Home Ulrich Johannes Schneider: Andrew Carnegies Bibliotheken. Über Moderne und Öffentlichkeit (Themen: 110). München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2024. 110 S., ISBN 978-3-938593-39-4. Brosch. € 18,-
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Ulrich Johannes Schneider: Andrew Carnegies Bibliotheken. Über Moderne und Öffentlichkeit (Themen: 110). München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2024. 110 S., ISBN 978-3-938593-39-4. Brosch. € 18,-

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Published/Copyright: March 19, 2025

Rezensierte Publikation:

Ulrich Johannes Schneider: Andrew Carnegies Bibliotheken. Über Moderne und Öffentlichkeit (Themen: 110). München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2024. 110 S., ISBN 978-3-938593-39-4. Brosch. € 18,-


Andrew Carnegie (1853–1919), der Mäzen, der den Bau von über 2 800 Bibliotheken, davon 1 946 in den USA und 600 im Vereinigten Königreich gefördert hat, ist verständlicherweise in diesen Ländern bis heute präsent, wobei er auch noch andere Einrichtungen wie zum Beispiel die Carnegie Hall in New York finanziert hat. Dementsprechend gibt es über ihn und seine Tätigkeit eine reiche englischsprachige Literatur. Er selbst trug dazu bei, weil er im Gegensatz zu anderen mäzenatisch tätigen Industriellen seine Ideen in Reden und Veröffentlichungen in die Diskussion über Bildungspolitik und Sozialpolitik einbrachte. Dass seine Überlegungen zur Notwendigkeit Öffentlicher Bibliotheken um 1900 auch im deutschsprachigen Raum bei der Modernisierung des öffentlichen Bibliothekswesens im Zusammenhang mit der sogenannten Bücherhallenbewegung eine Rolle spielten, ist kaum mehr bekannt. Doch davon noch später!

Umso verdienstvoller ist es, dass Ulrich Johann Schneider ihm eine Publikation widmet, die er bescheiden zwar einen Essay nennt, nicht im ursprünglichen Wortsinn als einen Versuch, sondern der sich viel mehr als eine wissenschaftlich-literarische Abhandlung in anspruchsvoller Form erweist. Sein Text ist die erweiterte Fassung eines Vortrags vom Februar 2023. Schneider war unter anderem Leiter der Forschungsabteilung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig. Er lehrt und forscht am Institut für Kulturwissenschaft der Universität. Seine Forschungen zur amerikanischen Bibliotheksgeschichte förderte ein Fellowship am Thomas Mann House in Pacific Palisades.

Im vorliegenden Buch konzentriert er sich auf vier Schwerpunkte:

  • Die Geburt der Public Library

  • Bibliotheken in der Öffentlichkeit

  • Carnegies Bauförderung

  • Carnegies Vermächtnis

Ergänzt wird der Text durch 15 historische Aufnahmen von Bibliotheksbauten und aus der bibliothekarischen Arbeit.

Die „Geburt der Public Library“ (Kapitel 1) und die Entwicklung ihres Modells zu einer gesellschaftlichen Institution führt Schneider auf den Industrialismus ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, der mehr war als nur ein wirtschaftlicher Prozess. Besonderes Zeichen der hohen Wertschätzung von Bibliotheken in den USA waren die Neubauten in den größeren Städten, die geradezu als „palaces for the people“ bezeichnet wurden. Diese Wertschätzung zeigte sich auch in einer intensiven Nutzung. Vor und nach 1900 nahm das Bibliothekswachstum enorm zu. Carnegies Engagement ist der Höhepunkt des Einflusses privater Investitionen. Es hat bis heute keine Parallele. In einer ersten Phase, 1881 beginnend mit seiner Geburtsstadt Dunfermline in Schottland, wählte er für seine Förderung Orte, zu denen er eine persönliche Beziehung hatte. Ab 1896 organisierte er eine „strukturierte Förderung auf Antragsbasis“. Dadurch entfalteten seine Projekte eine strukturelle Wirkung.

„Bibliotheken in der Öffentlichkeit“ (Kapitel 2) thematisiert auch umstrittene Bibliotheksvorhaben. 225 Orte äußerten Bedenken oder lehnten Carnegies Vorhaben ab. Das schärfste Gegenargument lautete, dass das „schmutzige Geld“ eines Industriellen mit unvorstellbaren Gewinnen, der vorgeblich für die Niederschlagung eines Arbeiteraufstands verantwortlich war, „Blutgeld“ sei. Ein anderer Hauptkritikpunkt war das sogenannte „over-building“, ein „Übermaß an Baumaßnahmen“. Dieser angeblich übertriebene Luxus ist auch in Europa während der Bücherhallenbewegung en passant angesprochen worden. Vereinzelt fürchtete man aus deutscher Sicht, dass durch ein übermäßig repräsentatives Erscheinungsbild bei einfacheren Schichten der Bevölkerung Schwellenangst erzeugt würde, andererseits argumentierte man, dass damit auch äußerlich Wert und Bedeutung von Bildung ausgedrückt werde. Eine Erklärung könnte man im Fall der USA eventuell auch darin finden, dass es in deutschen Städten ausreichend architektonisch herausragende Gebäude gab, die eine Stadt zierten, anders als in den USA.

