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Imagination und Entscheidung

Zur Kritik am aktuellen Boom an politischen Theorien der Einbildungskraft1
  • Oliver Marchart

    Oliver Marchart ist Univ.-Professor für Politische Theorie an der Universität Wien und PI des ERC Advanced Grant Projekts Prefiguring Democratic Futures. Cultural and Theoretical Responses to the Crisis of Political Imagination.

Veröffentlicht/Copyright: 12. Januar 2024
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Paragrana
Aus der Zeitschrift Paragrana Band 32 Heft 2

Abstract

Der Aufsatz kritisiert den unrealistischen Politikbegriff vieler der aktuell boomenden Theorien politischer Imagination. Mit dem Ziel der Entwicklung einer realistischen politischen Theorie der Imagination wird der Begriff der politischen Einbildungskraft mit dem der Entscheidung konterkariert und das Werk von Cornelius Castoriadis mit dem von Ernesto Laclau kontrastiert. Anhand einer Diskussion der Subjekt- und Entscheidungstheorie Laclaus in ihrem Verhältnis zur Imagination erweist sich, dass Dezisions- und Imaginationstheorien im Rahmen eines realistischen Ansatzes aufeinander verwiesen bleiben müssen, denn ihre jeweiligen Defizite, die sich postfundamentalistisch auf die ontologische Defizienz der Gründe zurückführen lassen, können nur im wechselseitigen Verweis von Imagination auf Dezision und von Dezision auf Imagination bearbeitet werden.

Der Titel dieses Beitrags bringt zwei Kategorien in Korrespondenz, die üblicherweise nicht zusammengebracht werden: Imagination und Entscheidung. Würden Begriffe nach Härteklassen geordnet, dann träfe hier ein „weicher“ auf einen „harten“ Begriff. Der „weiche“ Begriff der Imagination wird gerne mit der Hervorbringung neuer ästhetischer Bilder assoziiert (Bottici 2019). Imagination erweist sich damit als die produktive Seite der rezeptiven Aisthesis. Die Kunst ist aus dieser Perspektive nicht allein der gesellschaftliche Ort, der die klassische Aisthesis, verstanden als allgemein sinnliche Wahrnehmung, idealtypisch engführt. Zugleich und darüber hinaus wird Kunst als ein gesellschaftlicher Imaginationspool sinnlicher Hervorbringung interpretiert, aus dem neue Vorstellungen, Bilder, Formen und Darstellungsweisen abgeschöpft werden können, wenn sie nicht sogar konvulsivisch aus ihm hervorsprudeln im Sinne des Breton’schen La beauté sera convulsive ou ne sera pas. Die Figur des Künstlers (seltener: der Künstlerin) wird damit zum Imaginationslieferanten überhöht, der in einer, wenn schon nicht wissenschaftlich, so doch sozial und politisch weitgehend einfallslos gewordenen Welt zum letzten Rettungsanker für die Präfiguration einer anderen Welt geworden zu sein scheint. Die politischen Valenzen der Kunst bestehen aus dieser Perspektive nicht so sehr in ihrem politischen Gebrauchswert, wie etwa bei Brecht, oder in ihrem unmittelbaren Aktionswert, wie im Fall aktivistischer Kunstpraxis (vgl. Marchart 2019), sondern in ihrem Imaginationswert, der im Potential zur „(Neu-) Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière) besteht. Eine konkrete Verknüpfung mit explizit politischen Praktiken muss dazu nicht vorliegen, ja eine zu enge Bindung an das schmutzige Geschäft der Politik und deren Sachzwänge könnte sogar als imaginationshinderlich betrachtet werden.

Der ‚harte‘ Begriff der Entscheidung entstammt hingegen dem Vokabular der Politik, insbesondere ihrer realistischen Tradition. Wer im Feld der Politik überhaupt von ‚Entscheidung‘ spricht, ist von einem Schmitt’schen Dezisionismus nicht weit entfernt. Einen solchen Dezisionismus zeichnet aus, dass Entscheidungen voluntaristisch getroffen werden ohne notwendige Rückanbindung an Normen und Verfahren. Das hebt den Dezisionismus von mit dem Liberalismus kompatiblen Entscheidungstheorien ab, schreibt ihn aber der postfundamentalistischen Kondition ein.[2] Darunter verstehe ich die moderne Einsicht in die Kontingenz aller gesellschaftlichen Gründe, in den Umstand also, dass jede Gesellschaft auch auf anderen Fundamenten ruhen könnte (Marchart 2010). Im Unterschied zu den quasianarchistischen Spielarten des Antifundamentalismus wird jedoch nicht davon ausgegangen, dass Gesellschaft ohne jegliche Gründe auskäme. Gerade die Abwesenheit letzter Gründe erzwingt einen unabstellbaren Prozess der Wieder- und Neubegründung, der sinnvollerweise mit dem Begriff des Politischen (im weiten Sinne und in Differenz zu der Politik) bezeichnet werden kann, weil Wieder- bzw. Neubegründungen nie konfliktlos vonstattengehen. Sofern also keine letzten soziotranszendenten, normativen oder rationalen Gründe zur Verfügung stehen, erzwingt jede Gründung den Moment einer Entscheidung, die ihrerseits notwendigerweise grundlos zu fallen scheint, was Theorien, die so argumentieren, regelmäßig den Dezisionismusvorwurf einbringt.

Beide Kategorien, so der Eindruck, besitzen also ein Handicap, das ihrer produktiven Anwendung entgegensteht. Soll in vielen Konzeptualisierungen die Einbildungskraft dazu beitragen, den niederen Gefilden schmutziger Machtpolitik in luftigere Vorstellungshöhen zu entkommen, so erweist sich der Begriff der Dezision aufgrund der normativen oder rationalistischen Ungründbarkeit jeder Entscheidung umgekehrt als hyperpolitisch und erzrealistisch. Damit wären denn auch die Sympathiewerte verteilt. Mit dem Begriff der Imagination lässt es sich wohlfühlen, der Begriff der Entscheidung führt zu Beklemmung. Hinterlässt der erste Begriff den Eindruck politischer Harmlosigkeit, so erweist sich der zweite, so scheint es, als politisch hochgefährlich. Man sieht sich vor die unmögliche Wahl gestellt zwischen Unter- und Überpolitisierung, zwischen einer der realen Politik enthobenen Welt der Imagination und einer phantasielosen Welt brutaler Entscheidungskämpfe.

Ich möchte im Folgenden, ausgehend von einer Vermutung hinsichtlich der Ursachen des gegenwärtigen Imaginationsrevivals, jeden der beiden Begriffe gegen das Licht des jeweils anderen halten. Das Ziel besteht darin, die aktuell zu beobachtende Wende zur Imagination, also den „imaginative turn“, in realistischer Weise zu politisieren und zugleich den Begriff der Vorstellungskraft für eine politische Theorie der Entscheidung produktiv zu machen.

Jedes politische oder politisch-künstlerische Kollektivsubjekt formiert sich durch eine Entscheidung, einen Eingriff in den Raum der Imagination, wodurch der imaginäre Horizont einer hegemonialen Formation verschoben wird. Entscheidung und Imagination treffen zusammen. In eine Situation eingreifen heißt nicht auf unerträgliche Zustände bloß reagieren – einem behavioristisch vorhersagbaren Reflex liegt keine Entscheidung zugrunde. Jeder Eingriff, der aus einer echten Entscheidung hervorgeht, hat die Imagination einer anderen Situation als der bestehenden zum Motivationsgrund, denn jede Entscheidung gegen etwas ist zugleich Entscheidung für etwas anderes. Anders als ein radikaler Dezisionismus nahelegen würde, findet nämlich jede Entscheidung bereits vor einem imaginären Horizont statt, setzt ein Imaginarium an Alternativen voraus, so unterentwickelt dieses auch sein mag. Es gibt keine „leere“ Entscheidung, so wie es keine Imagination ex nihilo geben kann. Um dieses Argument zu stützen, werde ich mich auf die nur spärlich rezipierte Entscheidungstheorie Ernesto Laclaus beziehen, die als postfundamentalistisch bezeichnet werden kann, ohne dass sie in einem vulgär-schmittianischen Sinn dezisionistisch wäre. Eine Kritik an Cornelius Castoriadis und der Rekurs auf Laclau werden uns in die Lage versetzen, die Umrisse einer tatsächlich politischen Politischen Theorie der Imagination zu erahnen.

