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Biographien des Buches

Erträge einer Tagung des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel
  • Sarah Ruppe

    Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar – Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, D-79085 Freiburg

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Veröffentlicht/Copyright: 5. April 2019

Reviewed Publication:

Gleixner, Ulrike; Baum, Constanze; Münkner, Jörn; Rößler, Hole (Hrsg.): Biographien des Buches (Kulturen des Sammelns. Akteure, Objekte, Medien. Bd. 1). Göttingen: Wallstein Verlag, 2017. 475 S. ISBN: 978-3-8353-3145-7, € 49,-


Ulrike Gleixner, Constanze Baum, Jörn Münkner und Hole Rößler (Hrsg.): Biographien des Buches (Kulturen des Sammelns. Akteure, Objekte, Medien. Bd. 1). Göttingen: Wallstein Verlag, 2017. 475 S. ISBN: 978-3-8353-3145-7, € 49,-

Mit dem Sammelband Biographien des Buches begründen die Herausgeber die Reihe Kulturen des Sammelns. Akteure, Objekte, Medien, die unterschiedlichen Konzepten des Sammelns in der Kulturgeschichte nachgeht und Gegenstände und Methodiken einer „kulturellen Komparatistik“ auslotet. Diese widmet sich der Sammlungsforschung aus der Praxis der Forschungsbibliotheken Marbach, Weimar und Wolfenbüttel heraus und fokussiert damit Manuskripte, Drucke und Digitalisate. Diese „Schriftmedien lassen sich nicht auf Primärfunktionen der Schriftkommunikation wie Informationsübermittlung reduzieren, sondern bieten Konstruktionsmaterial für vielfältige soziale Praktiken, symbolisch-kommunikative Handlungen und kollektive oder individuelle Zuschreibungen“ (47). Sammlungen seien „Orte, an denen Objekte akkumuliert, angeordnet und der Interpretation wie der ästhetischen Rezeption zugänglich gemacht werden“ (9). Der vorliegende Band widmet sich nun Fragen der veränderlichen Materialität des Buches und seiner historischen und sammlungsbezogenen Kontexte.

Der Sammelband umfasst 18 Aufsätze internationaler Forscher verschiedener kulturwissenschaftlicher Disziplinen in deutscher und englischer Sprache. Er ist mit einem umfangreichen Anhang von Farbtafeln ausgestattet. Die Gliederung erfolgt in erstens „Perspektiven“, die theoretisch-methodische Grundfragen besprechen, und im Weiteren in vier Rubriken, die die biografische Stationen von Büchern nachzeichnen.

Die Einleitung eröffnet die Zielsetzung der dem Band vorangegangenen Tagung, die vom 5. bis 8. April 2016 in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen der wissenschaftlichen Kooperation der drei historischen Forschungsbibliotheken Marbach Weimar Wolfenbüttel (Forschungsverbundes MWW) stattfand. Sammlungen werden von der Objektebene und auf der Grundlage materialer Exemplarspezifik heraus angegangen. Das Buch als Item bibliothekarischer (und archivalischer) Sammlungen, Historizität, Medialität und Materialität des Buch-Objekts stehen im Fokus. Damit ist die zentrale Frage nach der Geschichte einzelner Bücher im Interaktionsfeld mit ihren Nutzern im Rahmen der Provenienzforschung zu verorten, die nach (Vor-)Besitz, Praktiken und Spuren der Benutzung fragt, welche Hinweise auf den Stellenwert des Buches geben. „Die materielle Beschaffenheit des Buches und die ihm zugemessene symbolische Bedeutung konstituieren einen Raum möglicher Handlungen und mithin die Beziehungen zwischen Buch und Mensch“ (12).

