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Die ARTE-Mediathek – Perspektiven der Zusammenarbeit im Bereich Film

  • Nina Goslar

    ARTE-Filmredaktion im ZDF, D-55100 Mainz

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Veröffentlicht/Copyright: 8. Dezember 2020

Zusammenfassung

ARTE leistet mit seiner Mediathek, auf der allmonatlich eine Auswahl hochwertiger Filme verschiedener Dekaden angeboten wird, einen wichtigen Beitrag für die filmische Bildung. Der Artikel von Nina Goslar aus der ZDF/ARTE-Filmredaktion skizziert das Kino-Angebot der ARTE-Mediathek und stellt ein Modell der Vermittlung von Filmgeschichte vor, das in Zusammenarbeit mit europäischen Filmarchiven geplant ist – auch als Modell einer möglichen Kooperation mit Öffentlichen Bibliotheken.

Abstract

ARTE gives a substantial contribution to film education with its media library offering a monthly selection of high-quality films from various decades. The article by Nina Goslar from the ZDF/ARTE film editorial department outlines the cinema offerings of the ARTE media library and presents a model for conveying film history planned in cooperation with European film archives-also as a model for possible cooperation with public libraries.

ARTE wurde 1991 als Europäischer Kulturkanal mit Sitz in Straßburg gegründet, seitdem war der Sender immer an der Spitze in der Entwicklung neuer Fernsehformate und Verbreitungswege – elektronische Avantgarde sozusagen. Als einer der ersten Sender erkannte ARTE die Notwendigkeit, parallel zum traditionellen Fernsehprogramm ein nicht-lineares Angebot fürs Netz zu entwickeln. Da ARTE seinen Sitz in Straßburg hat und nach französischem Medienrecht funktioniert, konnte der Sender manche gesetzlich gegebene Freiheit nutzen, die den deutschen öffentlichen Sendern verwehrt ist; man erinnere sich an den Dreistufentest, der Sendern verbot, Inhalte im Netz bereitzustellen, die nicht im engeren Sinn programmbegleitend sind.[1] So ist über die Jahre eine eigene Internet-Expertise bei ARTE entstanden, die diesen Sender zu einem der europäischen ‚big player‘ für anspruchsvolles Programm macht.

Im Nachfolgenden soll der aktuelle Stand der Internet-Strategie von ARTE skizziert werden, um anhand einer konkreten Frage das Potential zu evaluieren, das für den Kontext dieser Publikation interessant ist: Könnte die ARTE-Mediathek ein Partner für Bibliotheken sein, um das dortige Angebot von Dokumentationen und Filmen zu ergänzen? Wären etwa europäisches Autorenkino und Filmgeschichte, um zwei herausragende Programmangebote von ARTE zu nennen, eine substantielle Bereicherung fürs Video-Angebot der Bibliotheken? Oder aus ARTE-Perspektive formuliert: Welche Möglichkeiten bietet die Mediathek für die Entwicklung eines Komplementär-Angebotes zum linearen Filmprogramm mit seinen ausgewiesenen Sendeplätzen für Kinoklassiker und Arthouse?

1 Cinéma in der ARTE-Mediathek – mehr als nur Spiegel des TV-Programms

Zunächst ein Blick auf den Ist-Zustand: Die reichhaltige ARTE-Mediathek ist in der breiten Bevölkerung wenig bekannt und fristet ein Nischendasein zwischen den ungleich populäreren Mediatheken von ZDF und ARD. Nur etwa 10 % der Nutzer in Deutschland kannten 2018 das ARTE-Internet-Angebot.[2] Eine größere Rolle spielen dagegen die Mediatheken von ARD und ZDF im Alltagsgebrauch der Deutschen:

„Mediatheken werden von mehr als einem Drittel mindestens einmal pro Monat genutzt. Mit Abstand am beliebtesten sind die Angebote von ARD und ZDF mit 25, bzw. 26 %, dabei weisen die 30- bis 49-Jährigen die stärkste Nutzung auf. Video-on-Demand-Angebote hingegen werden am stärksten von 14- bis 29-Jährigen genutzt. Auch bei der Audionutzung im Internet zeigt sich, dass Jüngere stärker auf Video-Streamingangebote setzen, Ältere eher auf das Livehören von Radio über das Internet. Podcasts werden konstant von jedem Fünften mindestens monatlich genutzt.“[3]

