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Wider den methodologischen Nationalismus in der Migrationsforschung?

Christoph Beier / Dirk Messner / Hans-Joachim Preuß (Hrsg.), Globale Wanderungsbewegungen: Beiträge der internationalen Zusammenarbeit zum Umgang mit Flucht und Migration. Wiesbaden: Springer VS 2020, 520 S., kt., 59,99 € Julia Devlin / Tanja Evers / Simon Goebel (Hrsg.), Praktiken der (Im-)Mobilisierung: Lager, Sammelunterkünfte und Ankerzentren im Kontext von Asylregimen. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 472 S., kt., 44,00 € Tobias G. Eule / Lisa Marie Borrelli / Annika Lindberg / Anna Wyss, Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes. Hamburg: Hamburger Edition 2020, 344 S., gb., 32,00 € Amélie Haag, Die Liberalisierung der bundesdeutschen Migrationspolitik am Beispiel des Anerkennungsgesetzes Wiesbaden: Springer VS 2022, 259 S., kt., 64,99 € Laura K. Otto, Junge Geflüchtete an der Grenze. Eine Ethnografie zu Aushandlungen. Frankfurt/ New York: Campus Verlag 2020, 423 S., kt., 39,95 € Stefan Rother, Global Migration Governance from Below: Actors, Spaces, Discourses. Cham: Palgrave Macmillan 2022, 138 S., gb., 42,79 €
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Veröffentlicht/Copyright: 20. Oktober 2023
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Rezensierte Publikationen:

Christoph Beier / Dirk Messner / Hans-Joachim Preuß (Hrsg.), Globale Wanderungsbewegungen: Beiträge der internationalen Zusammenarbeit zum Umgang mit Flucht und Migration. Wiesbaden: Springer VS 2020, 520 S., kt., 59,99 €

Julia Devlin / Tanja Evers / Simon Goebel (Hrsg.), Praktiken der (Im-)Mobilisierung: Lager, Sammelunterkünfte und Ankerzentren im Kontext von Asylregimen. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 472 S., kt., 44,00 €

Tobias G. Eule / Lisa Marie Borrelli / Annika Lindberg / Anna Wyss, Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes. Hamburg: Hamburger Edition 2020, 344 S., gb., 32,00 €

Amélie Haag, Die Liberalisierung der bundesdeutschen Migrationspolitik am Beispiel des Anerkennungsgesetzes. Wiesbaden: Springer VS 2022, 259 S., kt., 64,99 €

Laura K. Otto, Junge Geflüchtete an der Grenze. Eine Ethnografie zu Aushandlungen. Frankfurt/ New York: Campus Verlag 2020, 423 S., kt., 39,95 €

Stefan Rother, Global Migration Governance from Below: Actors, Spaces, Discourses. Cham: Palgrave Macmillan 2022, 138 S., gb., 42,79 €


