Große sozial- und gesellschaftstheoretische Entwürfe laden zu kritischer Auseinandersetzung ein. Im vorliegenden Heft sind es die Besprechungen von drei sozialtheoretischen Büchern, in denen dies zum Ausdruck kommt: von Joachim Fischers „Tertiarität: Studien zur Sozialontologie“, von Wolfgang Knöbls „Die Soziologie vor der Geschichte: Zur Kritik der Sozialtheorie“ und von Alain Caillés „Das Paradigma der Gabe: Eine sozialtheoretische Ausweitung“. Gerhard Wagner widerspricht Wolfgang Knöbls These, dass die Sozial- und Geschichtswissenschaften nicht ohne geschichtsphilosophische Vorannahmen auskommen. Frank Hillebrandt wirft Alain Caillé vor, dass dessen Versuch einer Weiterentwicklung der Gabentausch-Theorie von Marcel Mauss „viel zu sehr der Kritik am Utilitarismus verhaftet bleibt“. Christoph Gesigora, Karl Lenz und Thorsten Peetz, die Rezensenten des Symposiums, zeigen sich alle drei skeptisch gegenüber Joachim Fischers Anspruch, dass die Figur des Dritten in der Sozialtheorie den Stellenwert eines Paradigmenwechsels beanspruchen könne. Während Gerhard Wagner die von Wolfgang Knöbl behauptete Notwendigkeit geschichtsphilosophischer Vorannahmen bereits aus argumentationslogischen Gründen ablehnt und deshalb wenig Bedarf sieht, sich mit Knöbls Betrachtungen im Einzelnen auseinanderzusetzen, ist es in den Besprechungen von Frank Hillebrandt, Christoph Gesigora, Karl Lenz und Thorsten Peetz die inhaltliche Auseinandersetzung mit den sozialtheoretischen Argumenten und sind es die eigenen sozialtheoretischen Positionierungen, die ihre kritischen Auseinandersetzungen lesenswert und lehrreich machen.
So speist sich die Kritik von Frank Hillebrandt an Alain Caillé wesentlich aus seiner (Hillebrandts) an Bourdieu orientierten praxistheoretischen Positionierung. Aus dieser Position kritisierte er Caillés aus der Abgrenzung vom Utilitarismus gewonnene moralische Argumentation und widerspricht er der Forderung nach einer normativen Fundierung der Soziologie entschieden. Ob es die Praktiken selbst schon richten werden, wie es in der Argumentation von Hillebrandt halb ausgesprochen mitschwingt, kann wiederum selbst Gegenstand kritischer Auseinandersetzung werden.
Von den Symposiumsbeiträgen ist es insbesondere der Beitrag von Christoph Gesigora, der seine Kritik auf einer konkurrierenden sozial- und gesellschaftstheoretischen Grundlage aufbaut, nämlich der Luhmann‘schen. Nun ist es bekanntlich häufig sinnlos, Theoriedispute von heterogenen theoretischen Grundpositionen aus zu führen, dann nämlich, wenn das Einzige, was sich dabei entdecken lässt, die nicht vereinbaren Grundpositionen sind. In diesem Fall aber ist dies anders, weil Fischer selbst seine theoretische Position an unterschiedlichen Punkten in Auseinandersetzung mit sozial- und gesellschaftstheoretischen Positionen Luhmanns präsentiert. So ist es für Fischer eine der zentralen Implikationen des Einbaus der Figur des Dritten in die Sozialtheorie, dass von doppelter Kontingenz – Luhmanns Grundproblem sozialer Ordnungsbildung – auf dreifache Kontingenz umgestellt werden müsse. Christoph Gesigora wie auch Thorsten Peetz kritisieren an diesem Punkt meines Erachtens völlig richtig, dass für die Formulierung des Grundproblems sozialer Ordnungsbildung doppelte Kontingenz völlig ausreicht und dreifache Kontingenz nichts Neues hinzufügt. Thorsten Peetz steuert die scharfsinnige Beobachtung bei, dass dies nicht zuletzt daran liegt, dass die von Fischer in Anschlag gebrachten „Figuren des Dritten [...] immer bereits Lösungen und nicht konstitutive Elemente des Grundproblems der Bildung sozialer Ordnung [sind]“.
