Home ABoT 2.247, KBo. 57.180 und das Lied der Freilassung
Article Open Access

ABoT 2.247, KBo. 57.180 und das Lied der Freilassung

  • Susanne Görke EMAIL logo and Jürgen Lorenz
Published/Copyright: January 17, 2025
Become an author with De Gruyter Brill

Abstract

This article discusses two fragments written down during Hittite Empire times that have been attributed to the Hurrian-Hittite bilingual Song of Release (CTH 789) found at the Hittite capital Ḫattuša. The authors argue that ABoT 2.247 is a cadaster text, and that the classification of KBo. 57.180 as part of the Song of Release remains doubtful. Therefore, the transmission of the Hurrian Song of Release is limited to the era preceding the Hittite Empire, with all of its manuscripts exhibiting the Middle Script. It thus presents a rare example of Hittite text ensembles without any New Script copy. The article outlines previous thinking about this phenomenon and re-evaluates it by adding evidence of comparable text corpora and aspects of Hittite scholarship.

Mit der Identifikation von ABoT 2.247 als Fragment des sogenannten Lieds der Freilassung (CTH 789)[1] schien zum ersten Mal ein junghethitischer Textvertreter dieses hurritisch-hethitischen Zyklus belegt zu sein.[2] Die Zuweisung zu CTH 789 beruhte dabei offensichtlich auf der Lesung der Namen von zwei Personen (ABoT 2.247: 2′ mme-ge-e[š und 3′ mza-a-za-al-la), die im Epos gut belegt sind. Dabei handelt es sich um Megi, einen König von Ebla, der in den Erzählungen in der Bilingue um die Stadt Ebla auch als „Stern von Ebla“ bezeichnet wird. Bereits in einem Text aus der Zeit der dritten Dynastie von Ur ist ein Herrscher (ensi₂) von Ebla mit Namen MeGum überliefert.[3] Zazalla wird als Megis Gegenspieler in Bezug auf die Freilassung von Personen innerhalb der hurritisch-hethitischen Bilingue genannt.[4] ABoT 2.247 lässt sich allerdings keiner der Textpassagen, in denen die Namen Megi und/oder Zazalla auftreten, zuordnen.

Betrachtet man ABoT 2.247 genauer, bietet sich indes eine ganz andere Interpretation des Textes an:

1′ [1 a.ša₃ ... ]x ⸢1 meg[idagalke-ez a-pi-az]

2′ [x gidaga]l-ma-aš 1 me gig[id.da ]

3′ [x panumun-š]ušamza-a-za-al-la [ ]

4′ [ši-eš-šu-r]a-aš [ ]

5′ [1 a.ša₃ ...]-da [...]

6′ [...] [...]

7′ [...]x x[...]

1′ [1 Feld ...]x: 100 gip[eššar Breit(seite) auf dieser (Seite),]

2′ aber [x gipeššar Brei]t(seite) [auf der anderen (Seite)], 100 gipeššar

La[ng(seite),]

3′ [x parīsuse]in, des Zazalla [Saatgetreide]

4′ des [bewässer]ten (Feldes). [ ]

5′ [1 Feld ... ]... [...]

6′ [...] [...]

7′ [...] ... [...]

Kommentar:

1′ Vor dem Zeichen g[i ist auf dem Foto noch der Rest eines kleinen Waagrechten zu erkennen, so dass die Lesung me sicher scheint.

2′ Die Lesung der Zeichen nach dem Bruch ist unsicher. Zu einer vergleichbaren Formulierung mit doppelter Nennung von dagal siehe KUB 8.76 r. Kol. 5′f., für das Souček (1959: 386) folgende Ergänzung vorschlägt: (5′)50 gidagalki-iz?-[za a-pi-(ia-)az] (6′)48 gidagal 5 p[a numun-šu] „50 gipeššar breit von die[ser (Seite), von jener] 48 gipeššar breit, 5 pa[rīsu (ist) seine Saat].“[5] Die Formulierung dagal-ma-aš ist mehrfach z. B. in KBo. 19.14+ Vs. i 18, 21, 25 etc. belegt, allerdings in einem anderen Formular. Mit der Nennung von zwei Breiten in Bezug auf ein Feld dürfte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich um ein Feld mit unterschiedlich langen Seiten handelte (vgl. so bereits Souček 1959: 385).