Eine der großen Herausforderungen, mit denen die Soziologie heute konfrontiert ist, besteht darin, Konzepte die wesentlich an einer nationalstaatlichen Ordnung orientiert sind, vor dem Hintergrund einer globalen Perspektive zu reflektieren, ohne dabei die Bedeutung von Nationalstaaten aus dem Blick zu verlieren. Das gilt für die Migrationsforschung und angrenzende Disziplinen. Der seit einigen Jahrzehnten wiederholt hervorgebrachte Hinweis auf die Notwendigkeit einer Überwindung des methodologischen Nationalismus (u. a. Faist, 2020, S. 3–5) lenkt den Blick unter anderem auf Prozesse der Transnationalisierung, der Überwindung von Grenzen und auf die Prozesshaftigkeit von Migration. Weil in diesem Feld besonders deutlich wird, dass globale Machtverhältnisse und Ungleichheiten nicht an nationalstaatlichen Grenzen Halt machen, sondern in die sozialen Ordnungen der Aufnahmeländer, ebenso wie der Herkunftsländer eingeschrieben sind, besteht die Notwendigkeit auch soziologische Theoriebildung und empirische Forschung dahingehend zu reflektieren, wo die Grenzen etablierter Kategorien und Methoden liegen. Dies gilt in besonderer Weise für Forschungen zu den Wirkungsweisen von Grenzregimen und der Regierung (Governance) von Migration, die unter anderem von den Widersprüchlichkeiten von Grenzregimen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Differenzierung geprägt sind: So können ökonomische Erfordernisse im Widerspruch zu geltenden Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen stehen und dazu führen, dass Migrant:innen einen wichtige Wirtschaftsfaktor darstellen, ihr Aufenthalt und die Tätigkeiten, die sie verrichten aber nicht durch das geltende Recht abgesichert sind: Die Einbindung von Migrant:innen als Arbeitskräfte, beispielsweise in die Agrarindustrien Andalusiens (Hellio, 2014) oder im Süden der USA (USDA, 2022), können insofern mit hochgradig prekären aufenthaltsrechtlichen Positionen einhergehen und Formen von Mobilität (z. B. im Zuge von Saisonarbeit) mit sich bringen, die es notwendig machen, das Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen und von Grenzregimen in ihren Beziehungen zueinander explizit einzubeziehen. Dies ist nur ein Argument dafür, dass es sinnvoll ist, das Feld aus einer transnationalen Perspektive und mit Blick auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure zu untersuchen und einen methodologischen Nationalismus möglichst zu vermeiden. Auch der Blick auf die Akteure der Governance von Migration spricht dafür, dass ein methodologischer Nationalismus wesentliche Aspekte unterbelichtet. Internationale und suprastaatliche Akteure wie die EU, aber auch internationale Organisationen wie das UN Flüchtlingshilfswerk UNHCR spielen eine zunehmend wichtige Rolle in der Regierung von Migration. Für die Migrations- und Grenzregimeforschung ist die Erkenntnis, dass es notwendig ist, einen transnationalen Blick zu entwickeln, also in besonderer Weise bedeutsam. Was bedeuten diese Prozesse für die aktuelle Forschung zum Feld und wie spiegeln sich die oben genannten Prozesse in aktuellen Beiträgen aus der Migrations- und Grenzregimeforschung wider? Gelingt es ihnen im Sinne einer global denkenden sozialwissenschaftlichen Forschung, diese Herausforderungen konsequent mit zu denken und zu bearbeiten? Wie adressieren sie das Problem theoretisch und empirisch? Welche neuen Perspektiven ergeben sich dadurch für die Analyse von heutigen Gesellschaften über das Feld Migration hinaus? Diese Fragen werden hier mit Blick auf aktuelle Beiträge aus dem Bereich der Forschung zur Regierung von Migration diskutiert.

Die hier diskutierten Beiträge stammen weitgehend aus dem deutschsprachigen akademischen Raum, widmen sich dem Thema aber aus unterschiedlichen disziplinären, regionalen und theoretischen Blickwinkeln. Dabei finden sich Perspektiven, die auf die strukturelle Ebene des Umgangs mit Migration fokussieren und hier unter anderem das Zusammenspiel sozialer Bewegungen mit staatlichen Akteuren (Rother) oder die Rolle von Parteien (Haag) fokussieren, bis hin zu ethnographischen Rekonstruktionen und Erzählungen alltäglicher Erfahrungen von Migrant:innen, die an den Grenzen der Europäischen Union (Otto, Eule et al.) oder innerhalb vom Lagern und Unterkünften für Geflüchtete mit „Praktiken der (Im-)Mobilisierung“ (Devlin et al.) konfrontiert sind. Neben Studien zum Feld werden zwei Sammelbände (Beier et al., Devlin et al.) besprochen, die das Feld entsprechend breit adressieren und mit Blick auf gemeinsame Anknüpfungspunkte gelesen wurden. Um diese Fülle an disziplinären, theoretischen und methodischen Herangehensweisen sinnvoll gemeinsam diskutieren zu können, soll hier die Frage nach der Überwindung des methodologischen Nationalismus ins Zentrum gestellt werden, wobei es einerseits darum geht zu prüfen, ob dieses Kriterium für die jeweiligen Autor:innen eine Rolle spielt und inwieweit sich dies im theoretischen Rahmen und in den Methoden wiederspiegelt. Auf dieser Basis können weitere Fragen nach der Auseinandersetzung mit dem sich wandelnden Charakter von Migrations- und Grenzregimen thematisiert werden, beispielweise wie unterschiedliche Ebenen (lokal, föderal, national, supranational usw.) adressiert werden und welche Rolle dem Nationalstaat für die Analyse von Migrationsprozessen heute zugeschrieben wird. Gleichzeitig wird bei näherem Blick auf die Bände deutlich, dass die Anlegung eines gemeinsamen Maßstabes vor dem Hintergrund der großen Diversität im Feld auch problematisch ist, weil einzelnen Erkenntnissen nur eingeschränkt Raum gegeben wird.