Hier ist also noch Luft nach oben für die ARTE-Angebote, die sich sowohl in qualitativer wie in praktischer Hinsicht durchaus sehen lassen können. Geht man auf die Startseite der ARTE-Mediathek, so wirkt sie aktuell (Stand: September 2020) ungleich aufgeräumter als vor ein paar Jahren, als ‚ARTE Creative‘ noch eine große Sparte im Online-Angebot des Senders war und Videokunst aus erster Hand präsentierte. Man mag in der neuen Übersichtlichkeit einen Angleichungsprozess an das grafische Erscheinungsbild von Netflix oder anderer öffentlicher Sender sehen, etwa vom ZDF, wo in horizontalen Bändern das Programm in den gängigen Programmgenres angekündigt wird. Unter der Oberfläche geht es aber dynamisch zu, denn die ARTE-Seite ändert sich täglich in ihrer grafischen Anordnung. Zweck dieser laufenden Änderung ist, im Lauf einer Sendewoche alle Programm-Sparten so zu platzieren, dass sie einmal pro Woche den ‚Spitzenplatz‘ in der Startseite erhalten.

Der Einstieg auf die Cinéma-Seite erfolgt über den Menu-Button oben links, wo alle Programmsparten untereinander gelistet sind: Aktuelles und Gesellschaft, Kino, Fernsehfilm und Serien, Kultur und Pop, ARTE Concert, Wissenschaft, Entdeckung der Welt und Geschichte. In der Spalte rechts sind summarische Cluster (Sendungen A-Z, Alle Videos, Audiodeskriptionen) und Verweise auf Unterseiten. Alle Seiten der Programmsparten sind in der ARTE-Mediathek nach dem gleichen Prinzip aufgebaut: ganz oben ein Kasten, er ist für ein aktuelles Highlight reserviert, d. h. im Bereich Kino von einem der fünf festen Sendeplätze – in der Prime-Time 20:15 Uhr am Sonntag, Montag und Mittwoch, sowie auf dem Spättermin gegen 23:00 Uhr am Montag und Mittwoch. Darunter befindet sich das Kollektionsband, das zu weiteren Videos führt, darunter die Auswahl der online-verfügbaren Filme aus der jeweiligen Monatsprogrammierung, das Online-Filmmagazin ‚Blow Up’, Kurzfilme und – als spezielles Angebot für September 2020: eine (zusätzlich erworbene) Auswahl moderner Filmklassiker von Rohmer, Resnais, Kiarostami, Moretti etc.

30 Kino-Filme werden z. B. im September 2020 frei im Internet angeboten, ungefähr die Hälfte dieser Filme ist eigens für die Mediathek (Nutzungszeitraum: 90 Tage) angekauft, die andere Hälfte steht nach erfolgter TV-Ausstrahlung im Internet 30–90 Tage zur Sichtung bereit, manche Filme schon 1 Tag vor Ausstrahlung. Da inzwischen viele US-amerikanische Studios keine Catch-up-Rechte mehr verkaufen, die es ermöglichen, nach der Ausstrahlung eine Sendung über einen gewissen Zeitraum (7–30 Tage) ins Internet zu stellen, sind diese Filme nur während der Sendung im Live-Stream übers Internet zu sehen. Auch von Seiten der großen französischen Studios werden immer weniger Catch-up-Rechte eingeräumt, da diese Rechte an andere kommerzielle Video-Streaming-Plattformen verkauft sind oder verkauft werden sollen. Ein unübersehbarer Trend, der auch für ARTE und seine Mediathek zunehmend ein Problem darstellt. Vorläufig lässt sich das Problem durch gezielte Zukäufe lösen, um dem Publikum allmonatlich einen Mindestzahl frei zugänglicher Filme anzubieten.