Das Konzept der Biographie des Buches wird in Auseinandersetzung mit u. a. Sergej Michailowitch Tretjakows Die Biographie der Dinge[1] (1929), Igor Kopytoffs The cultural biography of things[2] (1986), Judy Joys Reinvigorating object biography[3] (2009) und Hans Peter Hahns formulierten Konzept des „Itinerars“[4] diskutiert. „Transformationen, Bedeutungsveränderungen, Umwidmungen, Umarbeitungen und Vernutzungen“ (12) von Buch-Objekten sollen interdisziplinär ausgelotet werden. Schon das Einzelobjekt bietet das Potential und den Raum, exemplarisch Bedeutung und Funktion konstituierende und verändernde Prozesse in Gang zu setzen, die sich auch auf Sammlungen und Sammelinstitutionen erstrecken.

Der kulturhistorische Zugang über die Biographie des Buches beruht auf einer Metapher, die das Buch zu einem Gegenstand stilisiert, der dem Menschen in gewisser Weise gleicht. Alfred Messerli fächert in seinem Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen auf, dem Buch auf der Basis von traditionellen Vorstellungen und wissenschaftlichen Strategien (Anthropomorphisierung, Animierung, Ding-Beseelung) ein Leben und Merkmale des Lebens (bios) unterstellen: „Die Lebendigkeit des Buches erweist sich als magischer, rhetorischer (Metapher, Vergleich, Analogie), ästhetischer (das Als-ob), psychologischer (Wahrnehmungsweise) und wissenschaftlicher (Rezeptionstheorie) Effekt“ (205 f.).

Die Schwierigkeit der „Biographien des Buches“, welche in den verschiedenen Beiträgen immer wieder deutlich wird, besteht im Oszillieren zwischen der biografistischen Singularisierung einzelner herausragender Buchobjekte (bedeutende Provenienzen, Auratisierung) und der neu zu bestimmenden „kulturellen Komparatistik“ oder Sammlungsforschung, die über bisherige philologische und historische Interessen und Wege hinaus die Potentiale von material culture und Objekten in Bibliotheken und Archiven neu zu erschließen, zu nutzen und zu gestalten sucht.

Anhand des Buches der Renaissance eröffnet William H. Sherman die theoretisch-methodischen „Perspektiven“. Er führt vor, dass Provenienzmarken und Lesespuren spezifische historische Ausprägungen haben: Sie verweisen zum einen auf Etappen der Biographie eines individuellen Buches. Zum anderen sind sie Zeugnisse kulturgeschichtlicher Etappen der Buchgeschichte. Sherman ergänzt seine Forschungen über schriftliche Lesespuren (Used Books[5], 2007) nun um detaillierte kulturhistorische Untersuchungen von bildhaften Marginalien. Typisch für Bücher aus der Umbruchepoche Renaissance sei die Beibehaltung bildhafter Lesemodi, die sich in „opticules“ (26), „manicules“ (die berühmte Hand mit Zeigefinger) und anderen „drawings in the margins“ (33) äußerte. Die Zuwendung zu intermedialen Lesespuren erweitert die literaturwissenschaftliche und ideengeschichtliche Untersuchung von Büchern um visuelle und materiale Eigenschaften des Buches und erhebt die Provenienzforschung aus einer auf das Exemplar begrenzten und damit individuellen Buchgeschichte heraus auf eine verallgemeinerbare kulturhistorische Ebene.