3′ Die Ergänzung des Anfangs folgt z. B. KUB 42.1 Vs. iii? 6′, 13′ oder KUB 8.78+ Rs. v 3.

4′ Vgl. zur Lesung z. B. KBo. 19.19, 3′; cf. auch CHD Š 456–457.

Der Text erweist sich somit als Katastertext, der Felder auflistet.[6] Normalerweise werden bei den Feldbeschreibungen zuerst die Lang- (gid.da) und danach die Breitseite (dagal) genannt. Ausnahmen sind neben dem hier vorgelegten Fragment auch z. B. KBo. 48.90, 5′f. oder KUB 42.5 Rs.? 2f.

Bei der in Zeile 3′ genannten Person könnte es sich um dieselbe wie die in den folgenden Katastertexten genannte handeln: KBo. 19.19, 5′ (mza-a-[za-al-la), KBo. 69.34, 3′ (mza-a-za-[al-la) und KUB 42.9, 2′ (mza-a-[za-al-la). Eine Übereinstimmung mit dem in der hurritisch-hethitischen Bilingue genannten Zazalla ist dagegen ausgeschlossen.

Ein weiteres junghethitisches Fragment, KBo. 57.180, wurde ebenso in Zusammenhang mit dem Epos der Freilassung gesehen. Miller (Vorwort zu KBo. 57, IX-X) hatte für KBo. 57.180, 4′ eine Lesung und Ergänzung zu ... pa-ra-a tar]-nu-ma-ašsirs[ir-ru in Erwägung gezogen und bemerkte, dass „das jh. Stück der einzige Beleg für das Lied der Freilassung nach der mh. Zeit, der erste Beleg ... außerhalb der Oberstadt (vorwiegend Tempel 16), und der einzige Beleg für die Verwendung des Liedes im Kult“ wäre. Als Ergänzung böte sich allerdings in KBo. 57.180, 4′ eventuell auch šašnumašsir₃ „Schlaflied“ an, das in KBo. 57.55 Rs.? 6′ und vielleicht in KUB 12.5 Rs. iv 9 belegt ist (cf. CHD Š 306b). Alternativ könnte man auch von einem gänzlichen anderen Lied der Freilassung ausgehen, wie von Dassow (2013: 131) bereits in Erwägung zog.

Somit sind alle bekannten Textstücke der hurritisch-hethitischen Bilingue CTH 789 in die mittelhethitische Zeit zu datieren, und mit Ausnahme von KBo. 32.87 stammen sie alle aus den Tempeln XV und XVI der Oberstadt. KBo. 32.87 ist ein Oberflächenfund aus dem Bereich von Tempel XII, der den Tempeln XV und XVI benachbart ist. Eine Umlagerung aus dem Bereich der Tempel XV und/oder XVI ist damit wahrscheinlich.

In Tempel XVI wurden zahlreiche der Bilingue zuordenbare Fragmente in unmittelbarer Nähe eines Pithos im Untergeschoss des durch frühbyzantinische Bebauung stark zerstörten Gebäudes gefunden, in dem sie wohl ursprünglich aufbewahrt waren.[7] Weitere Fragmente wurden im Bauschutt von Tempel XV und XVI gefunden. In Bezug auf Tempel XV vermerkt Neve (1999: 70), dass die dort gefundenen Tontafeln ausnahmslos in umgelagertem Schutt gefunden wurden, vermutet jedoch aufgrund ihrer Streuung, dass sie aus dem Tempel selbst, genauer Raum 11, stammten.

Bis auf zwei Ausnahmen sind alle Tafelfragmente, die in den Tempeln XV und XVI gefunden wurden, soweit sich das feststellen lässt, als paläografisch mittelhethitisch anzusprechen. Bei den Ausnahmen handelt es sich um ein in Tempel XV gefundenes junghethitisches Fragment des Mythos einer verschwundenen und wiederkehrenden Gottheit KBo. 32.7, das in dem mittelhethitischen Text KUB 54.85 ein Duplikat findet. Wenngleich es gegen Rüster (1992: 479) nicht sicher mit dem Verschwinden des Telipinu in Verbindung gebracht werden kann, ist es dennoch interessant, weil es sich um eines der wenigen Exemplare von Mythen von verschwundenen Göttern handelt, die bereits vor der Erzählung des Mythos rituelle Elemente aufweisen.[8] Auch in Tempel XVI wurde ein in diesem Fall spätjunghethitisches Fragment gefunden, KBo. 32.127, das Festen für unterirdische Gottheiten (CTH 645) zuzuordnen ist.[9]