Das Buch von Tobias G. Eule, Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg und Anna Wyss gehört sicherlich zu den Beiträgen die mit der Überwindung des methodologischen Nationalismus am ambitioniertesten umgehen. Wiederholt greifen die Autor:innen auf eine Kritik am methodologischen Nationalismus zurück bzw. betonen, dass die Studie entsprechend dieses Anliegens eine Perspektive verfolgt, die die Bedingungen des europäischen Migrationsregimes in ihrem konkreten Zusammenspiel mit nationalstaatlichen Praktiken, in den Blick nimmt. Im Forschungsdesign tragen sie dieser Perspektive Rechnung, indem sie im Sinne von „multi-sited ethnography“ unterschiedliche Akteur:innen, darunter Migrant:innen, aber auch Polizist:innen und andere staatliche Akteur:innen einbeziehen. Ausgehend von den Dynamiken von Anerkennungsverfahren untersuchen sie die Art und Weise wie Migrationsrecht angewendet wird (Eule et al., S. 17). Ihre zentrale Erkenntnis, dass das geschriebene Recht, unabhängig von Harmonisierungsbemühungen auf europäischer Ebene, hochgradig fragmentiert ist und sich zudem permanent wandelt, zeichnet ein Bild des europäischen Migrationsregimes als eines, das eine hohe Flexibilität beinhaltet und durch „asymmetrische Aushandlungsräume“ (Eule et al., S. 14) und damit verbundene Machtverhältnisse (Eule et al., S. 12) geprägt ist. Damit einher gehen massive Unsicherheiten sowohl auf Seiten der Migrant:innen, die nicht sicher sein können, ob sie eine Chance auf Anerkennung haben als auch auf Seiten der beteiligten Verwaltungsangestellten, zivilgesellschaftlicher Akteur:innen oder Polizist:innen. Ein Resultat der flexiblen Umgangsweisen mit dem Gesetz, die einerseits aus einer „Implementierungslücke“ (Eule et al., S. 16) aber andererseits aus Widersprüchen zwischen geschriebenem Recht und konkreten Praxen entsteht, besteht darin, dass der Ausgang von Asylverfahren mitunter kaum vorhersehbar ist. Die daraus entstehende Situation der Migrant:innen wird wiederholt anhand von Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ von 1915 illustriert, was das Buch nicht nur fachlich interessant macht, sondern die Problematik immer wieder anschaulich illustriert. So wird wiederholt betont, dass auch der Staat kein monolithischer Block ist, der ein Gesetz implementiert und umsetzt, sondern durch unterschiedliche Akteur:innen geprägt ist, die situativ mit diesen Problemen umgehen, bestimmte Bestimmungen – auch im Sinne von Geflüchteten nicht umsetzen und damit der Unsicherheit Rechnung tragen, neue Chancen eröffnen und die fragile Situation gleichzeitig verstärken. Laura Otto arbeitet ebenfalls mit ethnographischen Methoden zur Untersuchung des europäischen Grenzregimes und stellt dabei Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Akteur:innen des Migrationsregimes in Zentrum. Anders als in der Studie, die zuvor diskutiert wurde, wird hier eine intersektionelle Perspektive eingenommen und schwerpunktmäßig auf den Umgang mit jungen Geflüchteten in Malta fokussiert, wobei insbesondere die Aushandlungen von Alter im Zentrum stehen. Während die Feststellung des Alters einerseits wichtig ist, weil Möglichkeiten vom Rechtsrahmen Gebrauch zu machen, in vielerlei Hinsicht mit der (angenommenen) Volljährigkeit oder dem Status als Kind bzw. Jugendliche:r in Verbindung stehen, sind damit verbundene Praxen oft fragwürdig. Die Aushandlung des Alters der jungen Geflüchteten und die Beziehungen zwischen ihnen und den Personen, die sie betreuen und verwalten ist damit einerseits zentral und andererseits als permanenter „Prozess der Klassifizierung und Vulnerabilisierung“ (Otto, S. 22) zu begreifen, der nicht zuletzt zur Folge hat, dass die Geflüchteten situativ unterschiedlich behandelt werden und „entweder als unmündiges und/oder hilfloses Opfer“ erscheinen oder als „reife und (potenziell) gewalttätige Asylmissbrauchstäter:innen gesehen“ (Otto, S. 23–24) werden. Otto betont in ihrem Band die Relevanz einer transnationalen Perspektive und begründet das damit, dass die hier ausgetragenen Konflikte und Aushandlungsprozesse immer im Spannungsfeld von Regularien auf EU-Ebene und lokalen Umsetzungen sowie zwischen Akteur:innen mit Fluchterfahrung und solchen, die selbst nicht geflüchtet sind, stattfinden. Vor diesem Hintergrund orientiert sie ihre Forschung nicht rein an nationalstaatlichen Dynamiken und Vorgaben, sondern verortet sie in diesem Aushandlungsraum als einem transnationalen sozialen Raum (Otto, S. 50, s. a. Levitt & Schiller, 2004). Auch im Sammelband von Devlin, Evers und Goebel spielen Aushandlungsprozesse um den Zugang zu Rechten und gesellschaftlicher Teilhabe eine Rolle. Die Aufsätze untersuchen die Unterbringung von Geflüchteten als „Praktiken der (Im-)Mobilisierung“ und blicken dabei auf ganz unterschiedliche regionale Kontexte, beginnend bei den Ankerzentren, die die bayerische Landesregierung vor einigen Jahren eingerichtet hat und die offenbar eine der Motivationen für die Auseinandersetzung mit dem Thema geliefert haben (Devlin, Evers & Goebel in Devlin et al., S. 10–11) bis hin zu Auseinandersetzungen mit den Lagern auf Lesbos, der Immobilisierung von ehemaligen Nomad:innen durch das Leben in Lagern in Somalia (Aden & Aden in Devlin et al., S. 183–200) oder Menschen, die aus Venezuela nach Kolumbien geflüchtet sind (Löffler in Devlin et al., S. 345–366). Der Sammelband macht gerade durch diese Bandbreite deutlich, dass bestimmte Tendenzen, insbesondere der Entzug der Mobilität, ein wesentlicher Aspekt der Erfahrungen von Migrant:innen heute darstellt. Transnational ist die Perspektive insbesondere durch diese Erkenntnis, die unterschiedliche migrantische Lebenswelten nebeneinander zeigt und deutlich macht, dass Prozesse der Klassifikation, Immobilisierung und der Kategorisierung als vulnerable Bevölkerungsgruppe, die es zu regulieren gilt, Migrant:innen permanent begleiten.