Die Wende zur Imagination – Lösung oder Symptom?

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass der Surrealismus, der im avancierten Kunstfeld über viele Jahre lang völlig aus der Mode gefallen war, ein Revival erfährt, zuletzt etwa mit der von Cecilia Alemani kuratierten Hauptausstellung The Milk of Dreams der 59. Biennale von Venedig. Dieses Revival hat erstens wohl damit zu tun, dass Surrealismus nicht länger mit einigen wenigen männlichen Künstlerstars und ihren brennenden Giraffen assoziiert wird, sondern, wie in Venedig, bislang übersehene oder weniger bekannte weibliche Vertreterinnen in den Vordergrund gerückt werden, so dass beispielsweise Leonora Carrington gerade eine posthume Megakarriere gestartet hat. Zweitens tritt unter Bedingungen der gegenwärtigen Entwestlichung des Kunstfelds der Surrealismus als die historisch wohl größte globale Kunstbewegung stärker in den Fokus, und surrealistische Positionen aus Lateinamerika, der Karibik und Nordafrika werden wiederentdeckt. Der Surrealismus erweist sich damit als ausgesprochen anschlussfähig an aktuelle Perspektivenverschiebungen im Kunstfeld. Darüber hinaus aber scheint mir das Surrealismusrevival nicht allein kunstfeldinternen Kanonkämpfen geschuldet, sondern symptomatisch für die politische Großwetterlage zu sein: nämlich für die vieldiagnostizierte politische Alternativlosigkeit, mit der wir im Westen auf den Status quo eines liberal-demokratischen Kapitalismus vereidigt werden (bei Strafe des „democratic backsliding“ in einen illiberal-autokratischen Kapitalismus), was nun umgekehrt eine Suchbewegung auslöst. Diese Suchbewegung, die uns gleichsam mit dem Kopf gegen einen festgemauerten Vorstellungshorizont anrennen lässt, hat zum Leitstern das Konzept der Imagination, denn wir benötigen eine Stärkung unseres Vorstellungsvermögens, so die Annahme, um den tristen Status quo verallgemeinerter Alternativlosigkeit hinter uns zu lassen.

Mit dem Surrealismus als jener Kunstbewegung, der es wie keiner anderen um die Erweiterung unseres Vorstellungshorizonts ging, ist somit ein implizites politisches Versprechen verbunden. Explizit wird dieses in der Wende zum Thema der Imagination, wie sie derzeit in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu beobachten ist. In der Geschichtswissenschaft wird die historische Einbildungskraft wiederentdeckt, mit deren Hilfe und entlang der Frage „What if?“ (Staley 2021) nicht genommene historische Abzweigungen rekonstruiert werden, wie in der von Dan Diner kuratierten Ausstellung am Deutschen Historischen Museum „Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“. 2022 wurde ein International Journal of Social Imaginaries gegründet, mit dem der Untersuchung von Konzepten wie „imaginaries“ und „imagination“ in Abgrenzung von benachbarten Konzepten wie Kultur, Repräsentation oder Ideologie ein eigener Publikationsraum geschaffen werden soll. Das mission statement des Journals bleibt freilich so vage wie der Begriff der Imagination selbst, der hier zum catch-all Begriff ausfranst.[3] Was hier wie auch in einer zunehmenden Zahl von Buchpublikationen mit Titeln wie Imaginal Machines (Shukaitis 2009), Imagined Democracies (Ezrahi 2012), The Radical Imagination (Haiven/Khasnabish 2014), Imaginal Politics: Images Beyond Imagination and the Imaginary (Bottici 2019), Riotous Epistemology: Imaginary Power, Art, and Insurrection (Gilman-Opalsky/Shukaitis 2019), Historical Imagination (Staley 2021), Experiments in Imagining Otherwise (Olufemi 2021) oder Another World is Possible: How to Reignite Social and Political Imagination (Mulgan 2022) hervorgehoben wird, ist, bei aller Unschärfe, die politische Dimension des Imaginationsbegriffs.[4]

Altmeister einer politischen Imaginationstheorie ist Cornelius Castoriadis (vgl. Castoriadis 1990), auf den in der einschlägigen Literatur vielfach Bezug genommen wird. Das wiedererwachte Interesse an Castoriadis und an dessen Theorien einer ursprünglichen „Kreation“ gesellschaftlicher Bedeutung ist ähnlich symptomatisch für die imaginative Suche nach Auswegen aus der allgemeinen Alternativlosigkeit wie das wiedererwachte Interesse am Surrealismus. Ansatzpunkt ist sein Begriff des ursprünglich auf die individuelle Psyche bezogenen „radikalen Imaginären“, das von Castoriadis in geschichtlich-gesellschaftlicher Hinsicht auch als soziales Imaginäres bezeichnet und mit der Selbstinstituierung von Gesellschaft assoziiert wird. In der (radikalen) Demokratie instituiert sich Gesellschaft bewusst und autonom. Folgt man der Rekonstruktion durch Castoriadis, dann wurde das radikale bzw. soziale Imaginäre die längste Zeit der Menschheitsgeschichte überdeckt, indem es zumeist einer identitätslogisch operierenden Vernunft untergeordnet wurde (1994, S. 183). Zwar wurde, nach ihrem ersten Auftreten bei Aristoteles, die – nun transzendentale – Einbildungskraft durch Kant, Fichte, den jungen Hegel und andere auf die philosophische Tagesordnung gesetzt,[5] aber erst Heidegger gab ihr in seinem Kantbuch ihre zentrale Stellung zurück, nur um sie anschließend sofort wieder fallenzulassen (ebd., S. 185f.). Die Imagination, das primum principium der Castoriadischen Welt, unterliegt also einer geistesgeschichtlichen Verdrängung. Lassen wir dahingestellt, ob dies historisch zutrifft oder nicht. Falls es so sein sollte, dann ist die Zeit der Verdrängung definitiv vorbei. Erst jüngst widmete sich ein Themenheft der Zeitschrift für Kulturwissenschaften (16/2) Castoriadis’ Begriff der „radikalen Imagination“. Die Attraktivität dieses Ansatzes ist offensichtlich. Imagination ist radikal, sofern sie nicht etwas Bestehendes oder auch etwas Nicht-Bestehendes vorstellt, sondern erlaubt, im Bestehenden eine mögliche alternative Wirklichkeit wahrzunehmen. Imagination dient Castoriadis letztlich als Kontingenzformel mit politischem Beiklang. Wie die Herausgeber festhalten, ist Imagination für ihn „immer auch das ‚Medium‘ für die ‚Andersheit‘ bzw. das ‚Anderswerden‘ gesellschaftlicher Ordnung und in dieser Hinsicht in einem sehr breiten und grundsätzlichen Sinn ‚politisch‘“ (Ernst/Schröter 2022, S. 13). Das erklärt ihre Verwandtschaft mit „Kreation“, mit gesellschaftlicher Schöpfung, die Castoriadis durchaus als creatio ex nihilo konzipiert. Man erkennt, wie im Fahrwasser von Castoriadis radikale oder soziale Imagination als eine Lösung für das Problem der Abwesenheit von Alternativen erscheinen kann. Als Kontingenzformel verweist Imagination zumindest negativ auf die Möglichkeit einer anderen als kapitalistischen oder liberaldemokratischen Gesellschaft und impliziert damit die alternative Idee radikaler Demokratie als eines erst zu Imaginierenden.[6]