Inhaltlich umfassen die Texte aus Tempel XV und XVI neben den bereits erwähnten Fragmenten der hurritisch-hethitischen Bilingue (CTH 789) auch mythologische Fragmente, neben dem soeben erwähnten KBo. 32.7 (CTH 324) auch KBo. 32.108 (CTH 370), des Weiteren akkadische Gilgameš-Fragmente (KBo. 32.129, KBo. 32.131+, KBo. 32.132, KBo. 32.133 (CTH 341; siehe unten)), verschiedene Festritualtexte, und zwar neben dem oben erwähnten KBo. 32.127 (CTH 645) auch ein Ištanuwa-Fragment (KBo. 32.126+ (CTH 772)), Fragmente der Feste für die Göttin Tetešḫapi (KBo. 32.114+, KBo. 32.117 (CTH 738)), ein Fragment des Gesangs der Frauen von Tiššarulija (KBo. 32.121 (CTH 741)) sowie Festritualfragmente (KBo. 32.118, KBo. 32.125 (CTH 670)), darüber hinaus ein Ritualfragment (KBo. 32.218 (CTH 458)), Orakelfragmente (KBo. 32.111 (CTH 582), KBo. 32.123 (CTH 573)), ein Fragment einer Landschenkungsurkunde (KBo. 32.135 (CTH 222)), ein Fragment historischen Inhalts (KBo. 32.122 (CTH 215)) sowie 15 Textfragmente verschiedenen Inhalts (CTH 832).

Darüber hinaus wurden in den Ausgrabungen der Bereiche von Tempel XV und XVI auch Tonbullae gefunden, zwei in Tempel XVI (nach Dinçol/Dinçol 2008: 33 (Nr. 97), 44–45 (Nr. 182), 105, aus dem 13. Jh.), sowie eine „im gleichen Areal“, die Arnuwanda I. in der ersten Hälfte des 14. Jhs. zuzuschreiben ist (Otten 1984: 375; Areal L/9-f/3; Tempel 16 Raum 2 nach https://arachne.dainst.org/entity/6878924). Eine größere Anzahl von Tonbullae, 16 nach Dinçol/Dinçol (2008: 105), trat in Tempel XV zutage, die eine größere Zeitspanne umfassen (vom 16. bis ins 13. Jh.; cf. de Martino 2014: 132). Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung de Martinos (2019: 124), dass damit die von Schachner (2011: 90) vorgeschlagene Datierung der Tempel XV und XVI an den Beginn des 14 Jhs. besser in ein Bild einzufügen sei als die lange angenommene spätere Datierung der Oberstadt in das 13. Jh., scheint überzeugend (vgl. Herbordt/von Wickede 2021: 471).

Eine angesichts der Fundumstände und des Inhalts der Tontafeln aus Tempel XV und XVI entstehende Vermutung, und zwar, dass der größte Teil dieses Tafelfundes ursprünglich aus einer einzigen Tafelsammlung in Tempel XVI stammen könnte, von der einige Teile sekundär in den Schutt im Bereich des Tempels XV gelangt sind, lässt sich wohl nicht so ohne Weiteres aufrecht halten. Bereits Neve (1999: 70) stellte fest, dass sich die schriftlichen Funde aus Tempel XV auf den Westteil von Raum 11 konzentrierten und die Tontafeln der Schuttkontexte aufgrund ihrer Streuung ebenfalls aus demselben Raum stammten (ebenso Herbordt/von Wickede 2021: 453). Joins haben sich zwischen Fragmenten aus Tempel XV und XVI bisher ebenfalls nicht ergeben. Dijkstra (2013: 126) erwägt aber indirekte Zusammenschlüsse von einerseits KBo. 32.11 und KBo. 32.63,[10] die beide im Tempel XVI gefunden wurden, mit KBo. 32.37[11] und KBo. 32.209 andererseits, die aus Tempel XV stammen. Ein Vergleich der Zeichenformen von KBo. 32.11 (aus Tempel XVI) mit denen von KBo. 32.209 (aus Tempel XV), der aufgrund der geringen Größe des zweiten Fragments nur unter Vorbehalt erfolgen kann, lässt durchaus vergleichbare Zeichenformen erkennen (cf. z. B. u, ra), allerdings weist das Zeichen al verschiedene Formen auf. Die Fragmente könnten daher durchaus vom gleichen Schreiber stammen, aber eine Zugehörigkeit zur gleichen Tafel bleibt unsicher.