Anders als die bisher besprochenen Beiträge, die wesentlich auf die Erfahrungen von Migrant:innen Bezug nehmen und diese in ihren Beziehungen zu den strukturellen Rahmenbedingungen in den Blick nehmen, steht in den Studien von Rother, Haag und dem Sammelband von Beier, Messner und Preuß die Regierung von Migration im Zentrum der Untersuchung. Stefan Rother legt mit “Global Migration Governance from Below. Actors, Spaces, Discourses“ eine Studie vor, deren Ziel darin besteht eine „bottom-up perspective on global migration governance“ (Rother, S. 1) zu liefern. Die Überwindung des methodologischen Nationalismus wird ausdrücklich als Ziel formuliert (Rother, S. 8–14) und in der Diskussion dieser Frage werden auch Machtverhältnisse, die sich beispielsweise in der Hierarchisierung von Migrant:innengruppen artikulieren, kritisch thematisiert. Die Begründung einer globalen Perspektive auf Migration liegt für Rother unter anderem darin, dass auch Migrant:innen sich zunehmend transnational organisieren, um für Rechte zu kämpfen, weil nationale Regierungen ihren Anliegen nur bedingt Rechnung tragen. Ebenso attestiert er den Forschungen im Feld eine Tendenz die Perspektive der Migrant:innen zu wenig einzubeziehen und nimmt entsprechend die Verhältnisse von migrantischen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu internationalen Organisationen in den Blick, wobei Nationalstaaten nach wie vor eine prägende Rolle spielen (S. 11–12, 23–24). Methodisch stützt sich der Autor wesentlich auf teilnehmende Beobachtungen, im Rahmen internationaler Treffen u. a. auf Ebene der Vereinten Nationen und der World Trade Organisation. Sein Blick richtet sich auf die Aktivitäten migrantischer zivilgesellschaftlicher Organisationen und ihrer Teilhabemöglichkeiten, insbesondere auf die Entstehung neuer politischer Räume für migrantische Organisationen durch die Thematisierung im Rahmen der UN-Diskurse (u. a. Rother, S. 17–42). Dabei werden nicht zuletzt die langwierigen und mühevollen Aushandlungen betont, die für diese Prozesse charakteristisch sind (Rother, S. 119), gleichwohl wirft das Buch einen genaueren Blick auf die Agency von Migrant:innen, die – wie die Studien, die zuvor zitiert wurden wiederholt betont haben – vor dem Hintergrund einer Vulnerabilisierung, gerade von irregulärer von Migration oftmals aus dem Blick geraten. Eine Perspektive, die ebenfalls stärker auf der Makroebene angesiedelt ist, findet sich in der Studie von Amelie Haag, die sich anhand der Anerkennungspraxen ausländischer Bildungsabschlüsse vor dem Hintergrund politischer Debatten der vergangenen Jahre und eines sich wandelnden Rechtsrahmens mit dem bundesdeutschen Migrationsregime auseinandersetzt. Aufgrund ihrer Fokussierung auf den bundesdeutschen Kontext handelt es sich sicherlich um die Studie, die am wenigsten darauf ausgelegt ist, methodologischen Nationalismus kritisch zu thematisieren oder gar zu überwinden. In der Auseinandersetzung mit der Entstehung und Implementierung des Anerkennungsgesetzes, den beteiligten Akteur:innen aus Parteien und öffentlichen Diskursen und damit verbundenen Narrativen, wie dem „Gespenst des ‚Taxi fahrenden Arztes‘“ (Haag, S. 88–89) wird der Schwerpunkt eindeutig auf Debatten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gelegt. Trotzdem