Rezensierte Publikation:
Felix Tacke, Sprachliche Aufmerksamkeitslenkung. Historische Syntax und Pragmatik romanischer Zeigeaktkonstruktionen (Analecta Romanica, 92), Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann, XIII + 616 p.
Zwei Komposita, die im Titel der hier zu beurteilenden Bonner Habilitationsschrift erscheinen, weisen die Arbeit als «typisch deutsches» Produkt aus: Aufmerksamkeitslenkung und Zeigeaktkonstruktionen. Auf diese beiden zentralen Termini wird gleich zurückzukommen sein. Zunächst einige Bemerkungen zur äußeren Form des Buches: Es umfasst über 600 Seiten; das Literaturverzeichnis enthält etwa ebenso viele Titel. Das Personenregister und ein umfangreiches Sachregister werden dafür sorgen, dass das Werk auch von Fachkollegen zur Kenntnis genommen wird, die Fachliteratur gewöhnlich nicht lesen, sondern «benutzen».
Der Verfasser definiert den Gegenstand und das Ziel seiner Studie wie folgt:
«Gegenstand der vorliegenden vergleichenden Studie ist die Ausdruckskategorie der Zeigeaktkonstruktionen in den romanischen Sprachen. Ihr Ausgangspunkt ist zunächst die universale, allgemein-kommunikative Funktion der Aufmerksamkeitslenkung sowie deren sprachlicher Ausdruck durch spezifische einzelsprachliche Mittel» [8].
Es geht um Ausdrücke oder Syntagmen wie ecce, voici, voilà, ecco, he aquí etc., die in der Literatur meist als «Präsentativkonstruktionen» berücksichtigt wurden. Der Verf. ist der Ansicht, dass die diskursstrukturierende Funktion, die diese Elemente aufweisen und die somit die Aufmerksamkeit der Textlinguisten auf sich gezogen haben, sekundär ist. Er möchte sich auf die primäre Konstruktion der Lenkung der Aufmerksamkeit des Empfängers auf bestimmte Gegenstände und Sachverhalte konzentrieren.
Als Musterbeispiele dienen dem Verf. ein Zitat aus dem Johannesevangelium und eine Äußerung Napoleons über Goethe [1–2].
Pontius Pilatus, der römische Statthalter von Palästina, soll, laut der Überlieferung im Johannesevangelium, den zur Kreuzigung verurteilten Jesus mit folgenden dem Publikum Worten vorgeführt haben:
«Ecce adduco vobis eum foras, ut cognoscatis quia nullam in eum invenio causam. [...] Et dicit eis: Ecce homo» (Novum Testamentum latine, Joh. 19, 4‒5).
‘Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm erkenne. [...] Und Pilatus spricht zu ihnen: Sehet, welch ein Menschʼ (Lutherübersetzung revidiert 2017).[1]
Am 2. Oktober 1808 soll Napoleon, als er Goethe in Weimar begegnete, gesagt haben: «Voilà un homme».
Die Arbeit besteht – abgesehen von der Einleitung und dem Schlusskapitel – in ihrem Kern aus vier umfangreichen Kapiteln: Im 2. Kapitel werden sprachliche Zeigeakte und Zeigeaktkonstruktionen definiert und im Anschluss daran in ihrer einzelsprachlichen Gestaltung beschrieben. Im dritten Kapitel soll gezeigt werden, «wie ein gegebener Sachverhalt durch romanische Zeigeaktkonstruktionen und deren Subfunktionen in je spezifischer Weise sprachlich gestaltet wird» [20]. Das vierte Kapitel untersucht, ausgehend von der Etymologie von lat. ecce, die Ursprünge von Zeigeaktkonstruktionen und bietet einen Überblick über die mittelalterlichen romanischen Zeigeelemente. Darüber hinaus wird die Diskussion über deren Etymologie verfolgt. Mit dem 5. Kapitel beginnt der diachrone Teil der Untersuchung. Zunächst wird im 5. Kapitel eine historisch-vergleichende Analyse der Zeigeaktkonstruktionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart geboten. Dabei wird – wie der Verf. auch an anderer Stelle immer wieder betont – zwischen den übereinzelsprachlich gültigen kognitiven Prinzipien und den historisch-kontingenten Funktionen unterschieden, die der jeweiligen einzelsprachlichen Gestaltung geschuldet sind (cf. [19‒20]). Das sechste Kapitel schließt sich an die vier Kernkapitel an und bietet auf knapp zehn Seiten eine Zusammenfassung, die keineswegs leichter lesbar ist als der Rest der Arbeit.
