Startseite Tracy, Rosemarie & Ira Gawlitzek. 2023. Mehrsprachigkeit und Spracherwerb. (Linguistik und Schule 10). Tübingen: Narr Francke Attempto. 168 S., 17,90 €, ISBN: 9783823382768
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Tracy, Rosemarie & Ira Gawlitzek. 2023. Mehrsprachigkeit und Spracherwerb. (Linguistik und Schule 10). Tübingen: Narr Francke Attempto. 168 S., 17,90 €, ISBN: 9783823382768

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Veröffentlicht/Copyright: 8. Februar 2025
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Tracy, Rosemarie & Ira Gawlitzek. 2023. Mehrsprachigkeit und Spracherwerb. (Linguistik und Schule 10). Tübingen: Narr Francke Attempto. 168 S., 17,90 €, ISBN: 9783823382768


Das Buch Mehrsprachigkeit und Spracherwerb von Tracy und Gawlitzek setzt sich mit Mehrsprachigkeit und insbesondere mit den Vorurteilen auseinander, die der mehrsprachige Spracherwerb häufig mit sich bringt. Die Autorinnen beschreiben, dass der mehrsprachige Spracherwerb keinesfalls mit mangelnder Sprachkompetenz einhergehen muss und dass diese Sicht aus sprachwissenschaftlicher Perspektive einer Korrektur bedarf.

In sieben Kapiteln geben Tracy und Gawlitzek die nötigen Hintergrundinformationen hierzu und schließen jedes dieser Kapitel mit einem knappen Fazit und Aufgaben, um Anregungen für Diskussionen und Übungen zum Verständnis der Inhalte zu bieten.

Das Buch bezieht sich hauptsächlich auf den „ungesteuerten Spracherwerb“ (S. 9), womit die Autorinnen den Spracherwerb außerhalb des Klassenzimmers bezeichnen. Dennoch richtet sich der Text vor allem an Lehrende und fordert diese mit fiktiven Beispielen dazu auf, die angesprochenen Phänomene auch im Klassenzimmer oder in Seminaren wahrzunehmen, in der Diskussion mit Schülern und Schülerinnen zu reflektieren und Konsequenzen für die eigene pädagogische Arbeit abzuleiten.

Das Anliegen des Buchs ist es damit auch, „angehenden oder bereits in der Praxis tätigen Lehrkräften grundlegendes Wissen über Spracherwerb und Mehrsprachigkeit zu vermitteln“, deren „Blick für die Systematik von Lernsprachen“ zu schärfen und die Fähigkeiten ebenso wie den Unterstützungsbedarf von Kindern und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen aufzuzeigen (S. 9). Demnach soll der Band nicht nur Grundlagenwissen vermitteln und sich mit gängigen Vorurteilen auseinandersetzen, sondern durch konsequente Kompetenzorientierung auch für die Anerkennung und Förderung sprachlicher Fähigkeiten bei Menschen jeden Alters plädieren. Die Autorinnen sprechen dabei gezielt Lehrkräfte an und bieten mit den Aufgaben (samt Lösungsvorschlägen) und Beispielen zu jedem Kapitel eine Lektüre, die praktische Anregungen, Diskussionsgrundlage und Lesestoff für den schulischen Unterricht und auch für Seminare unterschiedlicher Studiengänge bietet.

In Kapitel 1 Einstimmung und Überblick (S. 13–26) werden anhand von Beispielen grundlegende Begriffe wie mehrsprachig, bilingual und Herkunftssprache wie sie die Autorinnen für diesen Band verwenden und verstanden haben wollen, erläutert. Es wird in diesem Kapitel kurz auf die Erwerbstypen eingegangen, die in Kapitel 4 dann ausführlicher behandelt werden. Insbesondere in Bezug auf den Terminus Minderheitensprachen wird auf weiterführende Literatur verwiesen. Das Thema der Identität spielt in diesem Buch eine untergeordnete Rolle, was bei der Kürze des Werks auch nicht anders zu erwarten ist, denn wie die Autorinnen betonen, geht die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Identität wie andere, nur kurz erwähnte Begrifflichkeiten, die für Mehrsprachigkeit und Spracherwerb noch diskussionswürdig gewesen wären, „über die Anliegen dieses Buchs hinaus“ (S. 25). Nach eigener eingehender Untersuchung der Thematik (z. B. Siebenhütter 2022 und 2023) ist mir das nur allzu gut verständlich.

