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Benedikt Jager: Seehundspeck und Hundeschlitten: Alfred Otto Schwede als Übersetzer des skandinavischen Nordens

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Veröffentlicht/Copyright: 1. Dezember 2025
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Benedikt Jager 2019. Seehundspeck und Hundeschlitten: Alfred Otto Schwede als Übersetzer des skandinavischen Nordens. (Skandinavistik. Sprache – Literatur – Kultur Bd. 13). Wien: LIT Verlag.


Benedikt Jager stellt sich der komplexen Aufgabe, Leben und Schaffen des protestantischen Theologen, Schriftstellers und Übersetzers Schwede (1917–1987) zum Gegenstand einer Biographie mit wissenschaftlichem Anspruch zu machen. Das ist leichter gesagt als getan, treffen sich bei Schwede doch nicht nur etliche Stränge der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern in seinem Werk auch unterschiedliche Genres, von religiös-erbauungsschriftartig gefärbten Texten bis hin zu auf den ersten Blick säkularer Reiseliteratur, deren Verbindung sich zunächst nicht zwingend erschließt. Zudem tritt er sowohl als Verfasser wie als Übersetzer auf. Dass im Untertitel auf seine Qualität als „Übersetzer des skandinavischen Nordens‟ verwiesen wird, besitzt eine kluge Doppelbödigkeit. Einerseits übertrug Schwede literarische Texte aus den skandinavischen Sprachen ins Deutsche, ging also der klassischen Übersetzungstätigkeit nach. Andererseits trugen seine zahlreichen selbständigen Schriften zum Skandinavienbild vor allem in der DDR bei, übersetzten also zumindest in Teilen fremde Kulturen in den Verständnishorizont seiner dortigen Rezipienten. In welcher Weise dies geschah, ist auch Teil der Untersuchung.

Die Bewältigung dieser Aufgabe erfordert die umfassende Kenntnis von Leben und Werk des Protagonisten und des politisch-kulturellen Milieus, in dem er sich bewegte. Es ist sympathisch, dass Jager dessen Bedeutung nicht überschätzt: „Schwede ist nicht der lang ersehnte ‚diamond in the dust‛, dessen Ehrenrettung und Renaissance dringend notwendig waren.‟ (S. 12f.) Gleichwohl liegt darin der Reiz des Themas. Schwedes Werk verführt nicht zu einem Analyseansatz, der „das einzelne Werk als ästhetisch autonomes Kunstwerk‟ in den Mittelpunkt stellt, „sondern die umfassenderen Konstellationen, die sich mit dem Autorennamen Schwede bezeichnen lassen‟. (S. 19) Das ermöglicht eine umfassende Perspektive auch auf die Bedingungen, in denen Schwede in seiner vielfältigen Tätigkeit agierte. Seine Texte werden „als kulturelle Phänomene kontextualisiert‟. (S. 20) Zunächst widmet sich Jager dabei den Reisebüchern. Dann anhand ausgewählter Beispiele seinem übersetzerischen Werk, das vor allem darauf untersucht werden soll, „inwiefern die systemischen Rahmenbedingungen der DDR (Zensur, didaktische Aufgaben der Literatur usw.) Einfluss auf die Übersetzungen hatten und den Übersetzungsstil Schwedes prägten‟. Auf diesem Weg möchte Jager „eine Beschreibung der Translationskultur der DDR‟ und „Schwedes spezifische Position innerhalb dieser‟ skizzieren. (S. 20) Hier trifft Jager einen hochinteressanten Punkt, war Schwede doch als protestantischer Theologe nicht qua Amt Teil des sich sozialistisch gerierenden Mainstream der DDR. Und doch gehörte er zu den Privilegierten, die ins nichtsozialistische Ausland reisen konnten. Zwar geschah dies unter Auflagen, denen er sich aber weitgehend entziehen konnte. Auch ist er nach dem Kenntnisstand Jagers weder als Mitarbeiter noch als Opfer in das Visier der DDR-Staatssicherheit geraten. Jager weiß diese Besonderheit schlüssig zu erklären. (S. 39f.) Er arbeitet im Denkmuster Schwedes eine auf den ersten Blick irritierende Anschlussfähigkeit zwischen einem sozialistischem Gesellschaftsmodell und den spezifischen ethischen Vorstellungen des Laestadianismus, einer der besonders in Nordskandinavien verbreiteten lutherischen Erweckungsbewegungen, heraus. Normative „Doppelcodierungen‟ insbesondere in seinen nordskandinavischen Reisetexten machten diese „ – eingespannt in divergente Blickordnungen (protestantischer Pfarrer aus einem sozialistischen Land) – […] für die jeweilige Perspektive lesbar und akzeptabel‟. (S. 77f.)

Die unbewusst wohl dabei mitschwingende Kompatibilität von säkular gewendeten und metaphysisch gegründeten Heilsvorstellungen gestattet mehrerlei. Sie ermöglicht es Schwede einerseits, sich als lutherisch geprägter Autor weitgehend widerspruchsfrei im sozialistischen Staat zu bewegen – und vor allen Dingen zu schreiben. Sie ermöglicht es andererseits den Organen des sozialistischen Staates, den lutherischen Pastor reisen und schreiben zu lassen, ohne in die paranoide Furcht vor Staatsfeindlichkeit verfallen zu müssen.

