Neue Studien zur Kritischen Theorie
Rezensierte Publikationen:
Arno Münster, Der junge Horkheimer: Ein Essay zum 50. Todestag des Begründers der Frankfurter Schule. Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2023, 181 S., kt., 39,00 €
Christian Voller, In der Dämmerung: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie. Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2022, 414 S., gb., 32,00 €
Die Kritische Theorie bleibt offenbar ein unausschöpflicher Quell. Kaum noch zu übersehen ist ihre Sekundärliteratur, der nun zwei neuere Publikationen, diesmal über ihre Vor- und Frühgeschichte, hinzugefügt wurden. Die Autoren gehören recht unterschiedlichen Jahrgängen an und kommen aus verschiedenartigen Wissenschaftskontexten. Arno Münster (Jg. 1942) war bis zu seiner Emeritierung Professor für Sozialphilosophie und Philosophiegeschichte an der französischen Universität in Amiens. Seine Biographie von Ernst Bloch (Münster, 2004) wurde in mehrere Fremdsprachen übersetzt. Christian Voller (Jg. 1980) ist Kulturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leuphana Universität Lüneburg.
In beiden Publikationen geht es um die Genealogie und Rekonstruktion von gedanklichen Kompilationen, aus welchen die als Kritische Theorie bekannte Theoriegestalt hervorging. Doch wird in beiden Werken diese Rekonstruktion gewisserma0en auf einer Mikro- und Makroebene abgehandelt. Münster unternimmt dies an der für die Entwicklung der Frankfurter Sozialphilosophie bestimmenden Zentralfigur Max Horkheimer, während Vollers Arbeit sich der Konstellation der zahlreichen Theoretiker:innen des und um den Horkheimer-Kreis widmet. Beide sehen in der gescheiterten Revolution des Westens das Ursprungsmotiv für die Genealogie der Kritischen Theorie.
Horkheimers Frühwerk „Dämmerung. Notizen in Deutschland“ nimmt bei Münster einen zentralen Stellenwert ein, bei Voller erscheint es nur als (Titel-)Metapher für die „in der Dämmerung der 1920-Jahre“ (Voller, S, 10) sich konstituierende Kritische Theorie. In Vollers Literaturverzeichnis taucht die Horkheimersche Schrift selbst nicht auf. Max Horkheimer hat die Aphorismensammlung unter dem Pseudonym Heinrich Regius 1934 im Schweizer Exil im Verlag Oprecht & Helbling in Zürich veröffentlicht; entstanden sind die Notizen – wie Horkheimer in der Vorbemerkung feststellt – in den Jahren 1926–1931.
Arno Münster hat zum 50 Todestag Horkheimers eine lockere Essaysammlung zusammengestellt, die Horkheimers Schriften aus der Periode von 1926 bis 1945 umfasst, wobei er auf die frühe Frankfurter Zeit mit der berühmten Antrittsrede als Institutsdirektor nur kurz eingeht. Münster rekonstruiert für diese Zeitspanne Horkheimers „philosophisch-soziologisch-psychologisches Frühwerk [...], das eindeutig von einem ‚heterodoxen‘ Marxismus geprägt ist“ (Münster, S. 171). Vieles von dem ist bekannt, liest sich aber im Lichte der in seine Darstellung miteinbezogenen intensiven Auswertung der „„Dämmerung“ und, als zweites Frühwerk, die „Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie“, nicht als redundanter Text.
Die „Dämmerung“, die Münster in seinem längsten Essay von fast 30 Seiten referiert und kommentiert, ist für ihn „zweifelsohne der mit Abstand beste und typischste Beleg für die noch marxistische Orientierung des jungen Frankfurter Sozialphilosophen“ (Münster, S. 35). Das Werk sei „in der Tat nichts anderes als der in Aphorismen geschriebene Essay eines non-konformistischen Widerständlers gegen die Ideologie des Bürgertums“ (Münster, S. 36). Durch Inhalt, Form und Präsentation unterscheide sich das Werk von traditionell akademischen Publikationen und sei eher dem literarischen Genre zuzurechnen. In der aphoristischen Form sei ein „gewisser Einfluss Nietzsches unverkennbar“ (Münster, S. 37).