Nun lässt sich allerdings der Eindruck kaum vermeiden, dass die Kontingenzformel der Imagination vielfach als bloße Beschwörungsformel eingesetzt wird. Der Politikbegriff, der ihr zugrunde liegt, bleibt in den einschlägigen Ansätzen oft unklar oder zeugt von einem recht romantischen, vielfach anarchistischen Politikverständnis, das sich bei genauerer Betrachtung als komplizitär mit dem von Boltanski und Chiapello beschriebenen „neuen Geist des Kapitalismus“ erweisen könnte, insbesondere mit der „Künstlerkritik“ als dem dominanten kreativindustriellen und teamorientierten Kritikmodus innerhalb der „projektbasierten Polis“ oder, wie man auch sagen könnte, innerhalb der postfordistischen hegemonialen Formation des Neoliberalismus (Boltanski/Chiapello 2003). So könnte sich der Begriff der Imagination unter heutigen Bedingungen, so die Vermutung, nicht nur deshalb als attraktiv erweisen, weil ein Versprechen auf Politik mitschwingt, sondern weil ein Versprechen auf eine andere, schaumgebremste, kreative, projektförmige, teamfähige, weniger unfreundliche Politik mitschwingt, ja vielleicht sogar auf eine mit den Konsumindustrien und ihrem „service with a smile“-Imperativ kompatible „politics with a smile“. Diese unbedrohliche Politik hat nichts mehr mit dem berühmten Weber’schen Bohren harter Bretter zu tun noch mit klassischer – z.B. gewerkschaftlicher – Interessenspolitik, noch mit dem mühsamen Aufbau einer Gegenhegemonie durch Artikulation von Äquivalenzketten zwischen letztlich divergierenden politischen Positionen, wie bei Gramsci oder Laclau und Mouffe. So spricht, wer von Imagination spricht, jedenfalls nicht von der Durchsetzung von Machtansprüchen – doch kann eine Politik ohne Durchsetzungsanspruch nicht ernsthaft als Politik bezeichnet werden.

Bei Castoriadis ist das Problem offensichtlich. Er definiert Politik, ähnlich wie Rancière, auf eine Weise, die man als demokratischen Apriorismus bezeichnen kann, indem er sie nämlich auf jene „explizite und luzide Aktivität“ beschränkt, „die die Instaurierung von wünschenswerten Institutionen und von Demokratie als dem Regime expliziter und luzider Selbstinstitution“ (Castoriadis 1997, S. 4) zum Ziel hat. Mit anderen Worten: Politik ist immer schon demokratische Politik, ist immer schon ident mit der von Castoriadis ersehnten autonomen, reflexiven gesellschaftlichen Selbstinstitution qua Imagination. Das Versprechen, das mit dem Begriff der Imagination verbunden ist, erweist sich als ein politisches Heilsversprechen. Imagination erscheint nicht nur als Angebot, um Alternativen in Zeiten der Alternativlosigkeit zu ersinnen, Imagination erscheint selbst als Alternative zu einem realistischen, an der oft unerquicklichen politischen Realität gewonnenen Begriff des Politischen, mit dem die demokratische Natur aller Politik eben nicht schon präjudiziert wäre. Trifft diese Beobachtung zu, dann erklärt sie die Attraktivität des Imaginationsbegriffs und deutet auf die heimliche Komplizität von Imaginationstheorien mit der hegemonialen Formation der Alternativlosigkeit. Das Fahnenwort der Imagination wäre dann weniger als Alternative zur Alternativlosigkeit zu verstehen denn als Symptom ebendieser Alternativlosigkeit. Wo eine politische Lösung für das conundrum der Alternativlosigkeit nicht sichtbar ist – und dass sie derzeit nicht unmittelbar sichtbar ist, darauf wird man sich einigen können –, dort ist die Versuchung groß, die imaginäre Lösung zur eigentlich politischen zu erklären. Als Modeerscheinung vollzieht die Welle an neuen Imaginationstheorien eine Ausweichbewegung, die aus psychoanalytischer Perspektive als Verdrängung, wenn nicht als Verleugnung bezeichnet werden müsste. Denn die Fokussierung auf Imagination erlaubt es, den Blick vom Gorgonenhaupt des Politischen abzulenken, d.h. abzulenken von den durch Macht, Herrschaft, Gewalt und Konflikt unansehnlich verformten kollektiven Praktiken, die man unter den Sammelbegriff des Antagonismus (Marchart 2018) bringen kann.

Die Leerstelle der Dezision, oder: „Das Zurückweichen vor dem Abgrund“

Nun hat das Verdrängte bekanntlich die Eigenschaft, unerwartet wiederzukehren. Auch wenn sie sich vom politischen Realismus absetzen, stolpern Imaginationstheorien auf dessen Terrain, sobald sie sich normativistischer oder rationalistischer Letztbegründungsangebote entschlagen. Auch sie entkommen dem Problem des Dezisionismus nicht, das jeder Zurückweisung letzter Gründe auf dem Fuß folgt. Und so wird auch die Autonomietheorie von Castoriadis vom Dezisionismusproblem eingeholt, wie Bernhard Waldenfels in einer brillanten Kritik schon vor vielen Jahren zeigen konnte, auch wenn er nicht von Dezisionismus sprach. Der antifundamentalistische Ausgangspunkt von Castoriadis gestattet nämlich, wird er ernst genommen, keine erschlichenen Lösungen, mit denen doch wieder nur neue Fundamente eingezogen würden. „Eine Kreation“, so Waldenfels, „die ihren Grund nur noch in sich selber hat, ist im strengen Sinne grundlos, sans fond, ihr Hintergrund ist ein Chaos, ihr Untergrund ein Abgrund“ (1989, S. 153). Angesichts der Unmöglichkeit von Letztbegründung wird jede Gründung zurückgeworfen auf das rein Faktische dieser Gründung. Kreation wird zu Dezision. Oder in den Worten von Waldenfels: „Die Frage nach dem Warum von Gesetzen und dem Wozu der Handlung lässt sich nur noch beantworten durch das faktische Geschehen der Kreation selbst.“ Selbst wenn Castoriadis es beim Faktum der Dezision belassen und sich offen auf die Seite des Dezisionismus schlagen würde, zufriedenstellend wäre diese Antwort nicht:

Die Frage findet damit ihr Ende, aber keine Antwort. Eine Gesetzgebung, die sich an eine faktische Instanz bindet, kann nirgends anders enden. Sie steht vor einem alten Dilemma. Eine Instanz, die aus sich selbst heraus Gesetze gibt, tut dies entweder nach Gesetzen, die ihr vorgegeben sind, dann ist sie im radikalen Sinne nicht autonom; oder sie tut dies frei von Gesetzen, dann ist sie im radikalen Sinne nicht autonom, sondern a-nom. (ebd.)