Alle drei Rezensenten sind sich darin einig, dass es im sozialen Leben eine Vielzahl triadischer Konstellationen gibt, die nicht-reduzierbar sind, sich also nicht analytisch in dyadische Konstellationen zerlegen lassen. „Dass Dritte soziologisch ernst zu nehmen sind“, so Thorsten Peetz, „steht also außer Frage“. Alle drei Rezensenten sind sich zugleich aber auch darin einig, dass wir es mit einer Vielfalt unterschiedlicher triadischer Konstellationen zu tun haben – Karl Lenz verweist etwa, die von Fischer angesprochen Eltern-Kind-Triade aufgreifend, auf die „Fülle möglicher Drittenfiguren in Familien“ –, die zudem situations-, positions- und beobachtungsabhängig veränderlich sein können. Sie alle unter eine Theorie des Dritten – und noch dazu eines personalen Dritten – subsummieren zu wollen, stellt sich für alle drei Rezensenten demensprechend als ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen dar. Am Rande taucht in den Rezensionen von Karl Lenz und von Christoph Gesigora eine Frage auf, die mich selbst (wenn auch eher in Auseinandersetzung mit Gesa Lindemann) immer mal wieder beschäftigt hat: Warum dieser Fokus auf personale Dritte in Gegenwartsgesellschaften, die geprägt sind von einer Vielfalt nichtpersonaler Institutionalisierungen von Drittenpositionen?
Neben dem Symposium zu Fischers Tertiarität, dem Essay zu Knöbls Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen Vorannahmen und der Einzelbesprechung zu Caillés Paradigma der Gabe enthält das Heft eine kunstsoziologische Sammelbesprechung von Lutz Hieber, eine Sammelbesprechung von Catharina Peeck-Ho über aktuelle Beiträge zur Regierung von Migration und eine Doppelbesprechung von Walther Müller-Jentsch über neue Studien zur Kritischen Theorie. Insgesamt elf Einzelbesprechungen zu Neuerscheinungen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Soziologie von Arbeit über Hinterhältigkeit und Privatheit bis Theoriegeschichte vervollständigen dieses Heft. Doch lesen Sie selbst.
© 2023 Ingo Schulz-Schaeffer, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Der Dritte und die Leerstelle, die keine ist
- Dritte, mikrosoziologisch
- Eins, zwei oder drei – benötigt die soziologische Theorie einen Paradigmenwechsel?
- Essay
- „Der Geschichtsphilosophie entkommt man nicht.“ Ein Nano-Essay zur Soziologie vor der Geschichte
- Sammelbesprechungen
- Kunstsoziologie von den Beaux-Arts bis zur Pop- und Rockmusik
- Wider den methodologischen Nationalismus in der Migrationsforschung?
- Doppelbesprechung
- Neue Studien zur Kritischen Theorie
- Einzelbesprechung Arbeit
- Jule Elena Westerheide, Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit: Arbeit und Entgelt von Sekretärinnen. Frankfurt/New York: Campus 2021, 413 S., br., 39,95 €
- Einzelbesprechung Asyl
- Christian Lahusen / Karin Schittenhelm / Stephanie Schneider, Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln: Zur Behördenpraxis in Deutschland und Schweden. Bielefeld: transcript 2022, 334 S., kt., 30,00 €
- Einzelbesprechung Gabe
- Alain Caillé, Das Paradigma der Gabe: Eine sozialtheoretische Ausweitung. Bielefeld: transcript 2022, 320 S., kt., 29,50 €
- Einzelbesprechung Geschlecht
- Stefanie Aunkofer, Väter in Elternzeit: (Nicht-)Anerkennung von Familien- und Erwerbsarbeit bei Paaren. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2022, 359 S., kt., 50,00 €
- Einzelbesprechung Hinterhältigkeit
- Peter Imbusch (Hrsg.), Soziologie der Hinterhältigkeit. Weinheim: Beltz Juventa 2021, 364 S., kt., 29,95 €
- Einzelbesprechung Individualisierung
- Michael Röhrig / Thomas Kron / Yvonne Nehl / Felix Naglik (Hrsg.), Individualisierung und Schule. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022, 204 S., kt., 26,00 €