Nicht durch Abweichung vom orthodoxen zeichnet sich der heterodoxe Marxismus Horkheimers aus, sondern durch Erweiterung und Ergänzung von Erkenntnissen der zeitgenössischen Sozialpsychologie, der Anthropologie und Psychoanalyse.
Münsters Referat der „Dämmerung“ beginnt mit der Feststellung, dass Horkheimer in der Periode der Massenarmut, der ständigen Wirtschaftskrisen und der politischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen seinen desillusionären Blick auf das deutsche Proletariat richtet. In einem der längsten Aphorismen, „Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse“, verweise Horkheimer auf die „tiefe Spaltung der deutschen Arbeiterklasse“ zwischen „Reformismus der Sozialdemokratie“ und „stalinistischem Sektierertum der Kommunisten“ (Münster, S. 39). Obwohl Horkheimer die Notizen 1926–1931 verfasste, spreche aus ihnen eine „dunkle Vorahnung“, dass der Kapitalismus, „weil die Kräfte, die auf eine Überwindung und auf eine soziale Revolution hinarbeiten, organisatorisch und politisch zu schwach sind, eher zum Faschismus tendiert“ (Münster, S. 43). Der Aphorismus schließt mit dem Satz: „In beiden Parteien existiert ein Teil der Kräfte, von denen die Zukunft der Menschheit abhängt“ (Horkheimer, 1934, S. 130). Doch, wie Münster unter Verweis auf den Aphorismus „Grenzen der Freiheit“ hervorhebt, ist die konditionierte „psychische Disposition der Massen“ zum wichtigen Bestandteil des Machtapparats der herrschenden Klasse geworden, die über die Unberührbarkeit der fetischisierten Begriffe „Volk und Kirche“ mit stärksten Sanktionen wacht.
Obwohl er den linken Parteien und Gewerkschaften nahesteht, verschont Horkheimer sie nicht mit seiner Kritik. So schreibt er dem gewerkschaftlichen Einfluss die Stärkung des reformistischen Flügels der Sozialdemokratie zu, wodurch „die sozialrevolutionären Kräfte immer mehr an den Rand gedrängt wurden“ (Münster, S. 48). Die rechte SPD-Führung trage auch eine Mitschuld an der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch die herbeigerufenen Freikorps.
Horkheimers Sozialismusbegriff ist in der „Dämmerung“ noch stark verknüpft mit der Fortschrittsidee, ja, er teilt den „weitverbreiteten Fortschrittsoptimismus der Sozialdemokratie“ (Münster, S. 56). Er verbindet ihn nicht nur mit einem „verbesserten Leben der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit“ (Münster, S. 50) für die ausgebeutete und entfremdende arbeitende Klasse, sondern auch mit der Erwartung einer „klassenlosen Planwirtschaft“ (Münster, S. 50). Mit dieser Vorstellung stand er Ernst Blochs Hoffnungs-Utopie nahe, unterschied sich aber markant von Walter Benjamins historischem Pessimismus, den dieser in den „Geschichtsphilosophischen Thesen“ zum Ausdruck brachte. Darin setzte Benjamin den technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt mit drohender Katastrophe gleich. Erst in den vierziger Jahren wird Horkheimer „unter dem wachsenden Einfluss von Walter Benjamin, Adorno und Marcuse“ (Münster, S. 52) zu einer pessimistischeren Sicht auf den Fortschritt gelangen. Gleichwohl bleiben schon die frühen Aussagen über die Voraussetzungen einer gesellschaftlichen Umwälzung von tiefer Skepsis tingiert. Münster beschließt seine Auswertung der „Dämmerung“ mit dem Eindruck, „als ob auch irgendwie der Schatten Schopenhauers bereits über diesen von Skepsis geprägten Passagen schwebe“ (Münster, S. 62).