Ursula Rautenberg bestimmt Aufgabe und Felder von Biographien des Buches neutraler und weniger metaphorischer als Buchgeschichte: eine Geschichtsschreibung des Mediums Buch oder Exemplargeschichte. Die Buchgeschichte erschließt konkrete Handlungskontexte und Kommunikationsräume von Büchern. Rautenberg versteht diese raumsoziologisch als Stationen, auf denen sie auf ihrem Weg durch Raum und Zeit ziehen. „Kommunikationsräume werden an diesen Haltepunkten sichtbar: in repetitiven, historisch wechselnden Praktiken, symbolischen Handlungen auf der Grundlage von jeweils gesellschaftlich akzeptierten Zuschreibungen an das Medium Buch oder im Geflecht komplexer Beziehungen zwischen Bedeutung, immateriellem und ökonomischen Wert und Umwertung“ (45). Das Buch hat zwei Ebenen: die materielle Ebene des Artefakts und die immaterielle Ebene symbolisch-kommunikativer Handlungen. Der material turn habe dazu beigetragen, die Bedeutung von Büchern für menschliches Handeln und gesellschaftliche Kommunikation zu thematisieren. Kritisiert werde aber z. B. von Matthias Jung (2015),[6] Janet Hoskins (1996)[7] und Hans Peter Hahn die Vorstellung der Handlungsfähigkeit (agency vgl. Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours) von Büchern. Diese fokussiere ein von Menschen gesponnenes Gewebe aus Bedeutungen des Buches. Rautenbergs raumsoziologischer Ansatz der Buchgeschichte wendet sich gegen semiotische Ansätze. Alternativ könne man eine Chronologie verschiedener Nutzungen und Bedeutungszuschreibungen rekonstruieren und müsse grundsätzlich von Handlungsoptionen (affordance) des Mediums Buch ausgehen, welche historisch unterschiedlich ausgefüllt würden. „Das Angebot des Exemplars [...] besteht im Wesentlichen aus seiner im Artefakt verwirklichten inhaltlichen Botschaft und aus den Einschreibungen, die die Nutzungsakte hinterlassen haben“ (85). Auch Carsten Rhode widerspricht einer Biographie des Buches und verweist auf das Paradox von realem historisch-materiellem Wert und sekundären Bedeutungszuschreibungen in virtuellen Realitäten zu: Gerade die Übergänge von Büchern in Sammlungen haben eine Minimalisierung des tatsächlichen Gebrauchs bei einer Maximalisierung der Konservierung aufgrund der Zuschreibung eines auratisch-symbolischen Werts zur Folge, der den Büchern ein zweites Leben in einer virtuellen Realität zu geben versucht.

Claudine Moulin bestimmt das Buch, analog zu Kultur und Sprache, als soziokulturelles Gebilde und „System von Systemen“ (103), welches mehrere Ebenen und Arten der Interaktion von Objekten und Akteuren im historischen Verlauf zeigt (diachronisch, diatopisch, diamedial, diastratisch und diaphasisch). Diese Schichten zu erschließen sei alternativ mit einer „Archäologie des Buches“ möglich, die mit einem Blick zurück die Entstehung des Artefakts Stück für Stück freilegt, ohne unbedingt lineare Entwicklungen zu zeichnen. Ziel einer solchen Forschung sei zu erfahren, was ein Buch zu verschiedenen historischen Zeitpunkten bedeutete. Roland Barthes Konzept des ‚Biographems‘ oder biographischen Einzelsplitters[8] folgend werden einzelne Details in den Mittelpunkt einer biographischen Studie gestellt und dadurch die Person oder das Objekt singularisiert. Objektbiographie ist demnach eine Geschichte des Details, wobei Detailhaftigkeit, Fragmenthaftigkeit und Zufälligkeit zu problematisieren bleiben, um nicht „Singularisierung, gar ‚Fetischisierung‘ im Spannungsfeld von Einzelstück und anonymer Massenware“ (104) zu befördern. Anhand von vernakularen Benutzungsspuren in mittelalterlichen Handschriften zeigt Moulin, wie zugesetzte sprachliche und materielle Schichten dem Buch neue Funktionen eröffnen. Dadurch wird die Fluidität mittelalterlicher Handschriften deutlich, deren Produktionsprozess im Vergleich zum gedruckten Buch kaum zu einem bestimmten Zeitpunkt als abgeschlossen gelten kann.