In Kapitel 2 Mehrsprachigkeit (S. 27–44) fassen die Autorinnen knapp und prägnant zusammen, welche Vorurteile und Halbwissen sich zu Mehrsprachigkeit – z. B. die Doppelte Halbsprachigkeit im Sinne einer nicht altersgemäßen Sprachentwicklung durch mehrsprachiges Aufwachsen (S. 32) – finden und begegnen diesen auch gleich mit Fakten aus der Mehrsprachigkeitsforschung. In einem Fazit zu diesem Kapitel wird Mehrsprachigkeit als ein idealer Forschungsgegenstand an der Schnittstelle unterschiedlicher linguistischer Perspektiven bezeichnet, die wie bereits an einigen anderen Stellen beschrieben als „Normalfall und nicht als bedrohliche Abweichung von einem fiktiven monolingualen Idealzustand“ (S. 43) zu verstehen ist.

Im dritten Kapitel (S. 47–66) wird auf das Thema Sprache und die Frage, was genau im Spracherwerb erworben wird, eingegangen und die einzelnen Bereiche wie Syntax, Wortschatz und Phonologie anhand von Beispielen diskutiert.

In Kapitel 4 werden Szenarien des Spracherwerbs vorgestellt. Dabei unterscheiden die Autorinnen u. a. den doppelten Erstspracherwerb und den frühen Zweitspracherwerb sowie den Zweitspracherwerb nach der frühen Kindheit und im Erwachsenenalter voneinander.

In Kapitel 5 wird der Terminus Literacy (S. 113–130), worunter die Autorinnen die Lese- und Schreibfähigkeit verstehen, erläutert und mit Beispielen illustriert. Das Kapitel bildet im Vergleich zu den restlichen Kapiteln insofern eine Ausnahme, als recht ausführlich auf mögliche Zusammenhänge von Schriftspracherwerb und Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit eingegangen wird. Nicht deutlich (genug) wird aus meiner Sicht darauf hingewiesen, dass Mehrschriftigkeit und Mehrsprachigkeit gut getrennt voneinander betrachtet und untersucht werden können (und ggf. auch sollten) und dass Spracherwerb nicht zwangsläufig mit dem Erwerb des zugehörigen Schriftsystems einhergehen muss.

Kapitel 6 (S. 131–141) beschäftigt sich mit mehrsprachigen Ressourcen im Diskurs, wobei ganz knapp die Entlehnung (Borrowing) und anhand von Beispielen auch Formen des Mixing im Diskurs angesprochen werden.

In Kapitel 7 (S. 143–151) schließlich unterstreichen die Autorinnen mit dem Titel Schulpflicht für Sprachen! ihre Ansicht, „dass Schulen Orte sind, an denen alle Sprachen willkommen sein sollten“ (S. 143), nicht zuletzt, da ihre Präsenz ohnehin nicht zu verhindern sei. Diese Ressource der Mehrsprachigkeit sei zu nutzen und nicht zu unterdrücken. Das Kapitel schließt mit einem Vorschlag zum „Perspektivwechsel“ (S. 149–151) und der Aufforderung, sich an die eigene Schulzeit zu erinnern und somit in die Lernenden hineinzuversetzen sowie sich die Kernbotschaft, dass Lehren insbesondere auch schön sein kann und soll, präsent zu halten.

Im Literaturverzeichnis ab S. 159 werden die im Text genannten Quellen gelistet.

Was den Umfang und die Tiefe angeht, schließe ich mich Hufeisen (2024) an, die feststellt, dass die einzelnen Aspekte nur sehr knapp angesprochen werden und nicht zuletzt durch die daraus entstehende Dichte wohl nur von bereits mit der Materie gut vertrauten Lesern und Leserinnen mit Gewinn gelesen werden können. Da sich die Reihe Linguistik und Schule, in der der Band erschienen ist, vor allem an (Lehramts-)Studierende, Referendare und zur Fortbildung für Lehrende richtet, ist es sicher angemessen, eine gewisse Vertrautheit mit den Grundlagen vorauszusetzen. Der Leserschaft soll mit dem Buch erleichtert werden, vorhandene Kompetenzen einzuschätzen und Konsequenzen für die pädagogische Arbeit zu ziehen. Vermittelt werden Grundkenntnisse über den Spracherwerb unter unterschiedlichen Erwerbsbedingungen, wobei Erstspracherwerb neben weiteren Erwerbsszenarien und die damit verbundenen Herausforderungen angesprochen werden.