Das Argument wandelt das alte Gründungsparadox ab. Nach welchen Gesetzen lässt sich eine Gesetzesordnung gründen, wenn die Gesetze erst durch diese Gründung instituiert werden? Ein rein dezisionistischer Ansatz würde behaupten: nach keinen Gesetzen. Wir tun es, dann sehen wir weiter. Es handelt sich um eine faktische, d.h. a-nome Gründung, und nicht, wie Castoriadis behauptet, um eine autonome. Sofern wir diesen „Kern von Anomie“ akzeptieren, müssen „wir konsequent genug sein zuzugeben, dass Entscheidungs- und Beurteilungskriterien, die allgemeine Geltung beanspruchen können, immer nur auf der sekundären Ebene einer instituierten, nicht auf der primären Ebene der instituierenden Gesellschaft zu finden sind“ (ebd.). Das Argument ist gegen den Versuch von Castoriadis gerichtet, der Falle eines reinen Dezisionismus zu entkommen und sein Autonomiemodell abzudichten, indem er Sekundärkriterien einführt, die den normativen Primat von Autonomie gegenüber Heteronomie belegen sollen. Doch wie Waldenfels zurecht einwendet: „Sekundäre Gründe können die primäre Grundlosigkeit nicht beheben“ (ebd., S. 154). Castoriadis bleibt nur der wenig überzeugende Rekurs auf die Vernunft in Gestalt des gesunden Menschenverstands, welcher uns zu allen Zeiten angeblich Autonomie vorziehen ließe. Unter der Hand wertet er so einen Sekundärgrund zu einem primären Grund auf. Castoriadis, so Waldenfels, gestehe der Vernunft wie auch dem Autonomieprinzip eine absolute Position allgemeiner Konsensfähigkeit zu. An die Stelle des abwesenden Grundes rückt die „absolute Position“ dessen, was ich als demokratischen Apriorismus bezeichnet habe. Aber, so fragt Waldenfels zurück,

bleibt uns tatsächlich keine andere Wahl, als das zu recht destruierte ‚absolute Fundament‘ [...] gegen eine ‚absolute Position‘ einzutauschen, die sich vor der Willkür erneut ins Prinzipielle rettet und mit einem allgemeinen Konsens liebäugelt? Dies sieht aus nach einem ‚Zurückweichen vor dem Abgrund‘; in der Linie der hier vertretenen Kreations- und Imaginationstheorie liegt es nicht. [...] Ein Imaginäres, das selber konsensbedürftig wäre, wäre eines jedenfalls nicht: radikal. (ebd.)

Ein tatsächlich radikales Imaginäres wäre, so wie jede radikale Entscheidung, grundlos und damit nicht auf einen allgemeinen überzeitlichen Konsens angewiesen. Der etwas billige Appell an einen angeblichen Konsens, der sich qua gesundem Menschenverstand ganz natürlich überall dort einstellen würde, wo Menschen vor die Wahl zwischen Autonomie und Heteronomie gestellt, wie selbstverständlich Autonomie wählen, überzeugt nicht. Als wäre das Phänomen freiwilliger Knechtschaft nur einer vorübergehenden Irritation des gesunden Menschenverstands geschuldet; als gäbe es neben dem popularen Begehren, nicht beherrscht zu werden (das Machiavelli dem Begehren der Grandi nach Herrschaft gegenüberstellt), nicht sehr wohl auch ein Begehren, sich Herrschaft zu fügen. Castoriadis’ Rettungsversuche sind auf einer sekundären Ebene angesiedelt, von der aus sich weder die Abgründigkeit der Dezision noch die Abgründigkeit der Imagination beheben lässt, es sei denn, man erhebt die sekundäre Ebene zur primären. Das Dezisionismusproblem, das sich selbst jene „weichen“ imaginationstheoretischen Ansätze, die der politischen Realität entfliehen wollen, einhandeln, bleibt ungelöst. Den Phänomenen von Macht, Herrschaft, Hegemonie, Konflikt, Gewalt und Entscheidung lässt sich in unserer politischen Realität nicht entkommen, es sei denn, man setzt sich in ein imaginäres Verhältnis zu Politik, indem man Politik auf den Gestus des Imaginierens reduziert. Nicht dass Politik nicht sehr wohl etwas mit dem Imaginieren von Alternativen zu tun hätte, nur ist, wie wir sehen werden, diese Imaginationspraxis als politische Praxis selbst Funktion von Macht, Herrschaft, Hegemonie, Konflikt, Gewalt und Entscheidung.

Damit kommen wir zu einem Zwischenfazit. Wir haben gesehen, dass Dezision eine Leerstelle der Imaginationstheorien ist. Sie bedürfen einer ausgearbeiteten Theorie der Entscheidung, soll das Konzept der Imagination mehr sein als eine wohlfeile Beschwörungsformel und ein wohlmeinender Appell an die Kreativsubjekte der „projektbasierten Polis“. Dazu gilt es zunächst, etwas pathetisch mit Waldenfels gesprochen, nicht „vor dem Abgrund zurückzuweichen“, beziehungsweise umgekehrt: hinabzusteigen auf die ontologische Ebene der abwesenden Gründe. Zu diesem Zweck werde ich kurz die in einer postfundamentalistischen politischen Ontologie verankerte Subjekt- und Entscheidungstheorie Ernesto Laclaus vorstellen und in ihrem Verhältnis zum Konzept der Imagination diskutieren. Daran wird sich erweisen, dass Dezisions- und Imaginationstheorien im Rahmen eines realistischen Ansatzes aufeinander verwiesen bleiben müssen, denn ihre jeweiligen Defizite, die sich postfundamentalistisch auf die ontologische Defizienz der Gründe zurückführen lassen, können nur im wechselseitigen Verweis von Imagination auf Dezision und von Dezision auf Imagination bearbeitet werden.

Die Distanz zwischen Entscheidung und Unentscheidbarkeit

Es ist nicht leicht zu ermitteln, in welchem Ausmaß und in welcher Hinsicht Castoriadis’ Ansatz als postfundamentalistisch, als antifundamentalistisch oder gar als fundamentalistisch bezeichnet werden kann. Nimmt Imagination selbst die Funktion eines Fundaments in Gestalt einer vitalistischen Kraftquelle der Kreation ein? Oder tendiert Castoriadis, wenn er Kreation als creatio ex nihilo bezeichnet, zu einer antifundamentalistischen Position? Und welchen ontologischen Status besitzt seine Verlegenheitslösung eines überhistorischen Konsensprinzips der Autonomie – handelt es sich dabei um einen neuen letzten Grund? In jedem Fall verhindert sein demokratischer Apriorismus, dass Castoriadis zu einem realistischen Politikverständnis vordringt. Mit Ernesto Laclau kommen wir nun auf einen postfundamentalistischen Ansatz, der fest in der Tradition des politischen Realismus verankert ist, wie sie über Gramsci bis zu Machiavelli zurückführt. Der Blick in Laclaus Essay New Reflections on the Revolution of Our Time (Laclau 1990) wird uns nicht nur eine Theorie der Entscheidung liefern, sondern auch Umrisse einer realistischen Theorie der Imagination erkennen lassen. Erstaunlicherweise wurde dieser Text in der Laclau-Rezeption weitgehend ignoriert, obwohl er die philosophische Grundlage bereitstellt sowohl für das gemeinsam mit Chantal Mouffe verfasste Standardwerk Hegemonie und radikale Demokratie (Laclau/Mouffe 1991), dessen Ansatz hier nachträglich more geometrico rekonstruiert wird, als auch für Laclaus einflussreiche Populismustheorie, wie sie später mit On Populist Reason (Laclau 2005) vorgelegt wurde. Laclaus Entscheidungstheorie, die sich in diesem kaum rezipierten Werk findet, ist postfundamentalistisch, sofern Laclau (a) davon Abstand nimmt, politische Entscheidungen in einer tiefer liegenden Gründungsinstanz wie der Vernunft zu verankern; ohne (b) umgekehrt in die Falle des Antifundamentalismus zu tappen (denn, obwohl nicht ausschließlich durch rationale Gründe gesteuert, bewegt sich, wer entscheidet, auch nicht im Vakuum selbstherrlicher Beliebigkeit); und (c) Laclau das Problem der Entscheidung auf eine sozialontologische Ebene hebt, wodurch Entscheidung erkennbar wird als eine der Figuren von Gründung unter Bedingungen letztinstanzlicher Ungründbarkeit. Im dekonstruktiven Vokabular lautet ein Name für die ultimative Ungründbarkeit jeder Gesellschaft Unentscheidbarkeit. Auch für Laclau ist Unentscheidbarkeit ein unabdingbares ontologisches Merkmal jeder sozialen Struktur. Da Gesellschaft auf keinem letzten Grund ruht und sich nicht zu einer Totalität schließen kann, bleibt sie in ihrer Struktur unentscheidbar und somit fortgesetzten konkurrierenden Gründungsversuchen ausgeliefert. Die Derrida’sche Kategorie der Unentscheidbarkeit erfordert folglich als Komplement eine politische Theorie der Entscheidungsfindung. Unentscheidbarkeit erzwingt Entscheidung. Entscheidung setzt ultimative Unentscheidbarkeit voraus (denn sonst wäre immer schon entschieden). Im Spiel zwischen struktureller Unentscheidbarkeit und Entscheidung gibt sich das Politische zu erkennen.