Interessanterweise sind in Tempel XVI auch acht Textfragmente einer akkadischen Fassung des Gilgameš-Epos aus mittelhethitischer Zeit zutage getreten. Die Fragmente, die u. U. zu einer Tafel gehören könnten (siehe dazu George 2003: 307–311), zeigen große Übereinstimmungen mit einer altbabylonischen Fassung, der so genannten Pennsylvania-Version (George 2003: 26, 310–311), sind aber keine Importware, sondern wurden in Kleinasien von vermutlich nur einem Schreiber niedergeschrieben (Wilhelm 1988: 101, 103). Da sie eine große Nähe zu den anderen babylonischen Versionen des Epos aufweisen, dürften sie direkt von spätaltbabylonischen oder frühmittelbabylonischen Originalen abgeschrieben worden sein, auch wenn sie teilweise stark abweichen (George 2003: 310–311). Im Gegensatz dazu stehen die anderen beiden akkadischsprachigen Texte des Gilgameš-Epos, die aus Ḫattuša überliefert sind: Der junghethitische Text KUB 4.12 stellt eine lokale akkadische Version aus Ḫattuša dar, und auch KUB 37.128 dürfte als solche anzusprechen sein (vgl. auch Beckman 2019: 4). Die mittelhethitischen Fragmente des Epos aus dem Tempel XVI stehen für die anatolische Gilgameš-Überlieferung somit singulär da und erfuhren offenbar keine weitere Tradierung in der hethitischen Hauptstadt.[12] Dies dürfte auch für einige importierte Tafeln gelten, die nicht in Ḫattuša abgeschrieben wurden, wie z. B. die sumerisch-akkadische Hymne mit Gebet CTH 794, die in Ḫattuša nur in einer mittelbabylonischen Version KBo. 7.1+ überliefert ist (siehe dazu Baragli 2022: 416–427).[13]

Ein ähnliches Bild lässt sich für das hurritisch-hethitische Textensemble zeichnen, das in den Tempeln XV und XVI zutage trat. Entstehungsgeschichtlich dürften das Epos der Freilassung sowie die Parabeln auf hurritische Versionen des 17./16. Jhs. v. Chr. zurückgehen (de Martino 2019: 123), wobei auch ein altbabylonisches Original angedacht wurde (Haas/Wegner 1993: 57–58). Bereits Neu (1996: 22–23 mit Anm. 39) bemerkte, dass es sich bei dem hurritischen Text „um einen aus Nordsyrien stammenden Import handelt“, der zwar in Ḫattuša niedergeschrieben wurde, aber eine andere Sprachform als das Boğazköy-Hurritische besitzt. De Martino (2014: 131) schlug vor, dass die hurritischen Tafeln eventuell aus Kumanni nach Ḫattuša gelangten, wo sie Ende des 15./Beginn des 14. Jhs. ins Hethitische übersetzt wurden (cf. Kaynar 2020: 98). Auch Klinger merkte an, dass alle den hurritisch-hethitischen bilingualen Texten zugehörigen Tafeln und Tafelfragmente zweisprachige Textfassungen waren, die wohl in Ḫattuša von dortigen Schreibern schriftlich niedergelegt wurden (Klinger 2001: 204: „der Ḫattuša-Schule angehörenden Schreiber“), wobei es keine „Hinweise auf eine innerhethitische Tradition“ gäbe, so dass man den Anschein gewinne, „als wäre das gesamte Werk in seinen verschiedenen Exemplaren der üblichen Texttradition komplett entzogen worden“ (Klinger 2001: 206). Auch die Anzahl der Schreiber, die die auf uns gekommenen Fragmente des Liedes der Freilassung sowie der Parabeln geschrieben haben, ist unklar. Aufgrund von paläografischen Verschiedenheiten (siehe dazu Otten 1984: 374; Neu 1996: 5) ist dabei sicher nicht von einem einzigen Schreiber auszugehen. Nach Wilhelm (2012: 156) ist mit mindestens drei Abschriften des „Liedes der Freilassung“ zu rechnen,[14] ohne dass er sich zur Anzahl der Schreiber äußern würde.