In einem nachfolgenden Essay referiert Münster die zweite frühe Publikation Horkheimers, die in der Rezeptionsgeschichte der Kritischen Theorie ebenfalls eher randständigen Charakter einnimmt: „Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie“ (erschienen 1930 bei Kohlhammer, Stuttgart). Horkheimer bezeichnete die Schrift „als zur Selbstverständigung niedergelegte Studien“ (Horkheimer 1930, S. 5). Von den darin analysierten Werken der Autoren Machiavelli, Hobbes und Vico konzentriert sich Münsters Referat auf Machiavellis psychologische Geschichtsauffassung. Mit den beiden von Horkheimer ebenfalls herangezogenen Utopisten Morus und Campanella befasst er sich in einem späteren Essay. Münster zufolge unterzieht Horkheimer die beiden Hauptwerke Machiavellis – Il Princpe (Der Fürst) und Discorsi – einer gründlichen Analyse unter der Frage, „wie man Herrschaft erwirbt und wie man sie aufrechterhält“ (Münster, S. 76). Zudem zeichneten sich Machiavellis Werke auch dadurch aus, dass die „die Emanzipationsbewegung der bürgerlichen Gesellschaft von den Fesseln des Feudalsystems“ (Münster, S. 76) und die „Klassenkämpfe seiner Zeit“ (Münster, S. 77) beschrieben.
Weitere Kapitel des Münsterschen Buches sind der Darstellung und Analyse von bekannteren Arbeiten Horkheimers gewidmet: den Aufsätzen über „traditionelle und kritische Theorie“, „Autorität und Familie“ und den „Autoritären Staat“.
Insgesamt gesehen kann Münster mit seiner Publikation zwar der Früh- und Formationsgeschichte der Kritischen Theorie einige neue Facetten hinzufügen, ohne jedoch einen neuen Blick auf Horkheimers Werk und seine Rolle für die als Frankfurter Schule kanonisch gewordene Sozialphilosophie zu werfen.
Hingegen geling es Christian Voller mit seiner aus einer Dissertation hervorgegangenen Publikation der Frühgeschichte der Kritischen Theorie neue Erkenntnisse zu erschließen. Er rekonstruiert den Ursprung der Kritischen Theorie aus zwei verschiedenen Quellen: einerseits aus dem dissidenten Rätekommunismus der 1920er Jahre, andererseits aus dem „Synkretismus“ des Heidelberger Milieus nach dem Ersten Weltkrieg. Letztere erweist sich als Vollers originäre Forschungsleistung.
Sein „übergreifendes Thema“ ist die „Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie“ vor ihrer Kanonisierung (Voller, S. 11) unter dem Gesichtspunkt „der ausgebliebenen, gescheiterten oder entstellten sozialen Revolution“ (S. 9).
Im ersten Teil werden im kritischen Anschluss an Marx und Engels jene Begriffe und Kategorien des historischen Materialismus – „Totalität der Gesellschaft, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Krise, Warenform, Tauschvermittlung etc.“ (Voller, S. 16) – herauspräpariert, die in intensiven Debatten „endlich die Form annehmen, die sie zu Grundkategorien der Kritischen Theorie“ machten (Voller, S. 16). Zu diesen Debatten haben „viele Autoren und Autorinnen“ beigetragen, die „nie am Institut beschäftigt gewesen [waren]“ (Voller, S. 14).
Den obligatorischen Anforderungen von Qualitätsarbeiten wie Dissertationen mag es zuzuschreiben sein, dass Voller im Eingangskapitel auf gut 30 Seiten den Inhalt der „Deutschen Ideologie“ von Marx und Engels noch einmal ausbreitet. Auch Marxens Hauptwerk, „Das Kapital“, wird mit seinen werttheoretischen Kategorien ausführlich referiert und auf die von Marx als quasi-naturgesetzliche Tendenz einer Zusammenbruchskrise zugespitzt.