Die romanischen Sprachen werden nicht alle in gleichem Maß berücksichtigt. Im Zentrum stehen das Italienische, Französische, Spanische und Portugiesische. Das Katalanische und das Rumänische spielen eine weit geringere Rolle, mit einer Ausnahme, auf die gleich zurückzukommen sein wird. Bei den Beispielen aus der mittelalterlichen Literatur kommt auch die Sprache der Troubadours zum Zuge. Das Französische ist insofern privilegiert, als die Datenbank Frantext der Université de Lorraine eine nahezu unerschöpfliche Quelle für eine korpusgestützte Arbeit darstellt.
Darüber hinaus werden auch Beispiele aus anderen Sprachen herangezogen: Latein (in verschiedenen Varietäten), Deutsch, Englisch (besonders häufig). Im historischen Teil werden auch verschiedene arabische Varietäten sowie das Hebräische berücksichtigt.
Der Reichtum an Belegen aus den unterschiedlichsten Sprachen ist bewundernswert, bringt jedoch auch Probleme mit sich. Gleich zu Beginn des 2. Kapitels werden Beispiele für Bühlers zentrale Kategorien angeführt: demonstratio ad oculos, Deixis am Phantasma, Anapher (bzw. «Diskursdeixis»), auf die gleich zurückzukommen sein wird. Die Deixis am Phantasma wird anhand eines Passus aus einem katalanischen Roman von Lluís Ferran de Pol exemplifiziert. Das erleichtert nicht gerade die Lektüre für einen Leser mit begrenzter Kenntnis der romanischen Sprachen. Selbstverständlich ist nicht das Geringste dagegen einzuwenden, dass in einer so monumentalen Studie wie der hier vorgestellten auch «kleinere» Sprachen in Erscheinung treten. Wo es jedoch um für das Verständnis zentrale Kategorien geht, wäre ein Beispiel aus einer besser bekannten Sprache am Platz gewesen.
Der Begriff der «Aufmerksamkeitslenkung» hat eine gewisse Tradition, wie ein Blick in Georgesʼ Lateinisch-deutsches Handwörterbuch zeigt, ein Standardwerk, das Tacke nicht zitiert. Sub voce ecce liest man:
«[...] eine demonstrative Partikel, die entweder einfach auf eine Erscheinung hinweist, od. die Aufmerksamkeit auf die Betrachtung eines Gegenstandes hinrichtet, od. dem Geiste eine Sache vorführt, die sich plötzlich zeigte, od. etwas Neues, u. Unerwartetes andeutet» (Georges 141976 s.v. ecce).