Zurück zur Kino-Seite der ARTE-Mediathek: Unter den Langfilmen steht das Cluster der Kurzfilme, die ARTE als einer der wenigen Sender auf einem festen Sendeplatz zeigt. Alle Kurzfilme werden mit Online-Rechten angekauft, so das z. B. im September 2020 insgesamt 60 Kurzfilme angeboten werden. Unter der Rubrik Kurzfilme folgt auf der Cinéma-Seite eine kleine Auswahl von Stummfilmen, und darunter die Rubrik ‚Filmgrößen‘: Da werden aktuell fünf Dokumentationen zu prominenten Schauspielerinnen angeboten (Ergänzung zu den TV-Ausstrahlungen von Filmen mit diesen Schauspielerinnen) und eine Reihe von Masterclass-Gesprächen mit Regisseuren; die Gespräche wurden im Lauf der letzten 18 Monate in der Cinémathèque Française und dem Deutschen Filmmuseum aufgezeichnet. In der unteren Rubrik ‚Rund um den Film‘ sammeln sich alle möglichen Clips aus der ARTE Factory: Blow-up’s der vergangenen 2 Jahre, Filmtipps, Short-cuts zu Filmen sowie Clips ‚1 Min 1 Film‘.

Mit diesem Online-Angebot im Kino-Bereich bietet ARTE eine solide Auswahl von Publikumsfilmen, die in dieser Qualität im europäischen Fernsehen selten ist. Das Besondere liegt in der freien Zugänglichkeit dfer Filme. Das Video-on-Demand-Angebot wird allerdings zunehmend schwieriger zu programmieren oder ist bald nicht mehr finanzierbar, weil überall neue SVoD-Plattformen entstehen, die um Inhalte und Nutzende konkurrieren. ARTE behauptet sich in Frankreich hinter den Major-Anbietern an vierter Stelle.[4]

Abb. 1 Rangliste der Video-on-Demand-Anbieter Juni 2020
Abb. 1

Rangliste der Video-on-Demand-Anbieter Juni 2020

Insofern ist es keine große Überraschung, dass die Cinéma-Seite die besten Abrufwerte im gesamten ARTE-Online-Angebot hat (Zahlen vom Juni 2020): Cinéma steht mit 7,0 Mio. Videoabrufen (Definition: Ein Videoabruf wird ab einer Sehdauer von 10 Sekunden gemessen) an der Spitze der Nutzung. Auf Platz zwei dann „Aktuelles und Gesellschaft“. Nacheinander folgen dann in der Reihe der Beliebtheit: „Fernsehfilme und Serien“, „Kultur und Pop“, „Geschichte“, „Entdeckung der Welt“, „Wissenschaft“ und „ARTE Concert“.

Im Großen und Ganzen funktioniert die Cinéma-Seite wie eine große Videothek, über die Einzelfilme geschaut werden können. Die Tatsache, dass es sich hier um ein redaktionell betreutes Programm handelt, wird kaum sichtbar. Zu jedem Film wird ein standardisierter Pressetext bereitgestellt, ansonsten gibt es keine vertiefenden Textinformationen, weder zu den Filmen noch zu dem Filmprogramm insgesamt oder zu der redaktionellen Arbeit, die im Hintergrund läuft. Es wird nicht deutlich kenntlich gemacht, welche dieser Filme sog. Replays aus dem TV-Programm sind und welche Angebote gezielt fürs Netz gekauft wurden. Wichtig ist dem Sender vielmehr die leichte Auffindbarkeit nach gängigen Kategorien und Genres.

2 Zwischen Datenerhebung und Qualitätsmanagement

Mit seiner Mediathek erreicht ARTE ein Publikum zwischen 45 und 52 Jahre, tendenziell spricht das Programm eher Männer (48 %) als Frauen (44 %) an, der Frauenanteil wächst aber – insbesondere in der online-Nutzung, wie die Analyse fürs zweite Halbjahrs 2019 zeigt.[5]

Weiterhin zeigt die Auswertung, dass bei der geografischen Verteilung der Videoabrufe Frankreich an der Spitze (47 %) liegt, gefolgt von Deutschland (40 %), die restlichen 12 % entfallen auf andere europäische Länder. Bei den Endgeräten ist der PC das meist genutzte Endgerät für die Online-Nutzung (46 %), das Smartphone behauptet sich auf Platz 2(21 %), der Fernseher auf Platz 3 (17 %), Tablet auf Platz 4 mit 16 %.