Den Bruch in der von der materialistischen Theorie erwarteten revolutionären Umwälzung durch den Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen stellte die sich herausbildende Tendenz der Entwicklung von Produktiv- zu Destruktivkräften dar, die „die vernünftige Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse endgültig verunmöglicht“ (Voller, S. 73).
Hier setzt für Voller Karl Korschs Neulektüre von Marx mit seinem Werk „Marxismus und Philosophie“ (1923) an, welches gleichsam die Ausgangsbasis für Vollers Analyse des rätekommunistischen Einflusses auf die entstehende Kritische Theorie darstellt. Er zählt Korsch „in einem weiter gefassten Sinn zu den Rätekommunisten“ (Voller, S. 127). Dem zufolge kritisierte Korsch die Vorstellung eines „wissenschaftlichen“ und auf die objektive Entwicklung vertrauenden Charakter des Sozialismus, stattdessen rekonstruierte er die „Einheit von erkennendem Bewusstsein und verändernder Praxis“, die den „historischen Materialismus als revolutionäre Dialektik“ auszeichne (Voller, S. 128). In der bisherigen Rezeptionsgeschichte der Kritischen Theorie ist dem linksradikalen Einfluss kaum Bedeutung beigemessen worden, von vereinzelten Arbeiten einmal abgesehen (Baum, 2018). Voller steht nicht an, Korschs Werk als „wichtigen Referenzpunkt“ „nicht nur für das Frankfurter Institut für Sozialforschung, sondern generell für die Kritische Theorie“ (Voller, S. 141) zu werten. Er stellt es in seiner Relevanz neben Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“. In jenen Jahren bestimmten die „korrespondierenden Beiträge der beiden Theoretiker [...] die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus im Feld des undogmatischen Marxismus“ (Voller, S. 139). Beide standen für einen „dissidenten Kommunismus“, der „eine besondere Anziehungskraft auf junge Intellektuelle [...] und auch auf die späteren Vertreter der Kritischen Theorie [ausübte]“ (Voller, S. 140). Wie sehr Horkheimer Korsch schätzte, zeigte die zunächst vorgesehene Kollaboration mit ihm an seinem geplanten „Dialektik“-Buch (Korsch, 2001, S. 665, 667 u. 683).[1] In das Projekt wurden auch Marcuse und Adorno einbezogen; realisiert wurde es schließlich durch Horkheimer und Adorno mit der „Dialektik der Aufklärung“.
Als einen wesentlichen Charakterzug der Kritischen Theorie bezeichnet Voller die „Zusammenführung ökonomisch-politischer Traditionslinien aus dem marxistischen Diskurs der 1920er-Jahren mit einer (materialistischen) Kulturtheorie“ (Voller, S. 153). Beiden Strängen lassen sich als Instituts-Vertreter zuordnen: Pollock, Henryk Großmann und Franz Neumann dem ökonomisch-politischen (Voller, S. 150), Löwenthal, Fromm, Marcuse, Adorno dem kulturtheoretischen (Voller, S. 153).
Im zweiten Teil seines Buches befasst sich Voller mit dem „Heidelberger Synkretismus“. Als ein Kristallisationspunkt erwies sich das „von Max Weber begründete und dann von Emil Lederer und Alfred Weber geleitete Institut für Staats- und Sozialwissenschaften“ (Voller, S. 156). Hier traf sich eine „freischwebende Intelligenz“ (Löwenthal) und bildete ein informelles Netzwerk mit Löwenthal, Alfred Seidel und Sohn-Rethel als Nukleus und mit Benjamin und Fromm im weiteren Umfeld; zudem war noch der Einfluss von Bloch und Lukács spürbar, die „in Kriegszeiten in Heidelberg studiert hatten und dort auch während der 1920er-Jahren noch verkehrten“ (Voller, S. 156). Damit erbringt Voller den Nachweis, dass die Kritische Theorie in ihrer Entstehungsphase sich nicht allein aus marxistischem Quellen speiste, sondern auch aus kulturtheoretischen Elementen unterschiedlicher Herkunft. Die jungen Männer des Heidelberger Milieus, meist jüdischer Herkunft, hatten als gemeinsamen Gegner den Neukantianismus. Ihre teils chaotischen Diskussionen drehten sich um das „erkenntnistheoretische Problem der Unverfügbarkeit einer metaphysischen Totalität, über die sich die Zusammengehörigkeit der Dinge erfahren und erkennen ließe“ (Voller, S. 231).