Die Tatsache, dass unser Verfasser das Handwörterbuch von Georges nicht zitiert, ist nur insofern bemerkenswert, als er generell ungeheuer zitierfreudig ist. Auch die monumentale Darstellung der romanistischen Linguistik, die Jens Lüdtke kurz vor seinem Tod fertigstellen konnte (Lüdtke 2019), hat er gründlich ausgewertet, obwohl seine eigene Arbeit zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Werks schon weit fortgeschritten gewesen sein dürfte. Auf zwei Quellen der Arbeit muss hier besonders hingewiesen werden:
Erstens: Karl Bühlers Sprachtheorie, insbesondere das 2. Kapitel «Das Zeigefeld der Sprache und die Zeigewörter» mit der bereits erwähnten Unterscheidung zwischen demonstratio ad oculos, Anapher und Deixis am Phantasma, wo die Zeigewörter in ihren verschiedenen Verwendungsweisen als «Signale» von den «Nennwörtern» abgegrenzt werden, die als «Symbole» fungieren. In Bühlers allgemein bekanntem «Organonmodell» entsprechen die Symbole der Funktion der «Darstellung», die Signale derjenigen des «Appells».[2]
Zweitens: Zwei dem Paradigma der sog. «kognitiven Linguistik» zuzurechnende Forschungsansätze, die Cognitive Grammar von Ronald W. Langacker und die sog. «Konstruktionsgrammatik» von Adele E. Goldmann. Die Zeigeaktkonstruktionen sollen im Rahmen eines «erweiterten Zeichenbegriffs» als «Form-Bedeutungspaare» beschrieben und analysiert werden (cf. [9], sowie Langacker 2008 und Goldberg 2006).
Speziell die «Konstruktionsgrammatik» ist inzwischen von dem österreichischen Linguisten Hubert Haider einer vernichtenden Kritik unterzogen worden. Im Rahmen einer weit ausholenden wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung wirft Haider den beiden scheinbar antagonistischen Modellen, Chomskys Minimalist Linguistic Programm und Goldbergs Construction Grammar vor, es handele sich um Rückgriffe auf aus heutiger Sicht vorwissenschaftliche Positionen (cf. Haider 2018).
Es überrascht nicht sonderlich, dass Hubert Haider in der hier zu beurteilenden Arbeit weder im Literaturverzeichnis noch im Namenregister erscheint.
Nun aber zu den bereits kurz vorgestellten Kernkapiteln der Arbeit:
Das 2. Kapitel, «Sprachliche Aufmerksamkeitslenkung», wird mit weit ausgreifenden wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen eröffnet, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Im Mittelpunkt steht der Begriff der joint attention, die Fähigkeit zur gemeinsamen Aufmerksamkeit, die, wenn man den Biologen glauben darf, nur dem Menschen, noch nicht einmal den Primaten eigen ist. Michael Tomasello spricht in diesem Zusammenhang aus handlungstheoretischer Sicht von shared intentionality, von «Wir-Intentionalität» [26]. Nicht nur Biologen, sondern auch Philosophen und Sprachtheoretiker werden zur Stützung der umfangreichen, nicht immer leicht nachvollziehbaren Ausführungen herangezogen, sogar ein spätantiker Dialog, De magistro von Augustinus [29].
Bei den Zeigeaktkonstruktionen handle es sich, so der Verfasser, um eine universelle Ausdruckskategorie, daher ließen sich diese Konstruktionen im Hinblick auf ihre Inhaltsseite (damit dürfte wohl die Funktion gemeint sein) einzelsprachenübergreifend beschreiben [47]. Was nun die einzelsprachliche Gestaltung dieser Konstruktionen in formaler Hinsicht in den verschiedenen Sprachen betrifft, so werden vier Typen unterschieden, wobei der vierte Typ lediglich eine Erweiterung des dritten darstellt [51–76].
Der erste Typ besteht aus einem Zeigeaktelement und einer Nominalphrase, z. B. Voilà un homme; He aquí el Rey usw. Der Verfasser spricht von «Elementen», da die Festlegung auf eine Wortart problematisch ist; in der Literatur gibt es dazu recht unterschiedliche Ansichten.
Der zweite Typ weist eine komplexere Struktur auf: Adverb mit Lokalisierungsfunktion + Verben wie sein, estar, venir + Nominalphrase, z. B. Ahí está Enrique; There’s Harry; Aquí viene Enrique usw.
Der dritte Typ ist ähnlich strukturiert, enthält jedoch Verben vom Typ haben, tener, ter, z. B. Hier haben wir einen Sonderfall; Aquí tengo otros veinte duros de regalo.