Constanze Baum nimmt in ihrem Beitrag diesen Gedanken auf, verortet digitale „Bücher“ in der Buchgeschichte und entdeckt damit eine vergleichbare Liquidität. Alte Formen von Büchern werden in neue migriert, neue Formen kommen hinzu. Es entstehen digitale Faksimiles bereits vorhandener Bücher, Hybrideditionen sowie auch originär digitale Bücher. Die digitale Form erweist sich in ihrer Materialität anschlussfähig an das gedruckte Buch: Versteht man Digitalisierungsprozesse als (materiale und mediale) Interpretationsstrategien, so lässt sich eine Anreicherung des Objekts Buch um Metadaten, Rezeptions- und Gestaltungsformen feststellen. Digital Artefacts erfordern und erlauben es, Kulturgüter als flexibel und liquide zu denken: Es ergeben sich Möglichkeiten der kontinuierlichen individuellen und kollektiven Annotation, der Medienkombination (geschriebener Text, Audio, Video), der virtuellen Ensemblebildung und der in Zeit und Umfang offenen Form von „Büchern“.

Petra Feuerstein-Herz eröffnet die Rubrik „Dutzendware – Einzelstück“, erörtert systematisch, wie ein Buch zu einem besonderen Einzelstück wird und beschreibt diesen Vorgang als Zusammenspiel von Werkintention, physischer Verfasstheit und biographischen Kontexten der Benutzer und Sammler. Besonders die Sammlung als Kontext, die z. B. Provenienzen oder Textgattungen zusammenfasst, erlaubt auf der virtuellen Ebene neue und multiple Zuordnungen: Ein Buchobjekt besitzt das Potential zu mehreren Zugehörigkeiten und Bedeutungszuschreibungen. Armin Schlechter zeigt mittels quantifizierender Methoden auf, wie die Bedeutung von einzelnen Büchern durch die Menge an Annotationen, Provenienzen und Gebrauch gemessen werden kann. Carsten Rohde fragt nach der Popularität von Faust-Volksbüchern und findet in den Publikationen eine Vielfalt von Gattungen, Formaten und Reihen, die die Faktizität und Materialität der populären Rezeption spiegeln. Außerdem weisen die materiell einfachen und nicht auf dauernde Nutzung ausgelegten Drucke Spuren nachträglicher Veränderungen auf, die den populären Charakter (z. B. durch feste) eindämmen.

In der Rubrik „Medium – Akteur“ weist zunächst Patrizia Carmassi der biographischen Metaphorik das Potential zu, die Prozesshaftigkeit und geschichtliche Wandelbarkeit von Büchern aufzuzeigen. Außerdem sei die Sammlung zentral für die Abgrenzung verschiedener Lebensphasen des Buchs: Der Sammler erschafft aus einzelnen Büchern eine neue Einheit. Dadurch wird dem Buch eine neue qualifizierende Konnotation als Teil der Sammlung zugeschrieben (197). Alfred Messerli zeigt anhand von Beispielen aus der Literaturgeschichte und Theoriegeschichte bis zur Gegenwart, auf wie vielfältige Art und Weise dem Buch vitale Merkmale zugeschrieben wurden: seine Leiblichkeit, das Buch als Ansprechpartner, als Sprecher, als Sprachrohr des Autors und als magisches Ding. Dies führt zu dem Gedanken, dass ein Buch mit Provenienzspuren überhaupt die Wahrnehmung als materiales Objekt fordert, während Bücher, die keine Benutzungsspuren aufweisen, eher als medialisierte Texte wahrgenommen werden. Cornelia Ortlieb verdeutlicht jedoch, dass Text und Biographie als Geschichte des Gebrauchs zusammengehören, Texte also nicht als abstrakte Gebilde, sondern als mediale und materiale Ensembles verstanden werden müssen, die implizite Lese- und Rezeptionsanweisungen geben und damit unterschiedliche Formen des produktiven Umgangs in Gang setzen. Am Beispiel von Goethes Schreib-Calender 1822 zeigt sie, wie die „Urschrift“ der Marienbader Elegie als ein Ensemble von Verspaaren, die auf jeweils jeder zweiten, im Kalender leeren, Seite notiert und damit mit der Materialität und Medialität der Kalendergattung sowie mit weiteren Einträgen und ihren Formen in Beziehung steht.