Sozialtheoretisch vorausgesetzt wird dabei freilich, dass wir nicht in den objektivistischen Irrtum verfallen, gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Akteuren eine ihrer politischen Artikulation vorgängige „objektive“ Existenz zuzusprechen. Der konstruktivistische Ansatz Laclaus legt stattdessen nahe, soziale Strukturen als Ergebnis hegemonialer Formierung zu verstehen. Nun ist vor dem Hintergrund eines postfundamentalistischen Theoriedesigns allerdings kein Formierungsprozess ultimativ erfolgreich – das ließe uns in einer sich restlos selbst regelnden, autopoietischen Gesellschaftstotalität zurück, die sich des Politischen entledigt hätte. Eine solche Idee von Gesellschaft ist eine Absurdität. Alle Entscheidung findet auf einem zum Teil bereits formierten, aber, aufgrund des Postulats struktureller Unentscheidbarkeit, zum Teil eben auch nicht formierten bzw. nicht letztformierbaren Terrain statt. Aus dem Postulat der Unentscheidbarkeit folgt für Laclau weiter, dass keine Entscheidung vollständig durch das Terrain, auf dem sie getroffen wird, determiniert wird (dann wäre sie keine Entscheidung). Jede Entscheidung ist kontingent, sie könnte auch anders getroffen werden. Aber heißt das, sie könnte auch gar nicht getroffen werden? Die Politikwissenschaft hat sich seit langem darüber aufgeklärt, dass in einer konkreten Situation auch die Entscheidung, nicht zu entscheiden, eine Entscheidung darstellt (Bachrach/Baratz 1963) – nämlich die Entscheidung, die Dinge so laufen zu lassen, wie sie laufen. Das Faktum der Unentscheidbarkeit entbindet uns also nicht von der Notwendigkeit, kontingente Entscheidungen zu treffen, die auch anders getroffen werden könnten oder nicht getroffen, was seinerseits eine Entscheidung voraussetzen würde. Es ist also nicht möglich, nicht zu entscheiden. Oder nochmals anders gesagt: Das Spiel des Politischen, als Spiel zwischen Unentscheidbarkeit und Entscheidung, ist ein Spiel, das nicht nicht gespielt werden kann.

Doch wer ist das Subjekt dieses Spiels? Hier, so denke ich, liegt Laclaus erhellendster Beitrag zu diesem Thema. Die empirische Sozialwissenschaft verfällt leicht dem Irrtum des Objektivismus, der mit unserer Alltagsvorstellung von Entscheiden kompatibel ist, wenn sie hinter jeder Entscheidung ein Subjekt vermutet, das die Entscheidung trifft. Diese Vorstellung ist subjektmetaphysisch.[7] Entscheidungen werden nicht von einem allmächtigen, objektiv existierenden sozialen Akteur getroffen. So wie soziale Strukturen müssen auch kollektive soziale Akteure zuallererst formiert werden. Sie gehen aus einem Prozess der Organisation von Kollektivität hervor.[8]

Versuchen wir den Gang der Laclau’schen Argumentation nachzuvollziehen. Eine Entscheidung kann nicht vollständig in einer Struktur aufgehen, d.h. ein internes Moment der Struktur sein, denn dann wäre sie von der Struktur determiniert und folglich gar keine Entscheidung. Sie muss zumindest teilweise von einem Ort „außerhalb“ der Struktur kommen, von einem Ort jenseits der sozialen Formation, in der etwas zur Entscheidung ansteht. Derrida spräche an dieser Stelle wohl davon, dass jede Entscheidung eine „Entscheidung des Anderen in mir“ ist (2003), womit jeder dezisionistische Voluntarismus erst mal ausgeschlossen wäre. Das gilt nun auch für den Akteur einer Entscheidung. Er kann ebenso wenig in der sozialen Formation aufgehen, denn dann wäre er bloß ein internes Moment dieser Struktur, es gäbe nichts mehr zu entscheiden und jeder Akteur wäre ohnehin überflüssig. Er kann aber auch nicht vollständig außerhalb der sozialen Formation verortet sein (Laclau 1990, S. 30), denn wie sollte er dann eine Entscheidung herbeiführen? Der Akteur befindet sich also in einer merkwürdigen Position: sowohl auf dem Territorium als auch jenseits des Territoriums, auf dem er entscheidet. Dennoch kann nur auf diese prekäre Weise eine soziale Formation durch einen nicht abreißenden Fluss an Entscheidungen transformiert werden – in jedem anderen Fall wäre sie entweder wie eingefroren, d.h. völlig determiniert, oder völlig entscheidungsoffen und indeterminiert.[9]

Das „Subjekt“, wie Laclau den Akteur auch bezeichnet, nimmt also eine Position relativer Autonomie gegenüber der Struktur ein. Es wird zum „locus“ einer von der Struktur nicht determinierten Entscheidung (ebd.). Weniger als eine im subjektmetaphysischen Sinne rationale oder voluntaristische Quelle der Entscheidung ist das Subjekt nur ein Ort, eine strukturelle Position: die einer Leerstelle. Das Subjekt wird von Laclau definiert als die Distanz zwischen Struktur und Entscheidung. Mit dieser rein negativen Definition wären wir weit entfernt von jeder substantialistischen oder metaphysischen Vorstellung von Subjektivität, die im Willen eines Akteurs den Grund der Entscheidung ausmacht. Und noch zwei weitere Konsequenzen zieht Laclau. Zunächst eine ontologische: Sofern die Entscheidung nicht von der sozialen Formation determiniert ist, ist sie dieser gegenüber von keineswegs nachrangiger Natur; sie ist ihr ontologisch gleichgestellt. Die Entscheidung besitzt den Charakter eines ontologischen Grundes – wenn auch nicht eines letzten Grundes, da sich die Unentscheidbarkeit einer Struktur nicht beheben lässt. Und schließlich verweist Laclau auf die politischen Konsequenzen: Wer eine Entscheidung trifft, verhindert mögliche Alternativen (ebd.).[10] Jede Entscheidung, so könnte man auch sagen, ist zugleich eine Entscheidung gegen alle anderen in diesem Moment möglichen Entscheidungen: „The ‘objectivity’ arising from a decision is formed, in its most fundamental sense, as a power relationship“ (ebd.). Zusammengefasst: Das Subjekt der Entscheidung ist Distanz, nicht Substanz. Die Entscheidung ist von ontologischer Natur und ist, wie Unentscheidbarkeit, auf der Ebene des Grundes des Sozialen verortet. Es existiert schlichtweg keine soziale Welt, in der nicht unablässig Entscheidungen unter Bedingungen ultimativer Unentscheidbarkeit getroffen würden. Und schließlich gibt es keine Entscheidung ohne Machteinsatz, denn von jeder Entscheidung werden alternative Entscheidungswege unterdrückt.[11]