Der vierte Typ stellt eine Erweiterung des dritten dar, über die Nominalphrase wird zusätzlich etwas ausgesagt: There’s Sally in front of her house; Me voici en train de jouir; Eccolo, di nuovo senza carta.
Im weiteren Verlauf des Kapitels wird anhand einer vom Leser kaum zu bewältigenden Fülle von Beispielen gezeigt, wie sich in den romanischen Sprachen formale Unterschiede zwischen den Zeigeaktkonstruktionen herausgebildet haben, auch da, wo die Ausdruckskategorie inhaltlich gleichbleibt. Aufgrund der unterschiedlichen Verwendungsweisen dieser Konstruktionen sind durch semantische Erweiterungsverfahren Subtypen entstanden (cf. supra die bereits geschilderte Erweiterung von Typ 3 zu Typ 4). Der Rezensent gesteht, dass er nicht alles ohne Weiteres nachvollziehen kann. Der Darstellung liegt der «von der Konstruktionsgrammatik operationalisierte Gestaltungsbegriff» [105] zu Grunde.
Das dritte Kapitel mit dem Titel «Sachverhaltsdarstellung und -inszenierung» wird durch ein Zitat von Georg von der Gabelentz eingeleitet, das besagt, dass jede Sprache, und sei sie noch so wenig entwickelt, es dem Sprecher erlaube, «einen ihm vorschwebenden Gedanken» in unterschiedliche Formen einzukleiden. Das Zitat ist unvollständig; der Nachsatz «es müsste sich denn um eine jener Alltäglichkeiten handeln, für die sich schnell ständige Formen einzustellen pflegen» wurde weggelassen. Die Formen, mit denen etwas «einheitliches Gemeintes» ausgedrückt werden kann, für das sich noch keine «ständige» Formulierung eingestellt hat, sind keineswegs synonym. Die unterschiedlichen sprachlichen Ausformungen der ursprünglichen Ausdrucksabsicht hängen von einer Reihe von Faktoren ab:
dem situativen Kontext;
dem sprachlichen Kontext, einschließlich der Diskurstradition;
der räumlichen und zeitlichen Stellung des Sprechers zum Sachverhalt;
der Haltung des Sprechers zum Sachverhalt;
dem beim Hörer intendierten Eindruck [107].
Es gilt das konstruktionsgrammatische Prinzip «no Synonomy of Gammatical Forms»: syntaktisch unterschiedliche Funktionen müssen notwendigerweise auch in semantischer und pragmatischer Hinsicht Verschiedenheiten aufweisen [111].
In einer verhältnismäßig knappen Übersicht werden fünf Gesichtspunkte ausgeführt, unter denen das Ausdrucksangebot der romanischen Zeigeaktkonstruktionen betrachtet werden soll:
Syntax der Aufmerksamkeitslenkung, d. h. die verschiedenen syntaktischen Einkleidungen von Zeigeaktkonstruktionen in den romanischen Sprachen;
Informationsstruktur, d. h. die Art du Weise, wie Kontext und das sprachliche Umfeld sich auf die Gestaltung des Sachverhalts auswirken;
Temporalität, Aspektualität und Diskursstruktur, d. h. der Zusammenhang, der zwischen Zeigeaktkonstruktionen und Sprech- bzw. Erzählmoment besteht;
Mirativität, d. h. pragmatische Konnotationen wie Überraschung, Unerwartetheit, Verärgerung usw., die Zeigeaktkonstruktionen anhaften können;
Präsentativkonstruktionen, d. h. die Fälle in denen mit Zeigeaktkonstruktionen nicht mehr als der bloße Hinweis auf die Anwesenheit eines Referenten ausgedrückt wird [112–113].
Alle diese Gesichtspunkte werden im Anschluss an die einführende Übersicht ausführlich erläutert. Der Verf. möchte zunächst «das breite Ausdrucksrepertoire der romanischen Zeigeaktkonstruktionen aus semasiologischer Perspektive erfassen». Um aber das «sich aus der Zeigeaktsemantik ergebende pragmatische Potenzial und die diskursiven Eigenschaften der einzelnen Konstruktionstypen» vergleichen zu können, sei ein ständiger Wechsel von semasiologischer und onomasiologischer Perspektive notwendig [113].