Wichtig ist nun festzuhalten, dass die Online-Bereitstellung von Sendungen längst nicht nur ein Service-Angebot fürs Publikum ist, sondern auch von strategischen Zielen getragen wird – etwa die Verjüngung des Publikums, das andere Medien nutzt als den klassischen Fernseher. Manche Programme, die auf dem Bildschirm ‚funktionieren‘, fallen in der Online-Auswertung durch, andere Programme wiederum laufen eher im Netz gut. Insofern sind bei einer Darstellung der ARTE-Mediathek auch die anderen Ausspielwege zu berücksichtigen, mit denen sich ARTE nach außen präsentiert. Interessant ist nun, dass sich ein Zusammenhang zwischen Programmpräferenzen und Nutzungsgewohnheiten des Endgeräts erkennen: Je größer das Gerät, desto länger die Verweildauer, desto stärker das Interesse an fiktionalen Inhalten.[6]

Das online-Angebot von ARTE, wie der Fernsehsender überhaupt, beschränkt sich seit mehreren Jahren nicht mehr auf www.arte.tv als der Hauptseite, die vor allem von denen genutzt wird, die von sich aus ein Programm suchen. Mehr und mehr erweist sich die gegenläufige Richtung als Gebot der Stunde: Die User da abholen, wo sie sich ohnehin bewegen. Deshalb hat ARTE verstärkt auf Facebook-live und YouTube-Präsenz gesetzt und kann gerade auf YouTube einen erfreulichen Erfolg verbuchen. Dort erreicht der Sender gerade mit dokumentarischen Formaten ein jüngeres Publikum. Das tägliche Magazin RE: z. B. hat dort eine veritable Fangemeinde, die durchschnittliche Verweildauer bei RE: beträgt 20’, eine erstaunliche Resonanz im Vergleich mit der sonst üblichen Sehdauer von ca. 12 Minuten.[7]

Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, erfüllt das Online-Angebot im Wesentlichen drei Grundfunktionen:

  1. Serviceleistung durch Verlängerung des TV-Angebots (30–90 Tage)

  2. Komplementärangebote zu den TV-Sendungen durch zusätzlich angekauften oder produzierten Content

  3. genuine Web-Formate ohne TV-Anbindung, wie Web-Dokus oder Web-Serien, mit denen sozusagen das Fernsehen von morgen erprobt wird.

Bei ARTE, wie überhaupt in den deutschen Rundfunkanstalten, ist der Online-Bereich integrierter Teil der regulären Redaktionsarbeit und unterliegt einer ständigen quantitativen und qualitativen Auswertung. Online ist sozusagen der Seismograph der Zukunft. Es herrscht ein starker Druck, über eine optimale Nutzung der verschiedenen Ausspielwege mehr Publikum zu erreichen und Aufschluss für strategische Entscheidungen zu bekommen.

Die Darstellung des früheren Planungschefs im ZDF, Martin Berthoud, bringt diesen Effekt für seinen Sender auf den Punkt, übertragbar für alle anderen Sender:

„Die weiter zunehmende Bedeutung non-linearer Videonutzung erfordert, die ZDFmediathek noch stärker als bislang als eigenständigen Ausspielkanal in die Planungsstrategie der ZDF-Senderfamilie einzubauen. Nachrichten, Dokumentationen, Comedys, Serien, Filme, Kinder- und Kulturprogramme umfangreich, schnell und in eigenen Publikationsrhythmen zu präsentieren, non-lineare mit linearer Planung zu verzahnen und dadurch die Zugänglichkeit der ZDF-Programm-Marken für die Zuschauer zu erhöhen, steht im Mittelpunkt integrierter linearer/non-linearer Planung.“[8]

3 Kulturauftrag Akzeptanz – Testfall Filmgeschichte

Während noch vor 10 Jahren das Internet bei ARTE ein Raum für Experimente war, herrscht heutzutage eine andere Strenge, wohl auch, weil der Druck der Politik zugenommen hat, zielgruppenorientierte Angebote zu machen und aktive Zuschauerbindung zu praktizieren, die auf allen Ausspielwegen funktioniert. Zugleich hat ein gebührenfinanzierter Sender wie ARTE einen Kulturauftrag, nämlich ein umfassendes Programmangebot jenseits des Mainstreams anzubieten und das frei zugänglich zu machen, was im Filmbereich mehr und mehr in Streaming-Portale abwandert.