Damit weisen sowohl die oben erwähnten akkadischen Fragmente des Gilgameš-Epos als auch die hurritisch-hethitische Bilingue aus den Tempeln XV und XVI nur mittelhethitische Niederschriften auf. Dies gilt auch für eine Reihe von anderen Textgruppen, die hier in aller Kürze für einen Vergleich und eine Aussage herangezogen werden sollen. So liegen einige politische Dokumente nur in zeitgenössischen Kopien vor,[15] aber auch Pferdetrainingsanleitungen (CTH 285), mythologische Texte[16] und Gebete,[17] manche Rituale[18] und Orakeltexte[19] sind nur in alt- und mittelhethitischen Niederschriften überliefert. Zumeist stammen diese aus dem Gebäude A auf Büyükkale oder anderen Gebäuden auf der Königsburg, nur für die althethitischen Rituale für das Königspaar (CTH 416) konnte für ein Exemplar der Bereich von Tempel I als Fundort bestimmt werden.

Der Fundkomplex der Tontafelfragmente von Tempel XVI in Kombination mit der ebenfalls dort gefundenen Tonbulle Arnuwandas I. veranlasste bereits Otten (1984: 375) zur Vermutung, dass die Tafelsammlung entweder „zur Privatbibliothek eines gebildeten Mannes (Priesters?) oder zum Stiftungsinventar eines Tempels, der dann wohl dem Kult einer hurritischen Gottheit aus Nordsyrien geweiht war (Teššub von Ebla?)“, gehörte. Interessant ist, dass neben den akkadischen und hurritischen Texten auch Fragmente religiöser Texte der alten anatolischen Traditionen Teil der Inventare von Tempel XV und XVI war; so fanden sich z. B. der luwischen Tradition zuzurechnende Fragmente des Ištanuwa-Corpus ebenso wie Fragmente des Kults von Tetešḫapi und den Frauen von Tiššalurija, die hattische Bezüge aufweisen (vgl. oben). De Martino (2014: 133) spezifizierte die Datierung der Fundkomplexe und schlug vor, dass die Tempel XV und XVI vielleicht zur Verehrung der Gottheiten aus Kizzuwatna, deren Kult bis dahin nicht in Ḫattuša beheimatet war, am Ende der Vorgroßreichszeit errichtet wurden.

Sicher scheint, dass die Gebäude Texte beherbergten, die in mittelhethitischer Zeit eventuell dort von akkadischen und hurritischen importierten Tafeln abgeschrieben und teils übersetzt wurden. Diese wurden zusammen mit einigen Fragmenten anderer mittelhethitischer Texte verschiedenen Inhalts im Kellergeschoss aufbewahrt, wobei die jüngeren Tonbullae sowie zwei junghethitische Fragmente darauf hinweisen könnten, dass die Räume später noch aufgesucht wurden, ohne wohl dann noch aktiv genutzt worden zu sein. Allerdings bleibt zu bedenken, dass die Situation aufgrund späterer massiver Störungen durch Überbauung schlecht einschätzbar bleibt.

