Home Falk Eisermann, Jürgen Geiß-Wunderlich, Burkhard Kunkel, Christoph Mackert, Hartmut Möller (Texte), Volkmar Herre (Fotos): Stralsunder Bücherschätze. Hrsg. von der Hansestadt Stralsund. Wiesbaden: Harrassowitz, 2017. 144 S., 122 farbige Abb. ISBN 978-3-447-10834-8. € 39,80
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Falk Eisermann, Jürgen Geiß-Wunderlich, Burkhard Kunkel, Christoph Mackert, Hartmut Möller (Texte), Volkmar Herre (Fotos): Stralsunder Bücherschätze. Hrsg. von der Hansestadt Stralsund. Wiesbaden: Harrassowitz, 2017. 144 S., 122 farbige Abb. ISBN 978-3-447-10834-8. € 39,80

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Published/Copyright: April 5, 2019

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Falk Eisermann, Jürgen Geiß-Wunderlich, Burkhard Kunkel, Christoph Mackert, Hartmut Möller (Texte), Volkmar Herre (Fotos): Stralsunder Bücherschätze. Hrsg. von der Hansestadt Stralsund. Wiesbaden: Harrassowitz, 2017. 144 S., 122 farbige Abb. ISBN 978-3-447-10834-8. € 39,80


Der großformatige Band präsentiert, jeweils auf einer Doppelseite, Abbildungen von Handschriften und Drucken aus dem Stadtarchiv Stralsund, die von Erläuterungstexten begleitet werden. Er folgt damit in der bibliophilen Aufmachung einem ebenfalls von dem Stralsunder Fotografen Volkmar Herre gestalteten und fotografierten Buch über Zimelien der Freiberger Gymnasialbibliothek (Andreas Möller-Bibliothek).[1] Der Betreuer der Freiberger Sammlung, Volker Bannies, hatte aber ein umfangreiches Literaturverzeichnis beigegeben und bei den Beschreibungen Einzelnachweise geboten, während der Stralsunder Foliant lediglich ein allzu knappes Literaturverzeichnis (nur S. 143) enthält und somit auf „populär“ getrimmt ist. Was nützt das in die von Experten verfassten Beschreibungen eingeflossene Spezialwissen, wenn nichts belegt und nachgewiesen wird?

Nach einer kurzen Einleitung von Burkhard Kunkel, der das Buch konzipiert hat und eigentlich als Herausgeber zu gelten hat, werden zwei Bibelhandschriften und einige Bibeldrucke, liturgische Bücher, Handschriften und Inkunabeln aus Natur- und Geisteswissenschaften sowie Handschriften- und Druckfragmente vorgestellt, insgesamt 24 Handschriften bzw. Handschriftenfragmente und 24 Inkunabeln und einzelne Frühdruckblätter. Man erfährt nicht, dass die Handschriften im Rahmen des vom Leipziger Handschriftenzentrum durchgeführten Projekts Erschließung von Kleinsammlungen mittelalterlicher Handschriften in Ostdeutschland bearbeitet werden.[2] Dass die 2012 entdeckte Handschrift des Humanisten Francesco de Mello (S. 68 f.), das Pariser Widmungsexemplar von 1521 (HS 767), ein geradezu sensationeller Fund war[3] und auch online auf dem Server von Manuscripta Mediaevalia einsehbar ist[4] – es bleibt dem Leser verborgen. Von den bislang so gut wie unbekannten Handschriftenschätzen des Stralsunder Stadtarchivs hebe ich nur noch die auf einem Pergament-Rotulus um 1482 niedergeschriebenen Stralsunder Annalen (S. 118 f.) hervor. Ich kenne sonst keinen Text aus dem Bereich der Stadthistoriographie auf einem Rotulus.[5]

Eher irreführend schreibt Kunkel in der Einleitung zur Fragmentesektion: „In Pommern wurde unlängst die in den 1920er Jahren entstandene Fragmentensammlung des Kolberger Lehrers Otto Dibbelt bekannt“ (S. 121). Korrekt wäre: Aus dem Nachlass des Kolberger Biologen und Lehrers Otto Dibbelt (1881–1956) im Deutschen Meeresmuseum Stralsund wurde eine von ihm ab etwa 1927 zusammengetragene Fragmentensammlung – überwiegend Inkunabelbätter, aber auch Handschriften – durch den Archivar Herbert Ewe ins Stadtarchiv Stralsund geholt, wo sie als HS 1004 (und offenbar auch HS 2005, vgl. S. 134) aufgestellt ist. Dies entnimmt man einem Aufsatz Kunkels aus dem Jahr 2016 (im Literaturverzeichnis ungenau und fehlerhaft zitiert).[6]