Diesen Auftrag erfüllt ARTE im Kino-Bereich auf mehreren Sendeplätzen; ARTE ist der letzte Sender, der noch Stummfilme im Programm hat und der auf seinem Prime-Time Platz ‚Cinéma classique‘ (Montagabend) Klassiker in hochwertigen Restaurierungen zeigt. Wie könnte gerade für diese beiden Programmplätze eine bimediale Nutzung aussehen?

Blicken wir zurück: Das, was vor 25 Jahren noch selbstverständlich war, nämlich dass Filmgeschichte im öffentlichen Fernsehen präsent ist, hat sich völlig verändert. Das Fernsehen will mit allen Mitteln am Puls der Zeit sein – und da wirkt der langsamere Erzählrhythmus historischer Filme wie ein retardierendes Moment im Programmablauf der öffentlichen Sender, die um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren. Noch mehr tendieren im Internet die Nutzungsgewohnheiten, abhängig von den Endgeräten, zur kurzzeitigen Aufmerksamkeitsspanne. Es mag Ausnahmen geben (wie den verblüffenden ARTE-Mediathekserfolg des Rivette-Films „Die schöne Querulantin“ mit 2 Mio. Views und einer durchschnittlichen Verweildauer von 2 Stunden), unübersehbar ist, dass es heutzutage mehr Anstrengungen bedarf, Arthouse-Filme und Filmgeschichte ans Publikum zu bringen als noch vor 10 oder 15 Jahren.

Zudem ist der Begriff des Klassikers weitgehend entwertet, von einem Kanon der Filmgeschichte, den es in den öffentlichen Medien zu vermitteln gibt, ist schon lange nicht mehr die Rede. Das Fatale daran: Das Publikum wird systematisch von Filmkunst und Filmgeschichte entwöhnt und vorwiegend auf die Filmsprache des Fernsehfilms und eines amerikanisch dominierten Unterhaltungs-Kinos eingeübt, da auch immer weniger Filme aus Osteuropa, Südamerika, Japan, Skandinavien zu sehen sind, wenn es sich nicht gerade um Krimiserien handelt.

Diese Veränderung ist ein Symptom der Krise, in der sich das Kino, die Filmwirtschaft und viele Institutionen, die sich mit Film beschäftigen, insgesamt befinden. Auch die mit öffentlichen Geldern finanzierten Archive geraten zunehmend unter Druck, ihre Arbeit gegenüber der Politik mit Zuwachsraten des Publikums legitimieren zu müssen. Einerseits werden große Förderpakete für Digitalisierungen aufgelegt, entsprechend hoch sind aber auch die Erwartungen, dass diese restaurierten Filme nicht nur in Archiv-Kinos zu sehen sind, sondern einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.

Und da kommt mit den Filmrechten ein weiterer Aspekt ins Spiel: die kommerzielle Auswertung. Was profitabel ist, wird publiziert und von großen Labels übernommen, was kein Geld bringt, bleibt liegen und ist damit auch entwertet: Kulturmüll. Das Unbekannte wird noch unbekannter, Perlen der Filmgeschichte bleiben verborgen oder fristen ein Rand-Dasein im Angebot der Streaming-Plattformen. Mit Filmgeschichte ist, von Evergreens des großen Erzählkinos abgesehen, nicht viel Geld zu verdienen, sie ist ein Nischenprodukt, das verstärkte Anstrengungen braucht, um ans Publikum zu kommen.

4 Institutionelle Kooperationen für ein bimediales Programm

Der Film- und Medienmarkt ist mit den neu entstehenden Streaming-Plattformen in extremer Bewegung, extrem ist auch der Verdrängungswettbewerb, im modernen Kino ebenso wie auch im Bereich der historischen Filmarbeit. Da Video-Streaming-Angebote bei der Filmvermittlung eine wachsende Rolle spielen, sind Kooperationen zwischen Filmarchiven, öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern und Institutionen wie Bibliotheken wohl ein Gebot der Stunde, um an ein kulturinteressiertes Publikum zu kommen.