Die tiefgründige Kenntnis der politisch-gesellschaftlichen Umstände, unter denen Schwede lebte und arbeitete, sowie seines literarischen Werkes ermöglicht Jager eine interpretatorische Feinkalibrierung, welche die Mehrdeutigkeit der Arbeiten Schwedes ebenso berücksichtigt wie die Komplexität des gesellschaftlichen und politischen Nährbodens, auf dem diese Arbeiten gediehen. Dabei kommt es zu Wertungen, die man bisweilen als Überinterpretation, eher aber als Denkofferte ansehen mag. So kann man sich fragen, ob die Schilderung von Umweltzerstörungen in Nordschweden auf Kosten des traditionellen Lebensraumes der samischen Bevölkerung in den 1969 erschienenen skandinavischen Reisebildern unter dem Titel Bis hinauf zum Schneehuhnberg mehr als nostalgische Modernisierungskritik, zukunftsweisende Kapitalismuskritik oder gar als „Kommentar zu DDR-spezifischen Problemfeldern des sozialistischen Menschenbildes“ zu sehen sind (S.94). Es ist nicht zuletzt der Wagemut Jagers für ergebnisoffene Interpretationsangebote, aus dem sich das Vergnügen an der Lektüre des Buches speist.

Dieses Vergnügen erfährt eine leichte Eintrübung durch immer wieder auftauchende sprachliche Eigenheiten, die den Lesefluss irritieren. Sie sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass der Autor seit Jahrzehnten mehr im Norwegischen als im Deutschen zu Hause ist. Das Manuskript hätte es verdient, besser lektoriert zu werden. Angesichts der inhaltlichen Qualität ist das freilich ein marginaler Kritikpunkt.

Jagers interpretatorischer Wagemut findet sich nicht nur in dem Teil der Untersuchung, der sich mit Schwede als Autor befasst, sondern auch in dem, der sich seiner Übersetzungstätigkeit zuwendet. Deren schierer Umfang veranlasst Jager zu einem tief in die DDR-Geschichte eintauchenden Urteil, wenn er Schwede als „Adolf Hennecke der Feder‟ (S. 167) charakterisiert. Damit begibt sich Jager in die Sphäre einer (Teil-)Bewertung von Schwedes Œuvre, stand und steht der Name Hennecke doch eher für eine quantitative als für eine qualitative Planübererfüllung. Wie alle Analogien, so hinkt auch diese. Assoziiert man mit Adolf Hennecke und der nach ihm benannten Aktivistenbewegung doch unbedingte Partei- und Systemtreue, die Jager bei Schwede zumindest in jener Absolutheit nicht als gegeben ansieht. Mit gleichem Recht könnte man den Vielschreiber und -übersetzer als schwejkhaften Kulturschaffenden apostrophieren, der sich durch geschicktes Lavieren zwischen ganz unterschiedlichen Milieus positioniert. Auf diese Weise erweiterte Schwede freilich nicht nur Arbeitsspielräume für sich, sondern bildete Synapsen nicht nur zwischen dem kirchlich geprägten und parteinah säkularen Milieu in der DDR, sondern auch zwischen der DDR als literarischem Produktionsstandort und dem nichtsozialistischen Ausland. Damit erfüllte er ein Desiderat der DDR-Kulturpolitik, ohne indes völlig durch sie vereinnahmt zu werden.

Jager arbeitet nicht nur schlüssig das kulturpolitische Umfeld der Übersetzertätigkeit Schwedes heraus. Er markiert auch Eigenheiten seiner translatorischen Praxis, die er in ihrer ausgeprägten Texttreue in der „lutherischen Tradition der Bibelübersetzung‟ (S. 156) sieht. Immer wieder finden sich in der Untersuchung solche Hinweise auf die Mehrdeutigkeit der Person und des Werkes von Schwede im praktizierten und praktikablen Spagat zwischen sozialistischer Pflichterfüllung und christlich geprägter Individualität. Die Vielfalt der Befunde belegt m. E. schlüssig, dass Schwede „trotz seiner exzentrischen Position im DDR Literaturbetrieb‟ (S. 185) zu diesem gehörte und dass sich dieser Literaturbetrieb nicht (nur) vom Zentrum aus verstehen lässt.

Den Begriff der sozialistisch humanistischen Doppelcodierung nimmt Jager zum Schluss noch einmal auf, um zu verdeutlichen, dass Schwedes Arbeit „Erträge in beiden Kreisläufen‟ (S. 225) bringen konnte. Mit ihm trägt die Untersuchung zum tieferen Verständnis nicht nur Schwedes, sondern auch der Motorik des DDR-Literaturbetriebes bei. Und das gerade, weil Schwede nicht der literarische „diamond in the dust‟ gewesen ist, den es wiederzuentdecken galt, sondern bloß ein fleißiger Arbeiter im Weinberg der Literatur. Jager zeigt mit seinem Buch nachdrücklich, wie lohnend die Beschäftigung mit einem solchen Arbeiter sein kann. Lohnend für Literaturwissenschaftler, lohnend auch für Historiker, die sich für die Praxis des Kulturbetriebes in der DDR und in der Beziehung zwischen der DDR und ihrer nichtsozialistischen Umwelt interessieren.


Corresponding author: Olaf Mörke, Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel, Germany, E-mail:

Online erschienen: 2025-12-01
Erschienen im Druck: 2025-12-17

© 2025 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston

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