Das Zusammenfließen der zwei von Voller herausgearbeiteten diskursiven Strömungen zum Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft sanktionierte Horkheimer organisatorisch „durch wegweisende Personalentscheidung [...], (i)ndem er Pollock als Geschäftsführer des Instituts und Löwenthal als Redaktionsleiter des ihm zugehörigen Publikationsorgans einsetzte“ (Voller, S. 232).
In einem letzten Teil mit dem Titel „Latenzzeit. Drei Studien zu Marx“ wendet sich Voller dem Verhältnis von Marxismus und Philosophie im Heidelberger Kreis zu und exemplifiziert dies am Beispiel dreier „Einflussfiguren für Benjamin und Adorno“ (Voller, S. 237): Alfred Seidel, Georg Lukács und Alfred Sohn-Rethel. Die akribisch recherchierten Detailstudien stehen für die Aneignung der Marxschen Theorie angesichts der Krise der Philosophie im spezifischen Heidelberger Milieu und dokumentieren die davon ausgehenden Impulse für die Kritische Theorie.
In seiner Dissertation „Produktivität und Klassenkampf“ entwickelte Seidel eine „Metaphysik der Produktivkräfte“. Lange nach Seidels Tod berief sich Adorno noch in einer Vorlesung 1965 auf diese Arbeit seines „verstorbenen Jugendfreundes“ (Voller, S. 248). Wie Korsch versuchte Seidel „das Ganze des historischen Materialismus wieder zur Geltung zu bringen“ (Voller, S. 239). So verstand er „Basis und Überbau“ als Momente eines „dialektischen“ Verhältnisses und führte „die Entfaltung der Produktivkräfte (objektiv) und der Klassenkämpfe (subjektiv) [...] als die beiden historisch treibenden Momente“ (Voller, S. 239) wieder zusammen.
Georg Lukács hatte bereits mit seinen vormarxistischen Frühschriften – „Die Seele und die Formen“ (1911) und „Theorie des Romans“ (1916) – Benjamin und Adorno tief beeindruckt. Vollends die in seinem umfangreichen Essay „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“ (1923) entfaltete „Universalkategorie“ der Verdinglichung wurde „von Sohn-Rethel, Löwenthal, Benjamin, Adorno, Horkheimer und anderen Vertretern der Kritischen Theorie aufgegriffen und auf je eigene Weise weiterentwickelt“ (Voller, S, 278). Dass das Proletariat die sich objektiv bietende Möglichkeit der Weltrevolution nicht ergriff, erklärt er mit der Stellung des Arbeiters im kapitalistischen Produktionsprozess, wo er nicht als dessen eigentlicher Träger fungiert, sondern „als mechanisierter Teil in ein mechanisches System eingefügt“ wird (Voller, S. 281). Aus dem „objektiven Prozess der industriellen Warenproduktion“ folgert Lukács eine Durchformung der „subjektiven Struktur des Bewusstseins“ die er als „Verdinglichung sowohl der Inhalte als auch der Form des proletarischen Bewusstseins“ (Voller, 285) kennzeichnet und zur Erklärung heranzieht, warum „das Proletariat die ihm von der marxistischen Theorie zugedachte Aufgabe bislang nicht zu erfüllen vermochte“ (Voller, S. 287).