Das Buch betont einmal mehr, dass sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Mehrsprachigkeit den Normalfall darstellt. Zugleich wird erläutert, an welchen Stellen diese Realität insbesondere in Bildungseinrichtungen, in der Öffentlichkeit und nicht selten auch bei den Mehrsprachigen selbst auf Vorurteile oder gar Hindernisse trifft. Basierend auf neueren Ergebnissen aus der Forschung zielt das Buch darauf ab, im pädagogischen Bereich Tätigen einen Einblick in die sprachlichen Fähigkeiten und in die Dynamik von Erwerbsprozessen bei Kindern und Erwachsenen zu geben.

Mit der Einschränkung, dass sich der Band an gut eingearbeitete Leser und Leserinnen wendet und nicht als Grundlage für jene gedacht ist, die sich erstmalig in das Thema einlesen möchten, ist Mehrsprachigkeit und Spracherwerb ein sehr gut geeignetes Werk, um einen raschen Überblick mit zahlreichen Anregungen für die vertiefte Beschäftigung mit der komplexen Thematik zu erhalten. Insbesondere die Aufgaben, Anregungen zu Diskussionen und die vorgeschlagenen Projekte und Hinweise zum Weiterlesen seien hier hervorgehoben. Diese machen das Buch zu einem kompakten Nachschlagewerk, das für spezifische Terminologien und anschauliche Beispiele mehrsprachiger Sprachproduktion immer wieder einmal zu Rate gezogen werden kann.

Literatur

Hufeisen, Britta. 2024. Rezension: Tracy, Rosemarie & Gawlitzek, Ira (2023): Mehrsprachigkeit und Spracherwerb. Tübingen: Narr, Francke, Attempto. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 29: 1, 435–437. https://doi.org/10.48694/zif.3910.Suche in Google Scholar

Siebenhütter, Stefanie. 2023. The multilingual profile and its impact on identity: Approaching the difference between multilingualism and multilingual identity or linguistic identity. Ampersand 10 (2023), 100123. https://doi.org/10.1016/j.amper.2023.100123Suche in Google Scholar

Siebenhütter, Stefanie. 2022. Mehrsprachigkeit und Identität. Zur Identitätskonstruktion mehrsprachiger Minderheiten am Beispiel der Kui in Nordostthailand (Schriften zur Vergleichenden Sprachwissenschaft 36). Hamburg: Verlag Dr. Kovač.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-02-08
Erschienen im Druck: 2025-03-13

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter im Auftrag der Gesellschaft für Angewandte Linguistik

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit im Vorbereitungsdienst: Ausgestaltungs-prozesse in der Lehrkräftebildung zwischen Curriculum und Institution
  4. „Besser Gas aus dem Westen als aus dem Osten. Kanada ist ein sympathischer Lieferant“ – Zur Verknüpfung des Topos der geteilten Werte mit aktuellen Narrativen des Energiedispositivs. Eine kleine empirische Studie
  5. Explikationen als Mittel der Verstehens-sicherung in Arzt-Patienten-Gesprächen in der Onkologie
  6. Mehrebenenannotation argumentativer Lerner*innentexte für die automatische Textauswertung
  7. Würzburger Thesen zur Angewandten Sprachwissenschaft
  8. Lebensereignisse im Bildungsbereich als Erklärung für individuellen Sprachwandel
  9. Rezension
  10. Wild, Johannes & Wildfeuer, Alfred (Hrsg.). 2019. Sprachendidaktik. Eine Ein- und Weiterführung zur Erst- und Zweitsprachdidaktik des Deutschen. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag (Narr Studienbücher). 302 S. 29,99 €, ISBN 978-3-8233-8202-7.
  11. Wolf-Farré, Patrick, Lucas Löff Machado, Angélica Prediger & Sebastian Kürschner (Hrsg.). 2023. Deutsche und weitere germanische Sprachminderheiten in Lateinamerika. Grundlagen, Methoden, Fallstudien (=MinGLA-Minderheiten germanischer Sprachen in Lateinamerika/ Minorías de lenguas germánicas en Latinoamérica, Band 1). Berlin: Lang. 396 S., 79,95 €, ISBN 978-3-6318-2600-3
  12. Tracy, Rosemarie & Ira Gawlitzek. 2023. Mehrsprachigkeit und Spracherwerb. (Linguistik und Schule 10). Tübingen: Narr Francke Attempto. 168 S., 17,90 €, ISBN: 9783823382768
  13. Könning, Benjamin. 2021. Peer-Gespräche in der Schule. Beobachtungen zum mündlichen Sprachgebrauch im Spannungsfeld zwischen Institution und Identitätsentwicklung im Jugendalter (Sprache – Kommunikation – Kultur 25). Berlin: Lang. 358 S., 77,85 €, ISBN: 978-3-6318-4520-2
  14. Angebote zur Rezension
Heruntergeladen am 29.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zfal-2025-2008/html
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