Anhand von Wurmlochmustern, die zu einer Provenienzgeschichte als Überlieferungsgeschichte einzelner Schriften wertvolle Erkenntnisse liefern können, erläutert Ulrich Johannes Schneider im Eröffnungsbeitrag der Rubrik „Transfer – Transformation“ den Umstand qualitativer Transformation von Büchern durch materielle „Schäden“, wobei die Bewertung dieser Spuren von normativen Voraussetzungen abhängen: Annotationen berühmter Persönlichkeiten stellen wünschenswerte, Wurmlöcher, Schimmel sowie Brand- und Kriegsspuren beklagenswerte Provenienzspuren dar. Dieser Kontrast habe zu gravierenden und zerstörerischen Eingriffen in der Buch- und Bibliotheksgeschichte geführt, wie er am Beispiel der „Mischbandzerlegung“ (287) veranschaulicht, die der „Verherrlichung individueller Autorschaft“ (290) im 18. und 19. Jahrhundert zum Opfer fielen. Schneider schlägt vor, Provenienzspuren als „materiale Paratexte“ zu verstehen, um einer Bewertung aufgrund zeitgebundener normativer Wertungen über kulturgeschichtlich relevante Spuren zu entgehen. Er zeigt, dass sich die „materiale Identität des Buches [...] in der Identität seiner Verortung innerhalb der Bibliothek“ (282) fortsetzt. Ein Buch besitzt eine primäre Materialität, die „seine erste Natur als Artefakt, also seine Kultur“ (282) ausmacht. Dies gilt auch für Sammlungen und Bibliotheken: „Diese sekundäre Materialität des Buches innerhalb der Bibliothek, sein Ort und seine Verortung, ist im höchsten Maße ein kulturelles Produkt, nicht anders als der Herstellungsakt des individuellen Buches selbst“ (282). Die Fluidität, die für Bedeutung, Materialität und Benutzung von Buch-Objekten angenommen wurde, muss somit auch auf Sammlungskontexte angewendet werden. Eine Provenienzgeschichte des Buches endet somit nicht am Buchdeckel und nicht an der Hochschätzung personengebundener, intendierter und kulturwissenschaftlich als wegweisend gedeuteter Erweiterungen des Buches, sondern ist in hohem Maße auch Kontext- und Sammlungsgeschichte, die sich an materialen Spuren auf Buch- und Sammlungsebene studieren lässt. Susanna Brogis Beitrag widmet sich der Biographie nicht eines Einzelbuchs sondern der Büchersammlung Kurt Pinthus’, die durch das amerikanische Exil neu ausgerichtet und bewertet wurde. Verknüpft mit den verschiedenen Lebensstationen Pinthus’ verlagert sich die Funktion der Sammlung von einer privaten Arbeits- und bibliophilen Sammlerbibliothek hin zu einer öffentlichen Ausstellung der Literatur und Zeitgeschichte der Jahre zwischen den Weltkriegen zunächst in den USA, schließlich im DLA in Marbach. Auf die Doppelnatur des Buches als Textbehälter und auratisch-ästhetischer Körper, welche vom Text unterschieden ist, weist Achatz von Müller hin. Er verfolgt die Buchgeschichte entlang von ökonomischen Konjunkturen und dem Wandel der symbolischen Bedeutung von Büchern. Ihre symbolische Materialität bestehe in ihrer auratischen Binde- und Lösegewalt. Dadurch seien Bücher Metaphern des Symbolischen selbst. Von Müller stützt sich dabei auf die Thesen vom Buch als Symbol bei Curtius[9] und Blumenberg.[10]