enthält die Studie Impulse die auch einer transnationalen Perspektive auf das Feld dienlich sein können, z. B. wenn die Autorin auf eine Externalisierung von Grenzen und Grenzkontrollen hinweist (Haag, S. 24), die auch die Anerkennungspraxen von ausländischen Berufs- und Bildungsabschlüssen betrifft und die den Umgang mit Migration in der EU seit einigen Jahrzehnten zunehmend prägt. Auch die Diskussion der Beziehungen zwischen politischem System und Migrationsregime (Haag, S. 25–33) eröffnen Perspektiven, die einer stärker transnationalen Perspektivierung der hier diskutierten Fragen dienlich sein können, die von der Autorin selbst aber nur als theoretischer Rahmen genutzt werden. Der Sammelband von Beier, Messner und Preuss zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er sich praxisorientierter präsentiert, als die zuvor diskutierten Studien. So betonen die Herausgeber, die selbst an der Schnittstelle zwischen internationaler Zusammenarbeit und Wissenschaft arbeiten, wie umstritten sowohl der Umgang mit Migration selbst, als auch mit der Einbindung von Migrant:innen in den Aufnahmeländern ist und kritisieren allzu kurzfristige politische Lösungsstrategien, die vor dem Hintergrund vergangener und zukünftiger Migrationsbewegungen nicht greifen würden (Beier et al. in Beier et al., S. 2–5). Die Beiträge des Bandes beschreiben entsprechend Fragen der Governance von Migration, wobei sie, anders als das in dem oben vorgestellten Band von Rother der Fall ist, die Migrant:innen oder migrantische Organisationen selbst vergleichsweise wenig zu Wort kommen lassen. Die Diskussionen um Herausforderungen und Potenziale von Migrationspolitik stützen sich weitgehend auf quantitative Studien und bieten damit einen Überblick über Dynamiken und Tendenzen. Problematisch erscheint stellenweise die Ableitung konkreter Handlungsoptionen aus diesen Daten und damit in Verbindung stehenden ökonomisch orientierten Theorien. So wird der Fokus auf Flucht einerseits wiederholt deutlich gemacht, in der Diskussion um die Ursachen von Migration z. B. in dem Artikel von Benček et al. (in Beier et al., S. 43–62) aber vor allem auf Einkommensunterschiede als Grundlage für Migrationsentscheidungen verwiesen. Zudem scheinen einige Beiträge für die Erklärung und die Vorschläge für Handlungsoptionen nur eine sehr allgemeine Datengrundlage zu besitzen. Wenn de la Chaux in einem durchaus interessanten Beitrag die wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb von Flüchtlingslagern im Globalen Süden untersucht, wird aus der Literatur zu wirtschaftlichen Aktivitäten im Globalen Süden generell argumentiert und die Besonderheit der Lagersituation nicht gesondert thematisiert. Der starke Fokus auf Wirtschaft und Wirtschaftspolitik (z. B. Benček et al. in Beier et al., S. 54) zeichnet dieses Buch aus und würde im Prinzip für eine Stärkung der transnationalen Perspektive sprechen, die aber nur in Ansätzen erkennbar ist. Interessant sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Beiträge, die konkrete Programme u. a. aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in den Blick nehmen und ihre Implementation diskutieren (u. a. sowie die Perspektive von Praktiker:innen im Feld Außenpolitik (u. a. der Beitrag von Jetzlsperger).