Alfred Sohn-Rethel schließlich hat mit seiner materialistischen Wende der Erkenntniskritik, die in der Idee bestand, einen „kausalen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Warentausch und den Verstandeskategorien [zu konstruieren]“ (Voller, S. 320), Benjamin und vornehmlich Adorno nachhaltig beeindruckt. Die von Sohn-Rethel herausgearbeitete „Identität von Warenform und Denkform“ empfand Adorno als „die größte geistige Erschütterung“ (Voller, S. 339), die er seit Benjamins Arbeit erfahren habe. Sie machte ihn „zu einem entschlossenen Fürsprecher Sohn-Rethels [...], der das Anliegen seines Freundes mit einiger Vehemenz gegenüber Pollok und Horkheimer vertrat“ (Voller, S. 333). Horkheimer hingegen wusste mit den „heidelbergisch verfehlten“ Gedankengängen Sohn-Rethels wenig anzufangen und beließ es bei unregelmäßigen Zahlungen an den materiell Bedürftigen, der zur Ausarbeitung seiner „genialen Intuition“ (Adorno an Horkheimer) auf eine regelmäßige Unterstützung durch das Institut gehofft hatte. Nachdem er als Emigrant in England gelandet war, traf er sich mehrmals mit Adorno 1937 in Oxford. Zeitgleich entspann sich „ein philosophisch dichter Briefverkehr“ zwischen ihm und Adorno und Benjamin, der „weit darüber hinaus in der Entwicklung der Kritischen Theorie fort[wirkte]“. Noch einmal verwies Adorno 1966 in seiner „Negativen Dialektik“ auf den originären Beitrag seines frühen Freundes, mit dem er auf einer gemeinsamen Ferienreise mit Kracauer 1926 in Neapel erstmals persönlich zusammengetroffen war (Mittelmeier 2013, S. 22–25).
Zieht man abschließend ein Resümee über den Ertrag der beiden rezensierten Bücher, dann dieses: Ihr gemeinsames Thema ist die Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie. Gleichwohl gehören sie sehr verschiedenen Genres an. Münsters Essay konzentriert sich auf die intellektuelle Entwicklung der Schüsselperson der Kritischen Theorie, Max Horkheimer, der es verstand, theoretische Stränge zu einem innovativen Theoriespektrum und non-konformistische Wissenschaftler zu einer produktiven arbeitsteiligen Gemeinschaft zusammenzuführen. Vollers multiperspektivische Recherche entfaltet eine Art Spektralanalyse der vielfältigen theoretischen Strömungen der 1920er-Jahre, die die Kritische Theorie speisten; im Vergleich zu Adorno und Benjamin tritt Horkheimer dabei eher in den Hintergrund. Entsprechend verteilt sich der Gewinn aus beiden Publikationen. Münster vertieft noch einmal in kompakter Weise wesentlich Bekanntes über Horkheimer, Voller reißt hingegen einen neuen Horizont auf mit markanten und bislang weniger bekannten Einflüssen auf die Formationsphase der Kritischen Theorie.
Literatur
Baum, F. (2018). The Frankfurt School and Council Communism. In: B. Best, W. Bonefeldt & C. O’Kane (Hrsg.). The SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory.Volume 3 (S. 1160–1178). Sage.10.4135/9781526436122.n70Search in Google Scholar
Horkheimer, M. (1930). Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Kohlhammer.Search in Google Scholar
Horkheimer, M. (1934). Dämmerung. Notizen in Deutschland. Oprecht & Helbling.Search in Google Scholar
Korsch, K. (2001). Briefe 1908–1939. Hrsg. M. Buckmiller, M. Prat & M. G. Werner. Offizin.Search in Google Scholar
Mittelmeier, M. (2013). Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt. Siedler.Search in Google Scholar
Münster, A. (2004). Ernst Bloch – eine politische Biographie. Philo Verlag.Search in Google Scholar
© 2023 Walther Müller-Jentsch, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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