Es ist dieser letzte Punkt, der deutlich machen sollte, dass eine rationalistische Lösung für das Dezisionsproblem unmöglich ist. Das Problem stellt sich ja überhaupt nur deshalb, weil Entscheidungen im Politischen immer vor dem Hintergrund alternativer Entscheidungsmöglichkeiten getroffen werden. Diese alternativen Entscheidungsmöglichkeiten existieren nicht etwa im Kopf eines Vernunftsubjekts, das rationale Gründe abwägt, um eine von mehreren logisch möglichen Alternativen zu wählen. Sie existieren als reale hegemoniale Projekte, die nach Verwirklichung streben, aber auf Kosten der jeweils anderen: „If two different groups have taken different decisions, the relationship between them will be one of antagonism and power, since no ultimate rational grounds exist for their opting either way“ (ebd., S. 31). Damit ist nun aber noch lange nicht behauptet, dass eine Entscheidung, die im Medium des Antagonismus getroffen wird, völlig irrational wäre.[12] Die Schimäre vom „Irrationalen“ sei nur das negative Spiegelbild des Rationalismus, so Laclau. Weder ist eine politische Entscheidungstheorie zu Rationalismus noch ist sie zu Irrationalismus verpflichtet. Denn der Verweis auf strukturelle Unentscheidbarkeit impliziert nicht, dass Entscheidungen notwendigerweise wider die Vernunft getroffen würden:

The decision based on an undecidable structure is not therefore opposed to reason, but is something which attempts to supplement its deficiencies. Thus the fact that a decision may, in the final instance, be arbitrary, merely means that the person taking it cannot establish a necessary link with a rational motive. But this does not mean that the decision is not reasonable – that is to say that an accumulated set of motives, none of which has the value of an apodictic foundation, make it preferable to other decisions. (ebd.)

Worauf Laclau hier hinauswill, ist eine politische Vernunft, die nach situativen Gründen sucht und von historisch akkumulierten Motiven angetrieben wird. Diese politische Rationalität, die Laclau und Mouffe immer wieder mit der aristotelischen phronesis vergleichen, ist alles andere als Ausdruck von Irrationalismus. Sie stellt Gründe bereit, die keine letzten Gründe sind, weil sie nur Geltung beanspruchen vor dem Hintergrund einer spezifischen historischen Lage oder spezifischer politischer Traditionen.

Der imaginäre Horizont und die Imagination des Willens

Welchen Beitrag können diese Überlegungen zu einer Theorie politischer Imagination leisten? Ohne alle Aspekte detailliert ausmalen zu können, möchte ich auf vier Punkte hinweisen.

(1) Wie zuletzt angesprochen, findet jede Entscheidung vor einem bestimmten Hintergrund statt, der ihr provisorische Gründe bereitstellt. Diese Überlegung lässt sich mit einer anderen Kategorie Laclaus in Verbindung bringen, nämlich mit seiner Kategorie des sozialen Imaginären, die er in New Reflections ohne expliziten Bezug auf Castoriadis entwickelt. Laclau zufolge konstituiert jede Gesellschaft einen imaginären Intelligibilitätshorizont. So diente beispielsweise das Imaginäre der „Vernunft“ der Aufklärung als Horizont: Intelligibel ist aus einer klassischen Aufklärungsposition, was als vernünftig gelten kann oder der Vernunft zum Durchbruch verhilft. Ein imaginärer Horizont entsteht nicht von alleine, sondern geht aus der hegemonialen Expansion eines ursprünglichen „Mythos“ hervor. Um beim genannten Beispiel zu bleiben: Die Vernunft (wie auch die Idee der Autonomie, auf die wir gleich zurückkommen) diente dem Bürgertum als Mythos, der seinen Aufstieg zur hegemonialen Klasse mit Legitimität ausstattete. Nach einer erfolgreichen Expansionskarriere wird ein Mythos zu einem imaginären Horizont, der weitgehend unhinterfragt akzeptiert wird. Wir sehen hier, wie Imagination und Dezision schon in diesem ersten Schritt aufeinander bezogen sind: Ein erfolgreicher Prozess der Imagination endet, politisch gesehen, in der Etablierung eines Imaginären, d.h. eines hegemonialen Horizonts, der dann jede Entscheidung, die vor seinem Hintergrund getroffen wird, motiviert und ihr überhaupt erst Sinn gibt.

Daher konnte eingangs dieses Beitrags darauf hingewiesen werden, dass jede Entscheidung die Imagination einer anderen Situation als der bestehenden beinhaltet. Ein hegemonialer Horizont schnürt unsere Vorstellungskraft nicht nur ein (sofern wir nicht über ihn hinaus blicken können), er lässt sie zugleich expandieren, weil er inhaltlich nicht ausdefiniert ist und daher durch politische Kämpfe verschoben, sprich: ausgeweitet werden kann. Der demokratische Horizont von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Volkssouveränität etwa setzt unserer Phantasie, was oder wer jeweils als frei oder gleich gelten kann oder unserer Solidarität würdig ist, nicht nur keine engen Grenzen, sondern ermöglicht sogar immer weiteren Gruppen oder Entitäten, ihren Platz vor diesem Horizont einzufordern. Dazu muss freilich der Raum des Vorstellbaren erweitert werden – die Geschichte z.B. der Ausweitung des Wahlrechts legt davon Zeugnis ab. Ein imaginärer Horizont stattet also Entscheidungen mit einem Imaginarium an Alternativen aus oder bietet der Weiterentwicklung des politischen Imaginariums Haltepunkte. Genauso ist, folgt man Laclaus Theorie von den zwei Stadien von „Mythos“ und Imaginärem, bereits die Entwicklung eines motivierenden Mythos ein Akt praktizierter politischer Imagination. Obwohl ein Mythos immer auch in einem antagonistischen und damit negativen Verhältnis zu anderen Mythen steht, muss er doch als solcher affirmiert werden. Denn es gibt keine Entscheidung gegen etwas, die nicht zugleich Entscheidung für etwas anderes wäre.

(2) Kommen wir zurück zur Frage der Autonomie. Sie findet zu einer Lösung, sobald wir uns für ein tatsächlich postfundamentalistisches Theoriedesign entscheiden. Autonomie darf dann freilich nicht länger in der Tradition bürgerlicher Aufklärung verortet werden. Ein autonomes – individuelles oder kollektives – Subjekt ist kein Subjekt, das sich durch Vernunftgebrauch seine Gesetze selbst geben würde, unabhängig von allen heteronomen Zwängen. Eine solche Vorstellung von Autonomie hätte alles Politische verabschiedet oder im liberalen Imaginären der Gesetzgebung verflüssigt. Laclaus Ansatz erscheint mir auch in dieser Hinsicht überzeugender als der von Castoriadis. Für Laclau verweist Autonomie auf eine unauflösliche Spannung, da vollständige Autonomie von vollständiger Determination nicht unterscheidbar wäre (ebd., S. 32f.). Denn autonom ist man nur gegenüber etwas, ansonsten wäre der Begriff redundant oder ident mit einem sich vollständig selbst-determinierenden System. Dieser äußere Bezugspunkt, auf den jede Autonomie verwiesen ist, und darin besteht die politische Pointe, wird nun eben nicht als neutral erfahren, sondern als Beeinträchtigung oder Einmischung, die überhaupt erst die Forderung nach Autonomie aufkommen lässt:

For if an external intervention is experienced as an interference in the development of a certain activity, we can indeed propose the need to autonomize that activity in terms of the intervention interfering in its development. The determination by the interfering force is clearly an external intervention in this case, since it is resisted by the person on whom it is practised. Without interference, then, autonomy does not exist. The degree of autonomy may vary, but the concept of total autonomy is devoid of all meaning. In this sense, autonomy will always be relative, since if one force has the power to interfere and the other the power to resist, the two will be partially effective and neither will manage to predominate exclusively. The field of relative autonomy is therefore a war of position in which neither of the two participant forces can achieve absolute victory. (ebd., S. 38)

Autonomie, so das Argument, kann es also nicht geben ohne Widerstand gegen eine Einmischung von außen. Beide Seiten sind mit Machtmitteln ausgestattet, sofern die eine Seite sich einmischt und die andere ihr widersteht. Aus diesem Grund kann Autonomie gar nicht unbeschränkt herrschen, denn letztlich ist sie nichts anderes als der Name für eine Auseinandersetzung, bei der keine Seite die Oberhand behält. Damit hat Laclau auch den Begriff der Autonomie auf realistische Weise politisiert. Autonomie ist nicht, wie bei Castoriadis, ein erstes Prinzip, sondern erweist sich als eine Form des Widerstands gegen äußere Einmischung. Weder ist sie auf einen tieferen Grund zurückzuführen noch besitzt sie selbst den Status eines Fundaments von Politik. Damit ist zugleich gesagt, dass gesellschaftliche Kreation (wie bei Castoriadis) oder Institution (wie bei Negri, Esposito u.a.) niemals im strengen Sinne autonom geschehen kann. Das Soziale wird „erschaffen“ oder instituiert durch einen, wie Laclau mit Rekurs auf Gramsci sagt, „Stellungskrieg“ zwischen um Hegemonie strebenden Kräften – oder anders gesagt: im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie. Wird die Spannung nach einer der beiden Seiten hin aufgelöst, verschwindet nicht nur Autonomie, sondern Politik überhaupt.

(3) Bislang hat uns Laclau dem Ziel einer realistischen Theorie von Imagination näher gebracht, an einer Stelle erweist sich sein Ansatz dennoch als defizitär. Eine rein negative Definition des Subjekts der Entscheidung (als Distanz zwischen Unentscheidbarkeit der Struktur und Entscheidung) reicht für eine politische Entscheidungstheorie nicht aus. Ein unbewusster Hinweis findet sich immerhin im Laclau’schen Essay. Laclau verwendet in seiner Darstellung die Kategorien des Akteurs (agent) und die des Subjekts (subject) recht indifferent. Dass der ansonsten streng gearbeitete Text in dieser Hinsicht einen terminologisch verwaschenen Eindruck hinterlässt, muss nicht als Ausdruck von Nachlässigkeit interpretiert werden. Dass sich im Schreibfluss zwei unterschiedliche Kategorien (Akteur und Subjekt) aufdrängen, könnte der Sache selbst geschuldet sein. In der – wohl unfreiwilligen – Differenzierung könnte also mehr stecken als terminologische Redundanz. Sie könnte darauf hinweisen, dass es selbst einer radikal negativistischen Subjekttheorie nicht gelingt, die willensmetaphysischen Voraussetzungen von Dezision, die im Begriff des Akteurs (agent) mitschwingen, gänzlich über zu Bord werfen. Die Objektivismuskritik behält zwar ihre Relevanz. Zurecht werden objektivistische Entscheidungstheorien dafür kritisiert, ein objektiv gegebenes Entscheidungssubjekt vorauszusetzen. Mit der umgekehrten Option, im Subjekt nichts anderes zu sehen als eine Leerstelle in der Struktur, sind die Möglichkeiten aber nicht erschöpft. Politisches Handeln wäre undenkbar ohne das spezifische Phantasma von Akteuren, die sich als Subjekte des eigenen politischen Willens imaginieren. Es mag sich bei diesem Willen, den wir rückblickend zum imaginären Ausgangspunkt unserer Entscheidung erheben, um ein metaphysisches Konstrukt handeln, aber Politik – da sie eben nicht deckungsgleich mit bloß negativistischer Kritik oder mit entscheidungsblockierter Dekonstruktion ist – wäre undenkbar ohne metaphysische Konstrukte. Hegemonie wird errungen, in der Terminologie Gramscis, durch Formierung eines „Kollektivwillens“. Dieser Wille, das ist unbestritten, existiert nicht als subjektives Fundament von Politik, aber Politik existiert umgekehrt nicht ohne die Unterstellung eines Kollektivwillens. Wird dies akzeptiert, findet Imagination im Moment der Entscheidung zu einer sehr spezifischen Rolle: Das Subjekt (als Distanz) muss als Akteur (als Substanz) imaginiert werden. Erst die politische Einbildungskraft erlaubt, ein kollektives Willenssubjekt dort vorzustellen, wo im Moment der Entscheidung keines war. Und so sehr diese retroaktive Konstruktion einen Aspekt des Phantasmatischen besitzt, so unabdingbar ist sie dafür, dass Politik zuallererst in Gang kommt, auch wenn sie immer schon in Gang gekommen ist (siehe ausführlich hierzu Marchart 2018).

(4) Und schließlich lässt der Bezug auf die Kategorie des Phantasmas schon erahnen, dass eine postfundamentalistische und zugleich realistische Ontologie des Politischen mit der Verharmlosung des Imaginären durch die neuen Imaginationstheorien nicht einverstanden sein kann. Von Castoriadis an sind die Verteidiger des Imaginationsbegriffs ausgezogen, um ihn von seiner philosophiehistorischen Zweitrangigkeit zu erlösen. Dazu wurde einerseits die dringend gebotene Freisetzung unserer kreativen Vorstellungskräfte beschworen, andererseits sollte der Imaginationsbegriff von seinem schlechten Ruf, nämlich seiner Assoziation mit Täuschung, „bloßer“ Fiktion oder auch Phantasmatik dissoziiert werden. Ziel war ein gereinigter, verharmloster, produktiv und für die „projektbasierte Polis“ flott gemachter Imaginationsbegriff. Die Abgründigkeit von Imagination, wie man sie schon bei Goya, bei vielen Surrealisten oder auch in Fällen von Psychose hätte besichtigen können, erschien da als eine modernistische Verirrung. Doch muss eine realistische Betrachtung von Politik zur Kenntnis nehmen – und zwar ganz ohne modernistisches Pathos –, dass in der postfundamentalistischen Kondition die Abwesenheit letzter Gründe auf vielerlei Weise erfahren werden kann, unter anderem auf bedrückende, wenn nicht beängstigende Weise.[13] Der ontologische Name für die Phantasmen gebärende Dimension von Politik lautet Antagonismus.

Phantasma, Imagination, Antagonismus

Mit der Kategorie des Antagonismus sind wir an jener Stelle angelangt, vor der eine realistische politische Theorie der Imagination nicht zurückweichen darf. Der Begriff des Antagonismus, darauf habe ich eingangs hingewiesen, fasst Erfahrungsdimensionen zusammen, die mit politischer Praxis einhergehen, so etwa die Dimensionen von Macht, Herrschaft, Gewalt und Konflikt. Obwohl sich der Begriff zumindest bis zu Kant zurückverfolgen lässt und bei Marx im berühmten „Antagonismus“ zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen eine strukturelle, am Hegel’schen Begriff der Negation geschulte Wendung nimmt, wurde er als sozialontologische Kategorie vor allem in der vom Werk Laclaus und Mouffes ausgehenden „Essex School“ der politischen Diskursanalyse ausgearbeitet. Dort beschreibt er die ontologische Dimension des Politischen (im Unterschied zur ontischen der Politik), verstanden als radikale Negation der positiven Elemente einer Identität, die in diesem rein negativen Äußeren einen Zusammenschließungsgrund finden abseits ihrer jeweils eigenen Positivität. Was die einzelnen Elemente eines Diskurses also alle gemeinsam haben, ist selbst kein positiver common denominator, sondern gemeinsam haben sie nur das Faktum ihrer Negiertheit. Im Fall politischer Diskurse, wie sie von Laclau und Mouffe vor allem in Hegemonie und radikale Demokratie (1991) konzeptualisiert wurden, ist das offensichtlich. Die Artikulation einzelner, in ihrem positiven Inhalt durchaus divergierender Forderungen zu einer „Äquivalenzkette“ gelingt nur in Abgrenzung gegenüber einem äußeren Feind, der diese Forderungen aus Sicht der Äquivalenzkette negiert, sprich: durch Konstruktion eines Antagonismus. Sofern aber der Antagonismus dem Diskurs kein positives Fundament zu Verfügung stellen kann, sondern nur im Medium der Negation agiert, stabilisiert er zwar den Diskurs, destabilisiert ihn aber gleichermaßen. Was uns „bedroht“, verbindet uns; aber indem es eine uns gemeinsame Identität stiftet, subvertiert es auch diese Identität, gerade weil es uns „bedroht“.