Die Auseinandersetzung mit zerstörten Büchern und Buchteilen ist Thema in der Rubrik „Makulierung – Wiederentdeckung“. Einen wesentlichen Unterschied der jüdischen Buchkultur präsentiert Andreas Lehnhardt. Zwar sei das Judentum eine Buchreligion, kenne aber keine Formen der Fetischisierung und Auratisierung von Büchern. Diese gelten als vergängliche Objekte und können das Zeitliche segnen. Objekt und Biographie des Buches werden nicht wertgeschätzt im Gegensatz zu der z. B. religiösen Schriften verliehenen Heiligkeit, z. B. wenn sie den Gottesnamen enthalten. Sind solche Bücher durch Verschleiß oder Zerstörung unbrauchbar geworden, werden sie in dafür vorgesehenen Stauräumen, den Genisot, gelagert. Sie schützen vor Profanisierung, dienen jedoch nicht der Archivierung und Bewahrung. Das gilt auch für hebräische Fragmente, die in Phasen von Pogromen (v. a. während des Dreißigjährigen Kriegs), vielfach für Einbände verwendet wurden. Christian Heitzmann fragt in seinem Beitrag nach dem Ort von Fragmenten in der Buchgeschichte und in Kulturerbeeinrichtungen und zeigt, dass durch sie die Biographien mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bücher miteinander verwoben sind, wenn ältere Kodizes zu Einbänden umfunktioniert wurden. Buchfragmente liegen in Bibliotheken entweder in situ, also im Einband eines anderen Werkes, oder in eigenen Sondersammlungen von Fragmenten vor. Wünschenswert wäre eine digitale Plattform zur Rekonstruktion fragmentierter Werke und zur Kollaboration von Sammelinstitutionen, da Fragmentierung häufig mit räumlicher Zerstreuung einherging. Nicholas Pickwoad widmet sich ebenfalls dem Recycling von Handschriften und Drucken, die in fragmentarischer Form für Einbände wiederverwendet wurden. Diese „remarkable assemblage of material“ (393) enthält viele Informationen über Praktiken und Bedingungen des Buchhandels und zeigt Überschneidungen in Buchbiographien. Buchfragmente finden sich in Vor- und Nachsatz, bei marmoriertem Vorsatzpapier, sowie bei hölzernen und papiernen Buchdeckeln. Der Kontext von Bilddrucken und Kupferstichen bildet eine eigene Spielart in Bezug auf die Auflösung und Zusammenstellung von ursprünglich gebundenen Büchern. Almuth Corbach zeigt dies am historischen Einschnitt bei der Einrichtung des herzöglichen Kupferstichkabinetts in Braunschweig Mitte des 18. Jahrhunderts. Bei marmoriertem Vorsatzpapier, Serien, Alben und Grafiken wurden in Texten aus gebundenen Sammlungen aus der Kunstabteilung der Wolfenbüttler Bibliothek herausgelöst, vereinzelt und im Kupferstichkabinett als grafische Sammlungen neu geordnet. Dabei zeigen sich verschiedenen Praktiken der Aneignung, Umnutzung und Musealisierung der Bücher und Einzelblätter im Sammlungskontext. Eine virtuelle Rekonstruktion ursprünglicher Bücher kann diese Transformation anschaulich machen.

Insgesamt wird deutlich, dass Buch- und andere Sammelobjekte in Bibliotheken und Archiven in ihrem kulturgeschichtlichen Bedeutungsreichtum längst nicht vollständig erschlossen sind: Ihre Liquidität, semantische und material-mediale Unabgeschlossenheit und Offenheit für verschiedenartige Gebrauchsformen und Bedeutungszuschreibungen eröffnen multiple Zugänge verschiedener Disziplinen und diverse Möglichkeiten der Mitgestaltung und Neubewertung kultureller Güter in Sammelinstitutionen.

About the author

Sarah Ruppe

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar – Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, D-79085 Freiburg