Damit ging offensichtlich das Wissen um das Epos der Freilassung, die Parabeln sowie die mesopotamische Gilgameš-Version verloren. Zumindest stellen die hurritischen und hethitischen Gilgameš-Fragmente andere Episoden als die der in Tempel XVI gefundenen dar (Klinger 2005: 122–123); und für die hurritisch-hethitische Bilingue konnte de Martino bislang nur zeitgleiche, also ebenfalls mittelhethitische Verbindungen aufweisen.[20] Zieht man weitere Textgruppen, die nur alt- oder mittelhethitisch belegt sind, in Betracht, lassen sich häufig Beziehungen zu jüngeren Texten finden, so z. B. im Falle des Gebets des Kantuzili (CTH 373), das wortgleiche Entsprechungen in einem junghethitischen Textvertreter von CTH 374 aufweist, oder auch rituelle Handlungen der althethitischen Rituale für das Königspaar (CTH 416), die sich in jüngeren Texten finden (z. B. das Entsenden des Adlers in dem junghethitischen Text KUB 30.34+, einer Version des Irija-Rituals CTH 400). Andere Textgruppen jedoch scheinen, gleich der hurritisch-hethitischen Bilingue, keinen Widerhall in späteren junghethitischen Texten gefunden zu haben oder enthalten Abschnitte oder Ausdrücke, die singulär im hethitischen Textcorpus sind (wie z. B. die Verwendung des Ausdrucks marlaiške- „verrückt werden“ in dem Text KBo. 26.136+ (CTH 339.1) oder Beobachtungen von sich vermischenden Wassern in CTH 752).[21] Darüber hinaus existieren sumerische und akkadische Texte, die offenbar importiert und auf Büyükkale archiviert, aber nicht kopiert oder übersetzt wurden (z. B. CTH 794; siehe oben mit Fußnote 13). Diese finden sich auch nicht, wie van den Hout (2020: 163) bemerkte, in den Tafelkatalogen oder Etiketten, woraus er auf eine relativ kleine Gruppe von Schreibern schloss, die – „more academically inclined and interested“ – für das Vorhandensein fremder Kompositionen in den Tafelsammlungen verantwortlich war (van den Hout 2020: 163).

Was genau mit den Tempeln XV und XVI geschah, bleibt unklar. Verloren die in ihnen verehrten Gottheiten an Bedeutung? Oder gewannen diese im Gegenteil mehr Einfluss und wurden in der Großreichszeit daher woanders verehrt? Gerieten die ursprünglichen Tempel in Vergessenheit und wurden nur noch selten besucht (wodurch die jüngeren Textfunde erklärt werden könnten)? Oder sind die jüngeren Textfunde alleine auf jüngere Zerstörungen zurückzuführen? War der Inhalt der Bilingue eine Art „Geheimwissen“, das die Tempel XV und XVI nicht verlassen durfte, oder vergaßen die Schreiber, die von ihnen kopierten und übersetzten Texte in die größeren Archive zu bringen?[22] Führten ideologische Gründe des hethitischen Königshauses dazu, dass das Wissen um mesopotamische Gelehrsamkeit und Literatur eventuell auf persönliche Interessen einiger weniger anatolischer Gelehrter beschränkt blieb, wie es van den Hout formulierte?[23] Kursierte der Inhalt der Tafeln in Stadt und Land, so dass man nicht die Notwendigkeit sah, weitere Abschriften anzufertigen, oder verlor man das Interesse an den Texten, weil sie nicht mehr dem zeitgemäßen Belang entsprachen? Schon Collins (2002: 239–243) verwies auf die seltener werdenden Tiervergleiche in hethitischen Texten im Verlaufe der hethitischen Geschichte (cf. de Martino 2014: 134). Neben den hurritisch-hethitischen Parabeln aus Tempel XV und XVI sind Erzählungen mit Tieren, die als Vergleich zu menschlichem Verhalten herangezogen werden, auch in einigen Textgruppen zu finden, von denen keine jüngeren Abschriften in den Archiven der Königsburg oder Tempel I ausgemacht werden konnten (vgl. oben Anmerkung 12–16): so z. B. in CTH 339, in dem ein Abschnitt davon berichtet, wie sich die Tiere verkriechen.[24]

Darauf, dass es sich nicht um die einzigen Textgruppen handelt, von denen sich keine junghethitischen Abschriften fanden, wurde oben bereits verwiesen. Der Fundkontext der hurritisch-hethitischen Bilingue allerdings bleibt weiterhin singulär, eine Beurteilung desselben daher schwierig. Sicher ist jetzt, dass bislang keine junghethitischen Abschriften in der hethitischen Hauptstadt zutage getreten sind. Vielleicht würde es lohnen, die Anzahl der Schreiber zu eruieren und herauszufinden, ob sie auch Texte anderer Archive niedergeschrieben haben, ebenso wie der Frage nachzugehen, ob und inwieweit es inhaltliche Verbindungen der Bilingue zu Texten der Großreichszeit gegeben haben mag. Dann könnte sich auch die von van den Hout formulierte Frage klären, ob eventuell ideologische Gründe des hethitischen Königshauses dazu führten, dass das Wissen um mesopotamische Gelehrsamkeit und Literatur auf persönliche Interessen weniger anatolischer Gelehrter zurückgeht.