Schlussbemerkung

Selbstkritisch muss angemerkt werden, dass es im Rahmen einer Sammelrezension kaum möglich ist, der Vielfalt von Ansätzen im Rahmen von Migrationsforschung vollständig Rechnung zu tragen. Die Fokussierung auf die Regierung von Migration wurde auch deshalb vorgenommen und hat zur Folge, dass andere Aspekte im Feld hier notwendigerweise unterbelichtet bleiben. Auch die Studien selbst können nur in den engen Grenzen einer Sammelbesprechung thematisiert werden. In der Lektüre der diskutierten Beiträge ist allerdings deutlich geworden, dass die in der Migrationsforschung bereits seit einigen Jahren wiederholte Aufforderung einer Überwindung des methodologischen Nationalismus nicht nur Anklang gefunden hat, sondern dass es mittlerweile zahlreiche Ansätze gibt, sie methodisch und theoretisch zu adressieren, um damit aktuelle Herausforderungen einer Auseinandersetzung mit dem Themenfeld begegnen zu können. Auch wenn die Sensibilität für die Verknüpfungen von lokalen Praxen, hin zu nationalen und globalen Strukturen sicherlich unterschiedlich ausgeprägt ist, bemühen sich viele der hier besprochenen Bände Strategien zu erarbeiten, die der Komplexität von Migrationsprozessen heute gerecht werden.