Über die Stralsunder Gymnasialbibliothek äußerte sich der schwedische Postkommissar Daniel Jochim Vatky 1696 rühmend: „eine schöne Bibliotheca, worinne ausbündige rare Bücher / so wohl sumptibus publicis, und aus rühmlicher liberalität Geehrter Persohnen von HHrn. Scholarchis angeschaffet / als auch zum Andencken derer / die sie dahin geschickt gezeiget werden“ (S. 10). Sie bildet den Kern der heutigen Bibliothek des Stralsunder Stadtarchivs. Über die Bibliotheksgeschichte schreibt Kunkel in seiner wenig befriedigenden, im Feuilletonstil gehaltenen Einleitung so gut wie nichts, die nötige Einbettung der Büchersammlung des bedeutenden Stralsunder Gymnasiums in die Kulturgeschichte der historischen deutschen Schulbibliotheken[7] erfolgt nicht.

Lange ruhte die Sammlung im Dornröschenschlaf, obwohl sie zu den vier wertvollsten Altbestandsbibliotheken in Mecklenburg-Vorpommern zählt. Doch sie wurde nicht wachgeküsst, sondern – um im Bild zu bleiben – beinahe umgebracht. Nur mit Ekel vermag ich zur Kenntnis zu nehmen, dass die Verantwortlichen nicht die Souveränität besitzen zu bekennen, was geschehen ist. Der Oberbürgermeister dankt Experten, die in der „für die historischen Buchbestände der Hansestadt Stralsund wohl schwierigsten Zeit im Herbst 2012“ geholfen hätten (S. 7) – eine recht schamhafte Andeutung, und zur Scham besteht für die stolze Hansestadt, UNESCO-Weltkulturerbestätte, aller Grund. Sie hat ihr scheinbar in guten fachlichen Händen befindliches Stadtarchiv buchstäblich verschimmeln lassen. Es musste mit riesigen Kosten saniert werden; ein regulärer Benutzerbetrieb ist bis heute nicht möglich. Der Schimmelbefall war der Anlass für rechtswidrige Verkäufe aus den historischen Buchbeständen. Einer der Autoren des Bandes, Falk Eisermann, erkannte am 22. Oktober 2012 die Brisanz einer von mir im Weblog Archivalia mitgeteilten Pressemeldung der Stadt Stralsund, in der von der Veräußerung eines Teilbestands der ehemaligen Gymnasialbibliothek an einen Antiquar die Rede war.[8] Es gelang mir in den darauffolgenden Tagen und Wochen mithilfe einiger Interessierter, die Öffentlichkeit zu mobilisieren.[9] Der Entrüstungssturm – die FAZ nannte die Verkäufe am 16. November 2012 einen „Kulturfrevel“ – und das eindeutige Gutachten von Nigel Palmer und Jürgen Wolf, veröffentlicht am 20. November, veranlassten die Stadt Stralsund, die dem Antiquar für 95 000 Euro überlassenen 5 926 Bände, soweit nicht bereits verkauft oder vernichtet, zurückzukaufen und sich um die Rekonstruktion des Bestands zu bemühen. Besonders schmerzlich sind die Verluste durch die Versteigerung früher Drucke bei dem Auktionshaus Reiss, darunter auch Bücher aus der Bibliothek des Stralsunder Poeten Zacharias Orth († 1579). Ein Kepler-Druck wurde auf der Auktion für 4 4000 Euro verkauft und 2014 für eine Viertelmillion Dollar angeboten. Die Stadt konnte ihn dann aber doch in etwa zum Einkaufspreis zurückerwerben.[10] Damals fehlten der Archivbibliothek angeblich 585 der veräußerten Bücher, wobei bei dieser Zahl frühere rechtswidrige Verkäufe vor dem Sommer 2015 nicht berücksichtigt sind. Selbst aus der im Mai 2014 in das Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes eintragenen Löwen‘schen Sammlung waren Stücke in den Handel gelangt. Das oben zitierte „Andencken“ der vielen Stifter der Stralsunder Bücherschätze wurde so mit Füßen getreten.

Mit der Pretiosen-Parade des vorliegenden wohlfeilen Bildbandes, wird die neu gewonnene Wertschätzung der Bestände für eine breitere Öffentlichkeit (hoffentlich wirksam) dokumentiert. Mit ihrer Beschränkung auf isolierte Einzelstücke ist er aber noch immer weit davon entfernt, „in der Gymnasialbibliothek mehr zu sehen als ein Konglomerat von alten Büchern, nämlich ein gewachsenes Ensemble mit einem intrinsischen Wert, das in genau diesem Aggregatzustand eine unwiederbringliche Quelle für die Stralsunder Regionalgeschichte ist“.[11] Die Stadt Stralsund sollte sich in der Pflicht fühlen, durch die Unterstützung weiterer Forschungsarbeiten die Stralsunder Bücherschätze wirklich zu heben.

Published Online: 2019-04-05
Published in Print: 2019-04-03

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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