Vor diesem Hintergrund entstand in der Filmredaktion von ZDF/ARTE das Konzept für eine kombinierte Präsenz historischer Filme im TV-Programm und in der Mediathek: CINEMA EUROPA. Es möchte den Filmländern wieder mehr Sichtbarkeit auf ARTE geben, die in den letzten Jahren etwas zu kurz gekommen sind und die über ein reiches Filmerbe verfügen, wie etwa die Länder Osteuropas, Skandinaviens oder die Benelux-Staaten. Für diese ausgewählten Filmländer sucht ARTE die Zusammenarbeit mit den Filmarchiven, jedes Jahr wäre es nach dem neuen Konzept eine andere Gruppe von Archiven, die aktiv am Programm mitarbeiten. Zusätzlich zu den TV Highlights sieht das Konzept ein Netzangebot von Filmen aus den jeweiligen Archivländern vor. Dafür sollen die Archive restaurierte Filme vorschlagen, die in ihrer nationalen Filmgeschichte eine Rolle spielen und die eine besondere ‚europäische Dimension‘ haben. Nach den bislang eingegangenen Archivvorschlägen sind dies z. B. die Themen Migration/Arbeit, Frauen im Aufbruch, Nouvelle Vague.

CINEMA EUROPA fokussiert sich aufs moderne Filmerbe der Jahre zwischen 1945 und 1990. Die Auswahl der Filme findet nach Themen statt, und zwar nach Themen, die die verschiedenen Länder gleichzeitig betreffen und quasi transnationale Phänomene zeigen. So ließen sich in der Zusammenschau spannende Beziehungen und Parallelentwicklungen zwischen Ost- und Westeuropa, Nord und Süd darstellen.

In der Kombination von großen Filmklassikern im TV-Programm und Entdeckungen im Netz zeigen sich viele Wahlverwandtschaften. Zu jedem der ausgewählten TV-Highlights ergäbe sich eine immer wieder neue Kollektion von Web-only-Filmen im Netz, d. h. von Filmen, die ausschließlich für den Abruf im Internet programmiert werden.

5 Ausblick

Um die Thematik vom Anfang aufzugreifen: Mit der rasanten Expansion des Medienmarkts sind die Anforderungen an alle gewachsen, die sich mit der Vermittlung von Filmgeschichte befassen. Für Forschungszwecke bieten viele Filmarchive und natürlich auch das Portal ‚European Film Gateway‘ exzellente Angebote; aber damit erreicht man noch nicht ein größeres Publikum. Und es ist doch wichtig, an dieses Publikum außerhalb der Metropolen oder der Festivals zu denken, wo man Filmgeschichte – wie etwa beim Festival ‚Il Cinema Ritrovato‘ in Bologna – in ihrer schönsten Form erleben kann. Öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken könnten mit ihrer vielfältigen filminteressierten Nutzerschaft Kooperationspartner für Portale wie die ARTE-Mediathek sein.

Wir haben eine Mission: Das audiovisuelle Erbe am Leben zu halten. Die hervorragenden Filmarchive und Filmmuseen waren immer schon einem cineastischen Geist verpflichtet. Sie betreiben keine Musealisierung ihres Filmbestands, sondern haben es stets geschafft, die Gegenwärtigkeit des Filmerbes zu vermitteln. Oder um mit Walter Benjamin zu schließen: Die Aktualität des Gegenwärtigen im Vergangenen suchen.

Über den Autor / die Autorin

Nina Goslar

ARTE-Filmredaktion im ZDF, D-55100 Mainz

Quellen

ARD/ZDF_Online-Studie (2019): ARD/ZDF_Online-Studie. Verfügbar unter https://www.ard.de/home/die-ard/presse/pressearchiv/ARD_ZDF_Onlinestudie__Zunehmende_Mediennutzung_im_Netz/5731040/index.Suche in Google Scholar

ARTE digital (2018): ARTE digital Bekanntheitsstudie in Deutschland und Frankreich. Welle1 – Oktober 2018. IFOP Média & Digital (Medien & Online).Suche in Google Scholar