Der Rezensent erlaubt sich anzumerken, dass dieser ständige Wechsel der Darstellungsperspektive dem Leser (und sicherlich auch den Leserinnen) einiges abfordert. Eine weitere Herausforderung stellen die über hundert, z. T. sehr umfangreichen Fußnoten dar, die den wissenschaftstheoretischen Rahmen der Ausführungen des Verf. beleuchten und gleichzeitig von dessen bewundernswerten Belesenheit zeugen. Der Schwerpunkt liegt auf verschiedenen Ausprägungen der kognitiven Linguistik. Dazu kommen zahlreiche Hinweise auf Arbeiten eher traditioneller philologischer Ausrichtung. Ob damit ein gewisser Eklektizismus verbunden ist, wäre in einer genaueren Analyse zu klären.
Literarisch nicht völlig desinteressierte Leser seien darauf hingewiesen, dass die weit über hundert zum großen Teil aus literarischen Werken stammenden Beispiele des Kapitels die Gefahr in sich bergen, zu vom Thema abschweifenden Leseabenteuern zu verleiten.
Nun aber zum diachronen Teil der Arbeit, der aus dem vierten und dem fünften Kapitel besteht. Mit ihren knapp dreihundert Seiten sind diese beiden Kapitel allein umfangreich genug, um als Monographie gelten zu können.
Das vierte Kapitel «Historischer Ursprung. Die Herausbildung der lateinischen und romanischen Zeigeaktelemente» beginnt mit einem Zitat von Karl Brugmann, einem der führenden Junggrammatiker, der eine umfassende Untersuchung zur Bedeutungsgeschichte der indogermanischen (heute indoeuropäischen) Demonstrativpartikeln vorgelegt hat. Mit dem Terminus «Partikeln» wollte Brugmann ausdrücken, dass es sich um sprachliche Elemente handelt, die sich noch keiner der sich erst später konstituierenden Wortarten zuordnen lassen, da sie keine Flexionsmerkmale aufweisen. Bühler meinte, der wegwerfende Name «Partikel» drücke eine heute nicht mehr zeitgemäße Geringschätzung aus (cf. [249]). Der an sich schon recht ausführliche Titel des Kapitels ist «untertrieben»: Es werden auch Abstecher in den Bereich der semitischen Sprachen unternommen. Untersucht wird in diesem Kapitel nur der Typ 1 (cf. supra), d. h. die Kombination einer Zeigepartikel mit einer Nominalphrase: ecce homo. Der Verf. bemüht sich zu zeigen, dass Zeigeaktelemente in einer «vorgrammatischen» Zeit entstanden seien, in der sich noch keine Flexionsmerkmale herausgebildet hatten [248]. Ob mit dem Übergang von «vorgrammatisch» zu «grammatisch» nicht einfach ein typologischer Wechsel gemeint sein könnte (etwa von «isolierend» zu «flektierend») wagt der Rezensent nicht zu entscheiden.
Der Verlust an Expressivität, der mit der «Grammatikalisierung» der Zeigeaktelemente einher geht, wird von Gabriele Diewald als Übergang von «starker» zu «schwacher» Deixis beschrieben. Die starke Deixis stellt einen Bezug zwischen dem Zeigeaktelement (z. B. einem Demonstrativum) und dem Objekt her, die schwache Deixis dagegen lediglich einen Bezug zwischen einem sprachlichen Ausdruck und der Origo im Sinne Bühlers (Diewald 1991, 256).
Im weiteren Verlauf des Kapitels werden Zeigeaktkonstruktionen besprochen, die aus einer Kombination von ursprünglichen Zeigeaktelementen und Formen von Verben wie videre, habere oder captare entstanden sind. Ein einziges Beispiel aus dem Rolandslied muss zu Illustration genügen:
«Dreiz emperere, veiz me ci present:
Ademplir voeill vostre comandement» (v. 308–309)
‘Droit Empereur, me voici devant vous,
Tout prêt à remplir votre commandementʼ.
