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Kirchliche Leitung und ihre Strukturen

Veröffentlicht/Copyright: 1. Juni 2024
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Liebe Leserinnen und Leser,

wie Macht gestaltet, gehandhabt, geordnet wird, das unterscheidet sich je nach Kontext, Kultur und geschichtlicher Situation. Was der einen Generation selbstverständlich scheint, kann der übernächsten unbegreiflich sein. Noch komplizierter wird die Frage nach der Macht, wenn die Religion ins Spiel kommt. Als Israel sich einen König wünschte, wie ihn alle Nachbarvölker hatten, galt das als eine Abwendung von Gott (1 Sam 8). Als die Jesusjünger zur Kirche wurden, war zu klären, wie Macht innerhalb einer Gemeinschaft ausgeübt werden solle, in der es heißt: „Der Größte aber unter euch soll euer Diener sein“ (Mt 23,11). Unter dem provokanten Titel Petrus, die Kirche und die verdammte Macht beklagte der Göttinger Pastoralpsychologe Manfred Josuttis 1993 die kirchliche „Angst vor der Macht“ und plädierte für ein unverkrampfteres Verhältnis zu ihr, weil ohne den Umgang mit Macht keine Weltgestaltung möglich sei.

Wie aber soll Macht gestaltet, mit anderen Worten, wie soll Leitung ausgeübt werden? Hierauf hat die christliche Gemeinde in der gesamten Kirchengeschichte, beginnend im Neuen Testament, unterschiedliche Antworten gegeben, die sich zwischen steilen Hierarchien und konsensbasierten Verfahren (Quäker und ÖRK) bewegen. Auch hinsichtlich der theologischen Bedeutung, die den Leitungsstrukturen zugebilligt wird – gehören sie zum esse oder nur zum bene esse der Kirche? –, unterscheiden sich die Konfessionen. Das vorliegende Heft eröffnet ein konfessionell, geographisch und geschichtlich breites Panorama, um sich diesem Thema zu nähern.

Zunächst betrachtet Martin Bräuer die Leitungsstrukturen der römisch-katholischen Kirche auf verschiedenen Ebenen und untersucht insbesondere, welche neueren Entwicklungen sich in Lateinamerika und Deutschland ergeben haben.

Ähnlich hierarchisch wie die römische Kirche sind die deutschen Landeskirchen aufgebaut, doch tritt bei ihnen mit gewählten Synoden ein „parlamentarisches“ Prinzip hinzu, um einen politischen Begriff auszuleihen. Timo Schmidt fragt am Beispiel der EKD, ob eine Synode eine Glaubensressource sein könne.

In der ursprünglich kongregationalistisch verfassten deutschen Pfingstbewegung lässt sich in jüngerer Zeit unter dem Einfluss der „New Apostolic Reformation“ eine Hinwendung zu hierarchischeren Strukturen beobachten, eine Entwicklung, die Dirk Spornhauer untersucht.

Alexander Mramornov blickt in die Geschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche, die nach der Oktoberrevolution kurzzeitig ein System zur Ausübung kirchlicher Macht durch Synoden und einen Obersten Kirchenrat etablierte, an dem auch Laien beteiligt waren. Diese Strukturen waren aufgrund der bald einsetzenden politischen Bedrückung der Kirchen kurzlebig, sie wurden aber auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht wieder aufgegriffen – diesmal aus anderen politischen Gründen.

Von Russland aus nimmt uns Thomas Oduro mit nach Afrika, wo die meisten Kirchenleiter mangels Bildungsgelegenheiten kaum eine formale Ausbildung für ihre Leitungsaufgaben haben, obwohl sie Macht und Einfluss oft über Tausende, bisweilen auch über Millionen Gläubige ausüben. Hieraus sind in den Afrikanisch-Unabhängigen Kirchen zunehmend Leitungsstrukturen gewachsen, die auf geradezu vergötterte Führungsgestalten konzentriert sind.

Ebenfalls in die Geschichte blickt Mathias Eberle, der zeigt, wie die junge apostolische Bewegung Englands ihre Leitung bewusst nicht demokratisch gestaltete. Man sah sich als Gegenentwurf zu den erst wenige Jahre zurückliegenden demokratischen Experimenten der Französischen Revolution, die auf der Insel bei den einen Nachahmungswünsche auslösten und bei anderen als problematisch und gefährlich in Erinnerung geblieben waren.

In eigener Sache ist zu erwähnen, dass der MdKI seit dem letzten Heft eine neue Redaktion hat. Auf Dagmar Heller und Lothar Triebel folgen nun Kai Funkschmidt und Dominik Koy. Wie bisher wird die Zeitschrift aber weiterhin vom gesamten Team des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim gemeinsam gestaltet und erarbeitet. Wir wünschen Ihnen eine vergnügliche und erhellende Lektüre.

Kai Funkschmidt und Dominik Koy

Online erschienen: 2024-06-01
Erschienen im Druck: 2024-05-31

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 11.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/mdki-2024-0011/html
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