Rezensierte Publikation:
Saskia Eisenhardt, Silja Leinung, Uta Pohl-Patalong: Religionsunterricht gestalten in der digitalisierten Welt. Unter Mitarbeit von Antonia Lüdtke. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2024. 220 S. 29.00 €.
Man kann es bereits für ein starkes Signal halten, dass das bunte Cover des hier anzuzeigenden Bandes, laut den Verfasserinnen durch „Dalle-E“ [sic!] erstellt, sogleich die ganze religiöse Vielfalt eines Klassenzimmersettings zeigt. So schwebt über der tablet-nutzenden Schüler:innenschar und der offenkundig auskunftsfähig-zugewandten weiblichen Lehrkraft eine Weltkugel mitsamt unterschiedlichster Religionssymbole. Und ob es wohl von der generierenden Computersoftware „bewusst“ intendiert worden ist, dass in dieser Abbildung auch noch echte Bücher zu sehen sind, selbst wenn diese in der grauen Ecke des Klassenraumregals positioniert wurden? Gerne wüsste man den genauen Prompt, der zur Erschaffung dieses Titelbildes geführt hat. In jedem Fall lässt einen sowohl das Bild wie der Titel des Buches gespannt erwarten, wie sich die Verfasserinnen der komplexen und dynamischen Hybridität des Religionsunterrichts in Post-Corona-Zeiten widmen. Um es an dieser Stelle sogleich zu sagen: Der vorgelegte Band orientiert angesichts der aktuellen Herausforderungen für eine religiöse Bildung unter digitalen Bedingungen in differenzierender, prägnanter und weiterführender Weise.
Die Gliederung des Bandes stellt sich so dar, dass in insgesamt 10 thematisch orientierten Kapiteln, die von den drei Autorinnen jeweils eigenständig verantwortet sind, ein jeweiliger didaktisch relevanter Zentralbegriff definiert beziehungsweise näher bestimmt und auf seine gesellschaftlichen Hintergründe hin beleuchtet wird. Daran schließt sich in jedem Kapitel jeweils eine thematisch ausgerichtete theologische sowie religionspädagogische Reflexion zu eben jenem Begriff an. Von dort aus werden jeweils vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen des Religionsunterrichts im schulischen Kontext „didaktische Konsequenzen für den (von Digitalität geprägten) Religionsunterricht“ gezogen sowie praktische Impulse für das unterrichtliche Handeln präsentiert. So finden sich als Kapitelthemen die „Förderung der Subjektwerdung der Schüler:innen“, die „Ausrichtung auf die Lebenswelt“, die „Haltung des Zutrauens“, „religiös-weltanschauliche Vielfalt“, „Inklusion“, „Gendersensibilität“, der „Umgang mit Traditionen“, „religiöse Erfahrungen“, die Dimension der „Argumentations- und Urteilsfähigkeit“ sowie schließlich die „Förderung einer lebensfreundlichen Haltung“.
Führt man sich diese 10 thematischen Fokussierungen vor Augen, wird sehr schnell deutlich, dass die Autorinnen ihren Zugang zu den religionsdidaktischen Herausforderungen nicht etwa in spezifisch digitalitätsbezogenen Aspekten sehen. Sondern sie gehen vielmehr in grundsätzlichem Sinn von zentralen religionsdidaktischen Leitbegriffen und Zielsetzungen aus, die dann von den spezifischen Bedingungen einer Kultur der Digitalität aus näher beleuchtet und auf ihre Praxisorientierung hin durchbuchstabiert werden. Wichtig für diese Gesamtstruktur-, argumentation und -intention des Bandes ist, dass diese einzelnen thematischen Fokussierungen bewusst von Beginn an in den Kontext einer hochdynamischen „Kultur der Digitalität“ eingezeichnet werden. Diese Grundorientierung vermittelt über die Einleitung (7 bis 10) hinaus vor allem der von Antonia Lüdtke – sozusagen die vierte Autorin des Bandes – verantwortete Abschnitt „Digitalität begegnen“ (11 bis 31). Sie reflektiert im Modus eines systematischen Auftakts in der Perspektive digitaler Welterweiterung, Weltvernetzung und Welterkundung, wie sich „in der von Digitalität geprägten Welt“ (29) Formen der Kommunikation, Wissensvermittlung und Selbstdarstellung in religionsunterrichtlichen Zusammenhängen näher profilieren lassen. Daraus ergibt sich eine doppelte Denkaufgabe: „Einerseits müssen wir herausfinden, welche Kompetenzen für Lehr-Lernprozesse in der digitalen Welterweiterung relevant und aktuell sind. Andererseits müssen wir die identifizierten Kompetenzen immer wieder neu auslegen, konkretisieren und fachspezifisch kontextualisieren.“ (31)
Die oben bereits genannten thematischen Fokussierungen verbinden insofern nicht nur allgemeine, gesellschaftsbezogene und theologische Einordnungen mit didaktischen Konsequenzen, sondern diese werden interessanterweise auch mit der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft des Religionsunterrichts und der damit im Raum stehenden Kompetenzorientierung überhaupt verknüpft.