Die neufranzösische Übersetzung von Léon Gautier, die der Rezensent hinzugefügt hat, entspricht den etymologischen Angaben zu voici im Robert Historique. Veiz me ci ist eigentlich eine heute nicht mehr gebräuchliche Höflichkeitsform: «voyez moi ici».
Das fünfte Kapitel «Kontinuität und Wandel. Verwendungstraditionen, Formen, Funktionen» führt uns, wiederum anhand zahlreicher vorwiegend literarischer Beispiele, die bis ins 20. Jahrhundert reichen, in die nähere Vergangenheit.
Ein Beispiel soll in diesem Zusammenhang herausgegriffen werden, da es geeignet ist, die Akribie zu belegen, mit der der Verfasser bei seinen historischen Recherchen vorgegangen ist: die mündlichen Äußerungen des späteren Königs Louis XIII, die von dessen Leibarzt Jean Héroard aufgezeichnet wurden. Der künftige französische König verwendete als Kind noch die Formen vécy und velà, die vom Sprachnormierer Gilles Ménage als archaisch verworfen worden waren. Heute müsse man voici und voilà sagen (cf. [359–360]). Man darf vermuten, dass sich Louis XIII als König den zeitgenössischen Sprachnormen unterworfen hat.
In den sieben Unterkapiteln des fünften Kapitels wird der formale Wandel der romanischen Zeigeaktelemente vom Mittelalter bis heute dargestellt. Die Ausdruckskategorie, so der Verfasser, gründe zwar übereinzelsprachlich auf denselben Prinzipien, die konkrete einzelsprachliche Gestaltung dieser Funktion werde jedoch im Laufe der Zeit immer stärker von historisch-kontingenten Faktoren beeinflusst [534]. Dabei beschreiten die iberischen Sprachen einen «Sonderweg», da dort die durch ein lokalisierendes Adverb eingeleiteten Verb-Nominalphrase-Konstruktionen den älteren Typ zunehmend in den Hintergrund treten lassen:
«Pero aquí estoy yo ¡oh soberbio gigante!, contra quien no valen arrogantes palabras ni valerosas obras» (Don Quijote II, 10, zit. [479]).[3]
Es ist unmöglich, im Rahmen einer «lesbaren» Besprechung auf die Fülle der Beispiele im Einzelnen einzugehen. Felix Tacke hat eine «typisch deutsche» Qualifikationsschrift vorgelegt, die den sicherlich zahlreichen künftigen Leserinnen und Lesern einiges abfordert. Es handelt sich, dies sei nebenbei bemerkt, um eines der immer seltener in Erscheinung tretenden Zeugnisse einer Romanistik, die die romanischen Sprachen in ihrer Gesamtheit im Auge behält. Die umfangreichen Register dienen weniger der Lesbarkeit als der Benutzbarkeit der Arbeit. Der gesamte Band ist sehr sorgfältig gestaltet und in sprachlicher Hinsicht (abgesehen von einigen Ausnahmen, auf die hier nicht eingegangen werden soll) ohne Fehl und Tadel.