Published Online: 2019-04-05
Published in Print: 2019-04-03

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Inhaltsfahne
  3. Forschungsdaten
  4. PARTHENOS – Eine digitale Forschungsinfrastruktur für die Geistes- und Kulturwissenschaften
  5. Bedeutung und Potenzial von Geoinformationen und deren Anwendungen im Kontext von Bibliotheken und digitalen Sammlungen
  6. Forschungsdaten und Fachinformationsdienste – eine Bestandsaufnahme
  7. Das Management von Forschungsdaten als Handlungsfeld wissenschaftlicher Bibliotheken: Forschungsunterstützung am Beispiel ZB MED – Informationszentrum Lebenswissenschaften
  8. Forschungsdatenmanagement an der ETH Zürich: Ansätze und Wirkung
  9. Wege zur Optimierung des Forschungsdatenmanagements – Die Forschungsperspektive des PODMAN-Projekts
  10. Metadata Challenges for Long Tail Research Data Infrastructures
  11. Methods to Evaluate Lifecycle Models for Research Data Management
  12. MyCoRe macht Forschungsdaten FAIR
  13. Zwei Ansätze zur Lösung der Replikationskrise in den Wirtschaftswissenschaften
  14. Synergieeffekte durch Kooperation: Hintergründe, Aufgaben und Potentiale des Projekts FoDaKo
  15. Von der Produktion bis zur Langzeitarchivierung qualitativer Forschungsdaten im SFB 1187
  16. Archivierungsstrategien anpassen – Herausforderungen und Lösungen für die Archivierung und Sekundärnutzung von ethnologischen Forschungsdaten
  17. Redaktionssache Forschungsdaten
  18. Wettbewerb Zukunftsgestalter in Bibliotheken 2018 / Preisträger
  19. Framework Information Literacy – Aspekte aus Theorie, Forschung und Praxis
  20. Lernwelten für Bibliotheken – Dimensionen der Zukunftsgestaltung
  21. Zukunftsgestalter in Bibliotheken 2018 / Weitere herausragende Projekte
  22. abiLehre.com: Wissensvermittlung mit Nachhaltigkeit
  23. MusicSpace – Ein neues Konzept für Nutzungsbereiche wissenschaftlicher Musikbibliotheken
  24. Die Bibliographische Datenbank zur Geschichtsschreibung im Osmanischen Europa (15. bis 18. Jh.)
  25. Schwerpunkt: Perspektiven und Erfahrungen – Voraus- und Rückblicke führender Bibliothekare
  26. Bibliotheken weiter denken und besser positionieren – Rückblicke und Ausblicke
  27. Ein offener Wissensmarktplatz mit gesellschaftlicher Relevanz
  28. Ein Jahr an der Universitätsbibliothek Kiel: Alles klar zur Wende! Status quo, Maßnahmen, Perspektiven
  29. Weiterer Beitrag
  30. Open Access aus der Sicht von Verlagen
  31. Neue Entwicklungen
  32. Library life in Australia: It Has Been a Busy Year!
  33. Zur Diskussion
  34. Detecting and Facing Information Demand for New Target Groups such as Start-up Founders – A Case Study at the WHU Library
  35. Bibliographische Übersichten
  36. Zeitungen in Bibliotheken
  37. Rezensionen
  38. Biographien des Buches
  39. Richard David Lankes: Erwarten Sie mehr! Verlangen Sie bessere Bibliotheken für eine komplexer gewordene Welt. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Hans-Christoph Hobohm. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Erdmute Lapp und Willi Bredemeier. Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswesen, 2017. 175 Seiten, 19,50 €, ISBN 978-3-9456-10-32-9
  40. Wolfgang Schmitz: Grundriß der Inkunabelkunde. Das gedruckte Buch im Zeitalter des Medienwechsels. Stuttgart: Hiersemann 2018. X, 420 Seiten. Mit 58 einfarbigen und 16 farbigen Abbildungen. (Bibliothek des Buchwesens, Band 27) € 169,- ISBN 978-3-7772-1800-7
  41. Falk Eisermann, Jürgen Geiß-Wunderlich, Burkhard Kunkel, Christoph Mackert, Hartmut Möller (Texte), Volkmar Herre (Fotos): Stralsunder Bücherschätze. Hrsg. von der Hansestadt Stralsund. Wiesbaden: Harrassowitz, 2017. 144 S., 122 farbige Abb. ISBN 978-3-447-10834-8. € 39,80
Heruntergeladen am 24.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2019-2007/html
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