In „Carnegies Bauförderung“ (Kapitel 3) sieht Schneider auch ein Indiz, dass eines seiner Motive die Förderung der Bildung durch Selbstbildung war. Carnegie selbst verfügte nur über eine elementare Schulbildung, erwarb sich aber durch Lektüre ein beeindruckendes Wissen. In seinen eigenen Worten hielt er Bibliotheken für die „besten Einrichtungen für die Verbesserung der Masse der Menschen, weil sie nur denen helfen, die sich selber helfen“. Schneider spricht geradezu davon, dass Carnegies Wohltätigkeit zum Geschäftsmodell geworden sei. Modern erscheine dabei, dass er den Kommunen in Form eines „Private-Public-Partnership“ zu Bibliotheken verhalf. Seine Politik des Bibliotheksbaus verkündete er auch als Redner und Autor. Über die USA hinaus sah die Zeit von der Mitte der 1880er- bis Mitte der 1890er-Jahre eine Vielzahl von repräsentativen Bibliotheksneubauten auch in Europa, überwiegend allerdings für wissenschaftliche Bibliotheken.

Carnegie aber betrachtete wohl kleine Bibliotheken als die eigentlichen Bildungsstätten. Er betonte immer wieder, dass er „durch seine Bauförderung die Städte selbst zur Bildungsförderung bewege“. Eine spezielle Funktion sah er für Bibliotheken in Stadtteilen mit vielen Immigrantinnen und Immigranten: vor allem deren Amerikanisierung, vom Erlernen der englischen Sprache bis zur Aneignung amerikanischer Sitten und Gebräuche.[1]

Was war nun „Carnegies Vermächtnis“ (Kapitel 4)? Zu Anfang des Schlusskapitels geht Schneider noch einmal auf die Kritiker Carnegies ein und relativiert die Versuche, ihn als ruhmsüchtigen Milliardär zu stilisieren. Er beruft sich dabei auf neuere Biografien, zum Beispiel die von Joseph Frazier Wall.[2] Carnegie selbst begegnete öffentlich geäußerten Vorwürfen gelegentlich mit Humor. Nicht zu leugnen sind die Erfolge von Carnegies Bibliotheksbaupolitik.

Ebenso wichtig war seine Interpretation der Bibliothek als soziale Institution. Er machte, wie Schneider hervorhebt, Bibliotheken zum Thema der Öffentlichkeit und „erfand gewissermaßen den sachlichen Blick von außen auf diese Institution; er initiierte und prägte einen Diskurs über Bibliotheken“. Die Vorstellungen eines Industriemagnaten verliehen den Bibliotheken in den USA mehr Prestige als die von bibliothekarischer Seite propagierte „modern library idea“, so die Meinung Schneiders. Modern sei Carnegie auch gewesen, weil er sich der Bedeutung von fiktionaler Literatur als „Ablenkung von Alltag und der Erholung vom Arbeitsdruck“ bewusst war. Er schwang nicht wie Walter Hofmann in Deutschland die moralische Keule und hegte nicht wie viele seiner Zeitgenossen den Verdacht, schlechte Romane verführten zu einem schlechten Lebenswandel.

Mit den abschließenden Bemerkungen über „Bücherzirkulation“ kommt Schneider auf alternative Formen der Literaturvermittlung zu sprechen: von Bibliotheken an ungewöhnlichen Orten, von Beispielen von mit dem amerikanischen Begriff „social library“ bezeichneten Bibliotheken, zum Beispiel Wanderbibliotheken – „traveling libraries“. Carnegie hatte sie als wichtig im Blick, auch wenn er sie nicht in seine Förderung einbezog.[3]

Carnegie erkannte, „dass Bibliotheken nicht nur als Teil der Bildungs- und Fortbildungskultur gesellschaftliche Einrichtungen sind, sondern dass sie auch durch ihre stationären Monumente – die Bibliotheksgebäude – und über ihre dynamischen Kommunikationen – die Zirkulation von gedruckten Texten – an Veränderungen sozialer Art teilhaben und darin eine Rolle spielen“. Mit dieser Erkenntnis hat er einen entscheidenden Beitrag geleistet und das ist wohl sein eigentliches Vermächtnis.