Literatur

Faist, T. (2020). Soziologie der Migration. Eine systematische Einführung. DeGruyter.10.1515/9783110680638Suche in Google Scholar

Hellio, E. (2014). We don't have women in boxes: Channelling seasonal mobility of female farmworkers between Morocco and Andalusia. In: J. Gertel & S. R. Sippel (Hrsg.), Seasonal Workers in Mediterranean Agriculture. The Social Cost of Eating Fresh. Routledge.Suche in Google Scholar

Levitt, P. & Schiller, N. G. (2004). "Conceptualizing Simultaneity: A transnational social field perspective on society." International Migration Review 38: 595–629.10.1111/j.1747-7379.2004.tb00227.xSuche in Google Scholar

USDA. (2022). Legal status and migration practices. https://www.ers.usda.gov/topics/farm-economy/farm-labor/#legalstatus (Letzter Abruf: 4.5.2023)Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2023-10-20
Erschienen im Druck: 2023-10-31

© 2023 Catharina Peeck-Ho, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Der Dritte und die Leerstelle, die keine ist
  6. Dritte, mikrosoziologisch
  7. Eins, zwei oder drei – benötigt die soziologische Theorie einen Paradigmenwechsel?
  8. Essay
  9. „Der Geschichtsphilosophie entkommt man nicht.“ Ein Nano-Essay zur Soziologie vor der Geschichte
  10. Sammelbesprechungen
  11. Kunstsoziologie von den Beaux-Arts bis zur Pop- und Rockmusik
  12. Wider den methodologischen Nationalismus in der Migrationsforschung?
  13. Doppelbesprechung
  14. Neue Studien zur Kritischen Theorie
  15. Einzelbesprechung Arbeit
  16. Jule Elena Westerheide, Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit: Arbeit und Entgelt von Sekretärinnen. Frankfurt/New York: Campus 2021, 413 S., br., 39,95 €
  17. Einzelbesprechung Asyl
  18. Christian Lahusen / Karin Schittenhelm / Stephanie Schneider, Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln: Zur Behördenpraxis in Deutschland und Schweden. Bielefeld: transcript 2022, 334 S., kt., 30,00 €
  19. Einzelbesprechung Gabe
  20. Alain Caillé, Das Paradigma der Gabe: Eine sozialtheoretische Ausweitung. Bielefeld: transcript 2022, 320 S., kt., 29,50 €
  21. Einzelbesprechung Geschlecht
  22. Stefanie Aunkofer, Väter in Elternzeit: (Nicht-)Anerkennung von Familien- und Erwerbsarbeit bei Paaren. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2022, 359 S., kt., 50,00 €
  23. Einzelbesprechung Hinterhältigkeit
  24. Peter Imbusch (Hrsg.), Soziologie der Hinterhältigkeit. Weinheim: Beltz Juventa 2021, 364 S., kt., 29,95 €
  25. Einzelbesprechung Individualisierung
  26. Michael Röhrig / Thomas Kron / Yvonne Nehl / Felix Naglik (Hrsg.), Individualisierung und Schule. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022, 204 S., kt., 26,00 €
  27. Einzelbesprechung Mobilität
  28. Katharina Manderscheid, Soziologie der Mobilität. Bielefeld: transcript 2022, 250 S., kt., 22,00 €
  29. Einzelbesprechung Nachhaltigkeit
  30. Julia Zilles / Emily Drewing / Julia Janik (Hrsg.), Umkämpfte Zukunft: Zum Verhältnis von Nachhaltigkeit, Demokratie und Konflikt. Bielefeld: transcript 2022, 432 S., kt., 39,00 €
  31. Einzelbesprechung Nationalsozialismus
  32. Paul Windolf / Christian Marx, Die braune Wirtschaftselite: Unternehmer und Manager in der NSDAP. Frankfurt am Main: Campus 2022, 457 S., br., 39,00 €
  33. Einzelbesprechung Privatheit
  34. Carsten Ochs, Soziologie der Privatheit. Informationelle Teilhabebeschränkung vom Reputation Management bis zum Recht auf Unberechenbarkeit. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022, 560 S., br., 59,90 €
  35. Einzelbesprechung Theoriegeschichte
  36. Heike Delitz (Hrsg.), Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Wiesbaden: Springer VS 2022, 523 S., ebook, 34,99 €
  37. Nachruf
  38. Die Farben der Soziologie
  39. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2023
  40. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 15.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2053/html
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