Viele Ausführungen innerhalb der einzelnen thematischen Kapitel ließen sich nun prinzipiell auch in einer eher allgemein gehaltenen Abhandlung zu einem qualitätsvollen und guten Religionsunterricht wiederfinden. So stellen etwa die Betonung der lebensweltlichen Dimension aller religiösen Bildung, die Zielsetzung der Selbstwirksamkeit, die Bedeutung des Theologisierens und des Bibliologs sowie der eingeforderte sensible Umgang mit faktischer Heterogenität keineswegs spezifische Herausforderung unter Bedingungen der Digitalität dar. Auch die jeweils genannten didaktischen Konsequenzen sind in vielen Fällen von eher allgemeiner Art, was sich darin zeigt, dass die jeweilige einschlägige Unterüberschrift jeweils eine markante Klammer mit sich führt und lautet: „Didaktische Konsequenzen für den (von Digitalität geprägten) Religionsunterricht.“
Und so finden sich einzelne spezifische Hinweise auf die besonderen Herausforderungen und Bedingungen des Religionsunterrichts unter digitalen Bedingungen bzw. die Verweise auf das Spezifikum „digitaler Logik“ (201) eher etwas eingestreut, so etwa, wenn es um die spezifische Dynamik von Autorität und Wahrheit (86), den Ansatz der „Diklusion“ (104), gesellschaftliche Machtverhältnisse (131 u. ö.), die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption (132, 155), die Thematisierung von Tradition „in anderem Gewand“ (140), die Frage des Einflusses von Digitalität auf die normative Dimension des Religionsunterrichts (185) oder auch Möglichkeiten der Partizipation auf Augenhöhe im Digitalen gegen alle Überwältigungsabsichten (199) geht. Zugleich finden sich auch ganz zu recht immer wieder kritische Bemerkungen gegenüber bestimmten Formen digital-medialer Bildung, die genau jene Möglichkeiten des „Selbstwirksamkeitserlebens“ (42) und der „Subjektwerdung“ (vgl. Kap. 1, 32–48) eher untergraben als befördern.
Die Autorinnen zeigen durch diese Zuspitzungen an, dass die Herausforderungen eines qualitätsvollen Religionsunterrichts unter digitalen Bedingungen keineswegs völlig neue sind, aber sowohl in Hinsicht auf das Gefahrenpotenzial wie auch den Chancenreichtum digitaler Kommunikationsformate gleichsam spezifische Dynamiken und auch Verschärfungen erfahren, mit denen es möglichst sensibel, aufmerksam und konstruktiv umzugehen gilt. Orientierend hierfür sind die durch die einzelnen Abschnitte hindurch immer wieder auffindbaren Grundelemente wie die einer „Hermeneutik des Zutrauens“ (so etwa 73) wie auch die Betonung der notwendigen „Förderung einer lebensfreundlichen Haltung“ (184 ff.).
Zudem wird ebenfalls durch die einzelnen Kapitel hindurch sehr deutlich, dass die Autorinnen das traditionelle Modell des konfessionellen Religionsunterrichts angesichts der Herausforderungen von Pluralität, Diversität und Heterogenität eher kritisch beurteilen und immer wieder deutlich für ein Modell plädieren, dass diese Grundherausforderungen sehr viel entschiedener und pluralitätsoffener anzugehen vermag. Dabei sprechen sie sich zugleich sehr dezidiert gegen die Reduktion des schulischen Religionsunterrichts auf eine reine Religionskunde aus (145 u. ö.).