Zitierte Literatur
Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz, Stuttgart/New York, Fischer, 1982 (11934).Search in Google Scholar
Diewald, Gabriele, Deixis und Textsorten im Deutschen, Tübingen, Niemeyer, 1991.10.1515/9783111376400Search in Google Scholar
Georges, Karl Ernst, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Hannover, Hahnsche Buchhandlung, 141976.Search in Google Scholar
Goldberg, Adele E., Constructions at work. The nature of generalization in language, Oxford, Oxford University Press, 2006.10.1093/acprof:oso/9780199268511.001.0001Search in Google Scholar
Haider, Hubert, «Grammatiktheorien im Vintage-Look – Viel Ideologie, wenig Ertrag», in: Wöllstein, Angelika von/Gallman, Peter/Habermann, Mechthild/Krifka, Manfred (edd.), Grammatiktheorie und Empirie in der Germanistischen Linguistik, Berlin, De Gruyter, 2018, 47–92.10.1515/9783110490992-003Search in Google Scholar
Langacker, Ronald W., Cognitive grammar. A basic introduction, Oxford, Oxford University Press, 2008.10.1093/acprof:oso/9780195331967.001.0001Search in Google Scholar
Lüdtke, Jens, Romanistische Linguistik. Sprechen im Allgemeinen – Einzelsprache – Diskurs. Ein Handbuch, Berlin/Boston, De Gruyter, 2019.10.1515/9783110476651Search in Google Scholar
Luther 2017 = Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Revidiert 2017. Mit Apokryphen, Stuttgart, Deutsche Bibelgesellschaft, 2017.Search in Google Scholar
Novum Testamentum Latine. Textum Vaticanum, Stuttgart, Württembergische Bibelanstalt, 91961.Search in Google Scholar
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Aufsätze
- La «coberta volta» de Bernat de Rocafort: en torno al uso del monólogo interior de tipo deliberativo en la Crònica de Muntaner
- El doblete correcto/correcho y sus derivados en la diacronía del español
- Los pronombres interrogativos complejos del español el qué y lo qué
- La expresión de eventos de movimiento causativos mediante verbos de contacto por impacto en alemán y sus correspondencias en español
- En torno al pseudoanglicismo acuñado por traducción
- El español del qahal qadoš de Pisa (siglo XVII). Aspectos gráficos e implicaciones fónicas
- Nuevos usos para viejas formas: el caso de cualmente en judeoespañol
- L’amore coniugale nella tradizione lirica femminile oitanica: persistenze e discontinuità nelle Autres Balades di Christine de Pizan1
- The reflexes of Latin desinential rV in Romanian conjugation as examples of exaptive change
- Miszelle
- Port. lanchara/lancha, Sp. lancha, It. lancia ‘barca leggeraʼ e voci correlate
- Besprechungsaufsätze
- Comparative reconstruction, phonosymbolism and Romance etymology
- Il testo e la lingua della Divina Commedia e due nuove edizioni critiche del poema dantesco
- Besprechung
- Felix Tacke, Sprachliche Aufmerksamkeitslenkung. Historische Syntax und Pragmatik romanischer Zeigeaktkonstruktionen (Analecta Romanica, 92), Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann, XIII + 616 p.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Aufsätze
- La «coberta volta» de Bernat de Rocafort: en torno al uso del monólogo interior de tipo deliberativo en la Crònica de Muntaner
- El doblete correcto/correcho y sus derivados en la diacronía del español
- Los pronombres interrogativos complejos del español el qué y lo qué
- La expresión de eventos de movimiento causativos mediante verbos de contacto por impacto en alemán y sus correspondencias en español
- En torno al pseudoanglicismo acuñado por traducción
- El español del qahal qadoš de Pisa (siglo XVII). Aspectos gráficos e implicaciones fónicas
- Nuevos usos para viejas formas: el caso de cualmente en judeoespañol
- L’amore coniugale nella tradizione lirica femminile oitanica: persistenze e discontinuità nelle Autres Balades di Christine de Pizan1
- The reflexes of Latin desinential rV in Romanian conjugation as examples of exaptive change
- Miszelle
- Port. lanchara/lancha, Sp. lancha, It. lancia ‘barca leggeraʼ e voci correlate
- Besprechungsaufsätze
- Comparative reconstruction, phonosymbolism and Romance etymology
- Il testo e la lingua della Divina Commedia e due nuove edizioni critiche del poema dantesco
- Besprechung
- Felix Tacke, Sprachliche Aufmerksamkeitslenkung. Historische Syntax und Pragmatik romanischer Zeigeaktkonstruktionen (Analecta Romanica, 92), Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann, XIII + 616 p.