Danksagungen

Wir danken Fabio Bastici, Naomi Harris und Robert Marineau für zahlreiche Hinweise.

Bibliografie

Baragli, B. (2022): Sonnengrüße: Die sumerischen Kiutu-Gebetsbeschwörungen (AMD 19), Leiden – Boston.10.1163/9789004503724Search in Google Scholar

Beckman, G. (2019): The Hittite Gilgamesh (JCS Suppl. Ser. 6), Atlanta.10.5913/2019068Search in Google Scholar

Collins, B.J. (2002): Animals in Hittite Literature. In: B.J. Collins (ed.), A History of the Animal World in the Ancient Near East (HdOr. 1/64), Leiden – Boston – Köln, 237–250.10.1163/9789047400912_008Search in Google Scholar

de Martino, S. (2000): Il ‘canto della liberazione’: composizione letteraria bilingue hurrico-ittita sulla distruzione di Ebla. In: G. Pugliese Carratelli (ed.), La civiltà dei Hurriti (La Parola del Passato 55), Neapel, 296–320.Search in Google Scholar

de Martino, S. (2014): The Hurrian „Song of Release:“ An Up-to-date Overview. In: S. Gaspa et al. (ed.), From Source to History: Studies on Ancient Near Eastern Worlds and Beyond (AOAT 412), Münster, 127–137.Search in Google Scholar

de Martino, S. (2019): The Hurrian Song of Release and the Fall of Ebla, Studia Eblaitica 5, 123–155.10.13173/STEBLA/2019/1/123Search in Google Scholar

Della Casa, R. (2021): The Power of Human Speech in Hittite Anatolia: Performance and Performativity of Telipinu’s mugawar (CTH 324), AoF 48, 65–75.10.1515/aofo-2021-0004Search in Google Scholar

Dinçol, A./B. Dinçol (2008): Die Prinzen- und Beamtensiegel aus der Oberstadt von Boğazköy-Ḫattuša vom 16. Jahrhundert bis zum Ende der Grossreichszeit (BoḪa. 22), Mainz.Search in Google Scholar

Dijkstra, M. (2013): The First Tablet of the Hurritic Bilingual Song of Release in the Light of Hurritic Mythological Tradition, UF 44, 121–142. Search in Google Scholar

George, A. (2003): The Babylonian Gilgamesh Epic: Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts, Oxford.Search in Google Scholar

Glocker, J. (1997): Das Ritual für den Wettergott von Kuliwišna: Textzeugnisse eines lokalen Kultfestes im Anatolien der Hethiterzeit (Eothen 6), Florenz.Search in Google Scholar

Görke, S. (2023): Angefleht und dann beopfert: Zur Beziehung von Mythos und Festritual in hethitischen Texten, JANER 23, 1–24.10.1163/15692124-12341334Search in Google Scholar

Görke, S./D. Sasseville (i. Vorb.): Die palaischen Texte aus Ḫattuša.Search in Google Scholar

Haas, V./I. Wegner (1993): Baugrube und Fundament, IstM 43, 53–62.Search in Google Scholar

Herbordt, S./A. von Wickede (2021): Kleinfunde aus der Oberstadt von Hattusa: Das zentrale Tempelviertel und die Tempelviertel am Königs- und Löwentor (BoḪa. 29), Wiesbaden.Search in Google Scholar

Kaynar, F. (2020): Hitit Arşivinden Bir „Bilgelik Örneği“ (KBo 32.14 Metni), ArchAn. 14, 95–106.10.46931/aran.696088Search in Google Scholar

Klinger, J. (2001): Die hurritische Tradition in Ḫattuša und das Corpus hurritischer Texte. In: Th. Richter et al. (ed.), Kulturgeschichten. Altorientalistische Studien für Volkert Haas zum 65. Geburtstag, Saarbrücken, 197–208.Search in Google Scholar