Bilanz ARTE DIGITAL (2020): Bilanz ARTE DIGITAL. Juni 2020. Auswertungszeitraum: 1.6.2020–30.6.2020. Hauptabteilung Pro-grammplanung lineare und nichtlineare Angebote.Suche in Google Scholar

Telefoninterview mit dem Leiter der strategischen Digitalplanung Alexander Knetig am 22.09.20.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2020-12-08
Erschienen im Druck: 2020-11-30

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Inhaltsfahne
  4. Schwerpunkt Videostreaming
  5. Themenschwerpunkt Video-Streaming – Editorial
  6. I. Video-Streaming in Bibliotheken und Zugang zum audiovisuellen Erbe
  7. Herausforderung Video-Streaming: Trends und Perspektiven für Öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken
  8. Checkliste für die Evaluierung von Video-Streaming-Angeboten in Bibliotheken
  9. Die Stadtbibliothek als Filmparadies
  10. Sicherung des audiovisuellen Erbes in Sachsen
  11. Memobase – Das Portal zum audiovisuellen Erbe der Schweiz
  12. II. Kooperation mit externen Anbietern von Video-Streaming-Dienstleistungen für Bibliotheken
  13. Video-Streaming in Bibliotheken: Herausforderungen und Chancen aus Anbietersicht
  14. AVA – europäische und internationale Arthouse- und Festivalfilme
  15. Perspektiven einer innovativen, kulturellen Filmarbeit
  16. nanoo.tv – Die Schweizer Filmplattform und Online-Mediathek für Bildung
  17. III. Filmarchive und Zugang zum Filmerbe
  18. Ein Filmarchiv im digitalen Wandel – Die Cinémathèque suisse
  19. Bilder neu bewegen – Streaming als Baustein einer ganzheitlichen Strategie zur Zugänglichmachung des filmischen Erbes im DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum
  20. Eine lohnende Mammutaufgabe – Rahmenbedingungen der digitalen Filmbenutzung im Bundesarchiv
  21. IV. Mediatheken öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten und Archivöffnung
  22. Die ARTE-Mediathek – Perspektiven der Zusammenarbeit im Bereich Film
  23. Ost- und West-Fernsehen der 1950er- und 1960er-Jahre in der ARD Mediathek
  24. Die zeit- und kulturhistorischen Videoarchive der ORF-TVthek
  25. Die Archivöffnung beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF – Hintergründe, Metadaten, Strategie
  26. V. Video-Streaming in Lehre, Forschung und Entwicklung
  27. Videomining in historischem Material – ein Praxisbericht
  28. Improving the User Experience with Audiovisual Content: The Project “Europeana Media”
  29. Digitalisierung und filmwissenschaftliche Forschung
  30. Streaming für Forschende
  31. Streams are my reality. Der Online-Zugang zu Filmen aus Sicht der Filmwissenschaft
  32. Bibliothek des Jahres
  33. Die TIB: Mehr als eine Bibliothek
  34. Zukunftsgestalter 2020 (2)
  35. Data Literacy for Libraries – A Local Perspective on Library Carpentry
  36. Strategien
  37. Fixstern – Fokus – Vorsorge: Zielsetzungen und Grundelemente von Strategieprozessen in Bibliotheken
  38. Repositorien als Tools für ein umfassendes Forschungsdatenmanagement
  39. BOOKS FOR FUTURE: Die Zukunft gestalten – nachhaltig!
  40. Textmining
  41. Improving Access to Scientific Literature with Knowledge Graphs
  42. Bibliotheksbau
  43. Die Sanierung des Südflügels der Universitätsbibliothek Heidelberg (2016–2019)
  44. Weitere Beiträge
  45. Imperiales Erbe und Nationale Identität. Das Werden der Nationalbibliothek der Republik Österreich
  46. Digitalisierungsprojekt Bibliografie der Wiedergeburt Bulgariens in Sofia
  47. Meinung
  48. Öffentliche Bibliotheken als dritte Orte und Bildungsgerechtigkeit in Zeiten von Covid-19
  49. Jahresinhaltsverzeichnis 2020
Heruntergeladen am 1.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2020-2043/html
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