vom Fortleben des melodramatischen Modus in Dreyers Filmen als Kunstmelodrama ist zweifellos ein gewichtiger Beitrag zur Dreyer-Forschung, die 2024 auch durch die Doctoral Thesis The Historiography of Filmmaking – through the lens of Carl Th. Dreyer bereichert worden ist, die der seit Jahrzehnten renommierteste Dreyer-Forscher, Casper Tybjerg, an der Universität Kopenhagen verteidigte. Um Doxtaters Studie wertzuschätzen, muss man selbstverständlich nicht mit jeder Interpretation konform gehen oder ihr entgrenztes Verständnis von ,queer‘ teilen („to signal difference from or resistance to norms“, 12), mit dem sogar ein nicht-teleologisches Verständnis von (Film-)Geschichte bezeichnet wird (das wohl längst die Norm sein dürfte). Manche theoretische Rückbindung ist eher verwirrend, als dass sie zur Klarheit beiträgt (z. B. „Connecting effigy culture, Nordisk, Dreyer, Balukhyati, melodrama, and queer historiography, I suggest that each draws upon the body to reimagine old and new, high and low, across time“, 38–39). Gewünscht hätte man sich generell etwas mehr Zutrauen in die Erinnerungsfähigkeit des Lesers bzw. der Leserin, wenn zentrale Thesen immer wieder wiederholt werden. Etwas Stirnrunzeln muss der Umstand hervorrufen, dass bis auf zwei Ausnahmen französische und deutschsprachige Forschung (sofern sie nicht in englischer Übersetzung vorliegt) anscheinend nicht zur Kenntnis genommen worden ist – gerade bei einem Filmemacher, der einige seiner größten Erfolge in Deutschland und Frankreich gedreht und dort entsprechend auch wissenschaftliches Interesse erregt hat, ist dies per se nicht unproblematisch. Kein Ruhmesblatt ist das Buch schließlich in redaktioneller Hinsicht für die renommierte University of Wisconsin Press, lässt doch die Qualität der Abbildungen ebenso wie das Korrekturlesen zu wünschen übrig. So wird z. B. der Nachname von Clara Wieth, der in den 1910ern berühmtesten Schauspielerin des dänischen Films, durchgängig (und wenigstens konsequenterweise genauso im Index) zu „Weith“ verhunzt. Bei einem Verkaufspreis von knapp $ 80 für ein eher schlankes Buch sollte so etwas nicht passieren.


Corresponding author: Stephan Michael Schröder, Institut für Skandinavistik/Fennistik, Universität zu Köln, Cologne, Germany, E-mail:

Online erschienen: 2025-12-01
Erschienen im Druck: 2025-12-17

© 2025 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 11.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/ejss-2025-2021/html
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