Klinger, J. (2005): Die hethitische Rezeption mesopotamischer Literatur und die Überlieferung des Gilgameš-Epos in Ḫattuša. In: D. Prechel (ed.), Motivation und Mechanismen des Kulturkontaktes in der späten Bronzezeit (Eothen 13), Florenz, 103–127.Search in Google Scholar

Klinger, J. (2006): Der Beitrag der Textfunde zur Archäologiegeschichte der hethitischen Hauptstadt. In: D.P. Mielke et al. (ed.), Strukturierung und Datierung in der hethitischen Archäologie / Structuring and Dating in Hittite Archaeology – Voraussetzungen – Probleme – Neue Ansätze / Requirements – Problems – New Approaches, Internationaler Workshop Istanbul, 16.–27. November 2004 (BYZAS 4), Istanbul, 5–17.Search in Google Scholar

Klinger, J. (2010): Literarische sumerische Texte aus den hethitischen Archiven aus paläographischer Sicht – Teil II, AoF 37, 306–340.10.1524/aofo.2010.0025Search in Google Scholar

Neu, E. (1996): Das hurritische Epos der Freilassung I (StBoT 32), Wiesbaden.Search in Google Scholar

Neve, P. (1999): Die Oberstadt von Ḫattuša: Die Bauwerke. Bd. 1: Das zentrale Tempelviertel, Berlin.Search in Google Scholar

Owen, D.I./R. Vennker (1987): Megum, the First Ur III Ensi of Ebla. In: Luigi Cagni (ed.), Ebla 1975–1985: Dieci anni di studi linguistici e filologici, Neapel, 263–291.Search in Google Scholar

Otten, H. (1984): Die Tontafelfunde aus Haus 16, ArchAnz. 1984, 372–375.10.1111/j.2042-3306.1984.tb01949.xSearch in Google Scholar

Paroussis, M. (1985): Les listes de champs de Pylos et Hattuša et le régime foncier mycénien et hittite, Paris.Search in Google Scholar

Rüster, C. (1992): Zu einem neuen Fragment des Telipinu-Mythos. In: H. Otten et al. (ed.), Sedat Alp’a Armağan – Festschrift für Sedat Alp. Hittite and Other Anatolian and Near Eastern Studies in Honour of Sedat Alp, Ankara, 475–481.Search in Google Scholar

Schachner, A. (2011): Hattuscha: Auf der Suche nach dem sagenhaften Großreich der Hethiter, München.10.17104/9783406622847Search in Google Scholar

Souček, V. (1959): Die hethitischen Feldertexte, ArOr. 27, 5–43, 379–395.Search in Google Scholar

Steitler, C. (2017): The Solar Deities of Bronze Age Anatolia: Studies in Texts of the Early Hittite Kingdom (StBoT 62), Wiesbaden.Search in Google Scholar

van den Hout, T. (2020): A History of Hittite Literacy: Writing and Reading in Late Bronze-Age Anatolia (1650–1200 BC), Cambridge.10.1017/9781108860161Search in Google Scholar

von Dassow, E. (2013): Piecing Together the Song of Release, JCS 65, 127–162.10.5615/jcunestud.65.2013.0127Search in Google Scholar

Wilhelm, G. (1988): Neue akkadische Gilgameš-Fragmente aus Ḫattuša, ZA 78, 99–121.10.1515/zava.1988.78.1.99Search in Google Scholar

Wilhelm, G. (2001): D. Epische Texte: Das hurritisch-hethitische „Lied der Freilassung“. In: O. Kaiser (ed.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Ergänzungslieferung, Gütersloh, 82–91.10.14315/9783641217761-006Search in Google Scholar

Wilhelm, G. (2012): Ein Konflikt zwischen König und Ältestenversammlung in Ebla. In: G. Wilhelm (ed.), Organization, Representation, and Symbols of Power in the Ancient Near East. Proceedings of the 54th Rencontre Assyriologique Internationale at Würzburg 20–25 July 2008, Winona Lake, 155–166.10.5325/j.ctv1bxgx80.17Search in Google Scholar

Online erschienen: 2025-01-17
Erschienen im Druck: 2025-01-14

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 20.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/aofo-2024-0014/html
Scroll to top button