Zu erwähnen ist in gewisser kritischer Weise, dass die jeweiligen unterrichtsbezogenen Impulse dann doch einerseits vergleichsweise abstrakt bleiben, zum anderen häufig nicht immer sehr fokussiert auf das weite Repertoire digitaler Unterrichtsmöglichkeiten und -medien zurückgreifen. Der zu Beginn gegebene Hinweis, dass man bewusst auf die Empfehlung konkreter digitaler Tools verzichtet habe, „weil sich diese zum einen beständig ändern und zum anderen die datenschutzrechtlichen Grundsätze zwischen den Bundesländern variieren“ (10), leuchtet dem Rezensenten nur bedingt ein, gerade wenn sich dieser Band auch als konkrete Orientierungshilfe für die Lehrkräfte des Religionsunterrichts versteht. Dass die Möglichkeiten einer thematischen Arbeit mit Phänomenen wie dem des religiösen Influencertums, des Metaversums, persönlich dienlicher Lebens-Avatare, religiöser Pflege- und Segensroboter, der Frage eines „unendlichen“ Lebens durch Formen künstlicher Intelligenz, der höchst ambivalenten, ökonomisch induzierten Attraktionskraft sozialer Medien und überhaupt die Frage bestimmter „social imaginaries“ digitaler Lebenswelten eher nur punktuell tangiert werden und daher als mögliche brennende Unterrichtsthemen etwas „untergehen“, ist angesichts der breiten wissenschaftlichen Debatte zu diesen Phänomenen überraschend.
Zudem ist es im Durchgang durch die einzelnen Kapitel dann teilweise etwas erwartbar, wenn immer wieder dieselben Methoden wie etwa der Einsatz von Whiteboards, die Erstellung digitaler Wortwolken und Collagen oder der Einsatz von bestimmten Post- und Chatformaten vorgeschlagen werden. Eine ganze Reihe von unterrichtspraktischen Vorschlägen, die benannt werden, würde man so oder so ähnlich auch im rein analogen Unterricht – natürlich aus guten didaktischen Gründen – erwarten können. Aber hier hätten insbesondere noch viel weiterreichende Möglichkeiten einer intensiven, selbstwirksamen digitalen Rezeption und Produktion – man denke etwa an die Generierung entsprechender digitaler Spiel- und Bildwelten – angesprochen werden können. Nichtsdestotrotz ist den Autorinnen unbedingt zuzustimmen, wenn sie für die konkrete digital-bildbezogene Arbeit im Horizont ihres Ansatzes dezidiert eine „Arbeit mit lebensfreundlichen Bildern und Gehalten“ (201) einfordern. Nicht zuletzt der Hinweis auf die Möglichkeit der Erstellung von „Psalmprompts“ (167) deutet hier die mögliche Vielfalt individueller kreativer Gestaltungsprozesse an.
Der Band endet mit einer kleinen Nachschlagerubrik unter der Überschrift „Religionsdidaktische Konzeptionen und Ansätze“ (205–220), in der nochmals in prägnanter Art die einzelnen unterschiedlichen religionsdidaktischen Profile charakterisiert werden, womit für Lehrkräfte die Möglichkeit der Orientierung und Selbstpositionierung eröffnet wird.
Besonders hervorzuheben ist, dass es den Verfasserinnen trotz der je individuell verantworteten Abschnitte gelingt, eine klar erkennbare Konsistenz der Gesamtargumentation, der verwendeten Begrifflichkeit sowie der religionsdidaktischen Gesamtzielrichtung zum Vorschein zu bringen. So finden sich die oben zentralen Schlüsselbegriffe fast durchgehend in den einzelnen Kapiteln wieder, wodurch sich ein überzeugendes Plädoyer für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht gerade durch die unterschiedlichen thematischen Beleuchtungen ergibt. Insofern markiert dieses Autorinnenkollektiv zugleich, dass sich eine gemeinsame religionsdidaktische Bearbeitung nicht etwa primär aus arbeitsökonomischen Gründen lohnt, sondern gerade deshalb, weil damit ganz offenkundig auch eine hohe wechselseitige Anregungskraft erzeugt und eine Produktivität der besonderen Art möglich wird. Und dass sowohl die religionsdidaktische Reflexion wie auch der konkrete Religionsunterricht ein erhebliches Wahrnehmungs- und Gestaltungspotential lebensfreundlicher Lebensbedingungen in einer Kultur der Digitalität hat, wird durch diesen Band eindrücklich deutlich.
© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Beiträge
- Erkenntnistransfer und Transferforschung als Aufgabe von Fachdidaktiken – Blick über den Zaun
- Das Projekt „Qualität und Qualitätsentwicklung im Religionsunterricht“ (QUIRU) – Bedeutung für die Praxis und das Theorie-Praxis-Problem empirischer Unterrichtsforschung
- Die Praxis des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts. Eine Bilanz vorliegender empirischer Erkenntnisse
- Bridging the Gap – Religionsdidaktische Unterrichtsforschung und -entwicklung im Design-Based Research (DBR)
- Praxeologie als Brücke zwischen religionspädagogischer Unterrichtsforschung und Praxis
- Die Studie „Praxis Religionsunterricht“ und ihr vielschichtiges Verhältnis zur Praxis des Religionsunterrichts
- Empirische Forschung als Beitrag zur Qualitätsentwicklung non-formaler religiöser Bildung. Befunde und Impulse aus der 3. Studie zur Konfi-Arbeit in Deutschland
- How can Research on Teaching and Teaching Religious Education Come Together? Experiences from England
- Das besondere Buch
- Friedrich Schweitzer: Lernen im Religionsunterricht. Was der RU leisten kann und wie er seine Ziele erreicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 314 S., € 25,00.
- Rezensionen
- Andrea Schulte: Sprache im Fachunterricht Religion. Ein Studien- und Arbeitsbuch. (utb 6205). Waxmann: Münster – New York 2024, 208 S., € 29,90
- Felicitas Held: Tod, Sterben und Trauer als Themen der Konfirmandenarbeit. Eine Studie zur Deutung und Bewältigung von Krisen- und Verlusterfahrungen im Jugendalter. (Praktische Theologie heute, Band 199), Stuttgart: Kohlhammer 2024, 400 S., € 69,00
- Saskia Eisenhardt, Silja Leinung, Uta Pohl-Patalong: Religionsunterricht gestalten in der digitalisierten Welt. Unter Mitarbeit von Antonia Lüdtke. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2024. 220 S. 29.00 €.
- Marie Hecke/Katharina Kammeyer/Anne Neumann (Hg.): Andere Geschichten erzählen: Ebenbildlichkeit, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie. Stuttgart: Kohlhammer 2024. ISBN 978-3-17-044504-8 [pdf-Datei zum Download] 167 S., 49,00 €.
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Beiträge
- Erkenntnistransfer und Transferforschung als Aufgabe von Fachdidaktiken – Blick über den Zaun
- Das Projekt „Qualität und Qualitätsentwicklung im Religionsunterricht“ (QUIRU) – Bedeutung für die Praxis und das Theorie-Praxis-Problem empirischer Unterrichtsforschung
- Die Praxis des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts. Eine Bilanz vorliegender empirischer Erkenntnisse
- Bridging the Gap – Religionsdidaktische Unterrichtsforschung und -entwicklung im Design-Based Research (DBR)
- Praxeologie als Brücke zwischen religionspädagogischer Unterrichtsforschung und Praxis
- Die Studie „Praxis Religionsunterricht“ und ihr vielschichtiges Verhältnis zur Praxis des Religionsunterrichts
- Empirische Forschung als Beitrag zur Qualitätsentwicklung non-formaler religiöser Bildung. Befunde und Impulse aus der 3. Studie zur Konfi-Arbeit in Deutschland
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- Das besondere Buch
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- Marie Hecke/Katharina Kammeyer/Anne Neumann (Hg.): Andere Geschichten erzählen: Ebenbildlichkeit, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie. Stuttgart: Kohlhammer 2024. ISBN 978-3-17-044504-8 [pdf-Datei zum Download] 167 S., 49,00 €.