Schneiders Feststellung ist nicht zu widersprechen, dass Carnegies Engagement für Bibliotheken bis heute keine Parallele hat. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass „the big philanthropy of the 19th and 20th century came as a mixed blessing to the American library profession“. Michael Harris hat vor einem halben Jahrhundert die schon zu Carnegies Lebzeiten geäußerte Kritik noch einmal angestoßen und mit seiner „revisionistischen Interpretation“ der amerikanischen Bibliotheksgeschichte eine heftige Kontroverse entfacht.[4] Carnegie war ein überzeugter Jünger des Sozialen Darwinismus des britischen Philosophen Herbert Spencer (1820–1903), den er mit „My Dear Master“ titulierte. Seine philanthropischen Überzeugungen waren von dessen Ideen ohne Zweifel stark beeinflusst.[5]

Wenn sich im deutschsprachigen Bereich der Aufschwung der Public Libraries und die Leistungen von Mäzenen wie Carnegie als Vorbilder empfahlen, wurde die dahinterstehende Problematik, wie sie Harris – vielleicht überzogen – darstellte, natürlich nur am Rande berührt. Der erste, der einen Überblick über die Public Libraries der USA veröffentlichte, war der österreichische Geologe und Bibliothekspionier Eduard Reyer (1849–1914), der auf seinen Forschungsreisen in den USA ab den 1870er-Jahren zahlreiche Public Libraries besichtigte und sich in den 1880er-Jahren längere Zeit in der Boston Public Library aufhielt.[6] Für seine Bibliotheksgründungen in Graz und Wien verwendete er Argumente, die sich weitgehend mit den Auffassungen Carnegies deckten. Seine Aktivitäten wurden sogar in den USA bemerkt und gewürdigt, so von Mary Wright Plummer.[7] Sie war unter anderem Direktorin der Pratt Institute Free Public Library und später die zweite Frau, die Präsidentin der American Library Association wurde. Sie stellte Reyer in seiner Bedeutung in eine Reihe mit Melvil Dewey.

Der „Vater“ der Bücherhallenbewegung in Deutschland, Constantin Nörrenberg (1862–1937), rekurrierte immer wieder auf die USA, auf Carnegie und Reyer. Er schrieb in einer Rezension von Reyers Kritische Studien zum volkstümlichen Bibliothekswesen der Gegenwart (1905) „Amerika hat seinen Carnegie, Österreich seinen Reyer“.[8] Auch Nörrenberg kannte amerikanische Bibliotheken aus eigener Erfahrung. Er war unter den 250 registrierten Teilnehmern des „World’s Library Congress held at the World Columbian Exposition“ 1893 in Chicago der einzige deutsche Vertreter und besuchte während seines mehrmonatigen Aufenthalts in den USA 45 Bibliotheken. Dass das amerikanische Vorbild durch den ab 1912 entbrennenden Richtungsstreit in den Hintergrund trat, war beiden Parteien geschuldet, der „Neuen Richtung“, die einen eigenen „Deutschen Weg“ propagierte, und auf der anderen Seite denjenigen, die sich stärker an Skandinavien orientierten.

Der eben eingefügte Exkurs mag vielleicht in einer Rezension als unangebracht empfunden werden. Er soll aber keineswegs als Kritik an Schneiders bemerkenswerter, in sich geschlossener Publikation aufgefasst werden. Sie bot aber die Gelegenheit, in einer geschichtsvergessenen Zeit an kaum mehr erinnerte Beziehungen und Zusammenhänge zu erinnern.[9]

Online erschienen: 2025-03-19
Erschienen im Druck: 2025-08-05

© 2025 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  12. Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, hg. von der Historischen Kommission. Band 5. Im Auftrag der Historischen Kommission, hg. von Thomas Keiderling, Christoph Links und Klaus G. Saur, in Zusammenarbeit mit Carsten Wurm: Deutsche Demokratische Republik. Teil 3: Verlage 3, Verbreitender Buchhandel und Bibliotheken. IX, 624 S. Abb. und Tab. Berlin, Boston: De Gruyter, 2024. ISBN 978-3-11-077950-9. € 189,95
  13. Hans-Christoph Hobohm: Informationsverhalten. (Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft, Band 5). Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2024. 444 S., 28 Illustr. Online-Ausgabe: ISBN: 978-3-11-039618-8
  14. Andreas Degkwitz und Barbara Schleihagen (Hrsg.): Demokratie und Politik in Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken. Politikfelder deutscher Bibliotheken. Berlin, Boston: De Gruyter, 2024. https://doi.org/10.1515/9783111053240, ISBN: 9783111053080, geb. Ausg., € 74,95
  15. Ute Engelkenmeier, Kerstin Keller-Loibl, Bernd Schmid-Ruhe, Richard Stang (Hrsg.): Handbuch Bibliothekspädagogik. Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2024. X, 507 S., ISBN 9783111032030, https://doi.org/10.1515/9783111032030, geb. Ausg., ISBN 9783111028057, € 124,95
  16. Helmut Rohlfing (Hrsg.): Inkunabelkatalog der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Wiesbaden: Harrassowitz, 2024 (Inkunabelkatalog der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Bd. 4). 382 Seiten; ISBN 978-3-447-12225-2; 98,00 €
  17. Ulrich Johannes Schneider: Andrew Carnegies Bibliotheken. Über Moderne und Öffentlichkeit (Themen: 110). München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2024. 110 S., ISBN 978-3-938593-39-4. Brosch. € 18,-
Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2024-0102/html
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