Im Anschluss an Laclau, und über Laclau hinaus, kann geltend gemacht werden, dass der Antagonismus nicht nur eine Funktion diskursiver Bedeutungsproduktion ist, sondern – als gründende wie zugleich entgründende Dimension der Konfliktualität – die zentrale sozialontologische Instanz von Gesellschaft. Es gibt, wie ich an anderer Stelle argumentiert habe (Marchart 2018), keine halbwegs kohärente soziale Identität, Struktur oder Funktion, die auf nicht-antagonistische Weise formiert worden wäre. Alles soziale Sein ist durch die ontologische Dimension des Antagonismus geformt, selbst wenn das Wissen um seine antagonistische Natur in Vergessenheit geraten ist.[14] Das macht Antagonismus zum Dreh- und Angelpunkt einer Ontologie des Politischen. Nun gelangt mit der Behauptung seines Primats Antagonismus in offensichtliche Konkurrenz zu Imagination, der in der Castoriadis-Nachfolge der Primat zugesprochen wird. Aber handelt es sich tatsächlich um ein Konkurrenzverhältnis? Schon am Begriff der Entscheidung konnten wir sehen, dass Dezision mit Imagination nicht inkompatibel ist, ja dass die Kategorie der Imagination einerseits die Defizite eines reinen Dezisionismus zu beheben vermag und andererseits die Kategorie der Entscheidung den Imaginationstheorien ein realistisches Politikverständnis anbieten könnte. Damit verschleift sich die strikte Trennung zwischen, wie wir es behelfsmäßig genannt hatten, „harten“ und „weichen“ Konzepten der Sozialtheorie. Nun ist Entscheidung im politischen Sinn aber nur eine abgeleitete Funktion des Antagonismus. Die Wahl zwischen beliebigen Optionen etwa am Supermarktregal erfordert keine politische Entscheidung.[15] Eine politische Entscheidung impliziert die Unterdrückung einer mit Durchsetzungsmitteln ausgestatteten Position durch eine andere, wodurch der Raum der Möglichkeiten eingeschnürt und alternative Entscheidungspfade blockiert werden. Politische Entscheidungen finden also in antagonistischen Situationen statt.[16] Genau genommen hat das, was wir umgangssprachlich als „Entscheidung“ bezeichnen, wenn wir vor dem Supermarktregal stehen, wenig mit Entscheidung zu tun, es sei denn mit jenen vorausgehenden politisch-ökonomischen Entscheidungen, die die Produktpalette strukturieren.[17] Ohne Antagonismus keine Entscheidung. Und folglich: Ohne Antagonismus keine Imagination, denn die ist ein notwendiges Komplement von Entscheidung.

Das gilt freilich auch umgekehrt. Jeder Antagonismus erfordert Imagination. Denn an sich ist Antagonismus ja nur der Name für das Prinzip radikaler Negativität, das auf ontologischer Ebene über keinen Inhalt verfügt. Der Antagonismus markiert nur das bedrohliche Außen, das divergente Elemente zu einer Äquivalenzkette koalieren lässt. Soll diese Instanz reiner Negativität in der politischen Realität, also auf ontischer Ebene, vorgestellt werden, muss die Fakultät kollektiver Einbildungskraft zum Einsatz gelangen.[18] Erneut erweist sich, dass Imagination nicht nur demokratische oder unbedenkliche Vorstellungsinhalte hervorbringt. Harmonie ist nicht der Boden, auf dem Imagination am besten gedeiht. Die Imagination politischer Negativität kann Feindbilder aufrufen, die aus demokratischer Perspektive inakzeptabel sind, ja aus dem Raum legitimer Debatte ausgeschlossen werden müssen – was selbst wiederum nur über die Funktion des Antagonismus gelingt. Es ist also nicht so, dass Feindbilder, wie ein jede Alternative unter Populismusverdacht stellender Liberalismus behauptet, in allen Fällen inakzeptabel wären. Vielmehr stellt sich, so man dem Antagonismus nicht entkommen kann, die Frage, welche Feindbilder demokratisch akzeptabel sind, und genau darum drehen sich politische Auseinandersetzungen, die selbst wiederum Feindbilder hervorbringen. Wir können in der Politik nicht vermeiden, uns von reiner Negativität ein Bild zu machen. Aus ontologischer Perspektive bleibt diese Instanz bedrohlicher Negation, die eine Äquivalenzkette konstituiert, zwar inhaltlich leer, doch aus der Innenperspektive jener Kräfte, die sich zu einer Äquivalenzkette zusammengeschlossen haben, wird sie imaginär ausgestaltet.

Das erklärt, weshalb der Antagonismus nicht nur Imaginationskraft erfordert, um überhaupt operativ zu werden, sondern darüber hinaus Phantasmen gebiert, die über jede instrumentalistisch missverstandene Idee von Imagination hinausschießen. Oft erwecken gegenwärtige Imaginationstheorien in ihrem appellatorischen Überschwang den Eindruck, die emphatische Anrufung von Imagination würde schon ausreichen, damit alle Menschen ihren Imaginationsmotor anwerfen und eine nie zuvor ersonnene Alternative nach der anderen ausspucken. Die Realitätsferne dieser Vorstellung muss wohl nicht mehr unterstrichen werden. Imagination entzieht sich zu einem guten Teil unserem instrumentellen Zugriff. Der Antagonismus wird nicht nur imaginiert, er lässt uns imaginieren. Wir sind alles andere als Herrscher über unsere Imaginationskraft. Es sind die antagonistischen Situationen selbst, die affektgeladene Vorstellungen und Einbildungen hervorrufen, deren wir nicht Herr werden. Der Motor der Imagination wird nicht durch wohlmeinende Appelle oder die Lektüre der neuesten Imaginationsliteratur gestartet, sondern durch den Antagonismus selbst, d.h. die Erfahrung einer antagonistischen Situation. Phantasmen entspringen, wo wir, heideggerianisch gesagt, in den Antagonismus geworfen werden. Dann beginnt die Fakultät der Einbildungskraft heiß zu laufen, das Politische verschmilzt mit der Imagination, Kollektive formieren sich und die Kategorie der Aisthesis beginnt ihre Wanderung von der Wahrnehmungslehre und den schönen Künsten hin zur Ontologie des Politischen.


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About the author

Oliver Marchart

Oliver Marchart ist Univ.-Professor für Politische Theorie an der Universität Wien und PI des ERC Advanced Grant Projekts Prefiguring Democratic Futures. Cultural and Theoretical Responses to the Crisis of Political Imagination.

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Published Online: 2024-01-12
Published in Print: 2023-12-15

© 2023 Oliver Marchart, publiziert von De Gruyter

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Heruntergeladen am 27.12.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/para-2023-0025/html
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