- Einzelbesprechung Mobilität
- Katharina Manderscheid, Soziologie der Mobilität. Bielefeld: transcript 2022, 250 S., kt., 22,00 €
- Einzelbesprechung Nachhaltigkeit
- Julia Zilles / Emily Drewing / Julia Janik (Hrsg.), Umkämpfte Zukunft: Zum Verhältnis von Nachhaltigkeit, Demokratie und Konflikt. Bielefeld: transcript 2022, 432 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Nationalsozialismus
- Paul Windolf / Christian Marx, Die braune Wirtschaftselite: Unternehmer und Manager in der NSDAP. Frankfurt am Main: Campus 2022, 457 S., br., 39,00 €
- Einzelbesprechung Privatheit
- Carsten Ochs, Soziologie der Privatheit. Informationelle Teilhabebeschränkung vom Reputation Management bis zum Recht auf Unberechenbarkeit. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022, 560 S., br., 59,90 €
- Einzelbesprechung Theoriegeschichte
- Heike Delitz (Hrsg.), Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Wiesbaden: Springer VS 2022, 523 S., ebook, 34,99 €
- Nachruf
- Die Farben der Soziologie
- Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Der Dritte und die Leerstelle, die keine ist
- Dritte, mikrosoziologisch
- Eins, zwei oder drei – benötigt die soziologische Theorie einen Paradigmenwechsel?
- Essay
- „Der Geschichtsphilosophie entkommt man nicht.“ Ein Nano-Essay zur Soziologie vor der Geschichte
- Sammelbesprechungen
- Kunstsoziologie von den Beaux-Arts bis zur Pop- und Rockmusik
- Wider den methodologischen Nationalismus in der Migrationsforschung?
- Doppelbesprechung
- Neue Studien zur Kritischen Theorie
- Einzelbesprechung Arbeit
- Jule Elena Westerheide, Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit: Arbeit und Entgelt von Sekretärinnen. Frankfurt/New York: Campus 2021, 413 S., br., 39,95 €
- Einzelbesprechung Asyl
- Christian Lahusen / Karin Schittenhelm / Stephanie Schneider, Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln: Zur Behördenpraxis in Deutschland und Schweden. Bielefeld: transcript 2022, 334 S., kt., 30,00 €
- Einzelbesprechung Gabe
- Alain Caillé, Das Paradigma der Gabe: Eine sozialtheoretische Ausweitung. Bielefeld: transcript 2022, 320 S., kt., 29,50 €
- Einzelbesprechung Geschlecht
- Stefanie Aunkofer, Väter in Elternzeit: (Nicht-)Anerkennung von Familien- und Erwerbsarbeit bei Paaren. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2022, 359 S., kt., 50,00 €
- Einzelbesprechung Hinterhältigkeit
- Peter Imbusch (Hrsg.), Soziologie der Hinterhältigkeit. Weinheim: Beltz Juventa 2021, 364 S., kt., 29,95 €
- Einzelbesprechung Individualisierung
- Michael Röhrig / Thomas Kron / Yvonne Nehl / Felix Naglik (Hrsg.), Individualisierung und Schule. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022, 204 S., kt., 26,00 €
- Einzelbesprechung Mobilität
- Katharina Manderscheid, Soziologie der Mobilität. Bielefeld: transcript 2022, 250 S., kt., 22,00 €
- Einzelbesprechung Nachhaltigkeit
- Julia Zilles / Emily Drewing / Julia Janik (Hrsg.), Umkämpfte Zukunft: Zum Verhältnis von Nachhaltigkeit, Demokratie und Konflikt. Bielefeld: transcript 2022, 432 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Nationalsozialismus
- Paul Windolf / Christian Marx, Die braune Wirtschaftselite: Unternehmer und Manager in der NSDAP. Frankfurt am Main: Campus 2022, 457 S., br., 39,00 €
- Einzelbesprechung Privatheit
- Carsten Ochs, Soziologie der Privatheit. Informationelle Teilhabebeschränkung vom Reputation Management bis zum Recht auf Unberechenbarkeit. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022, 560 S., br., 59,90 €
- Einzelbesprechung Theoriegeschichte
- Heike Delitz (Hrsg.), Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Wiesbaden: Springer VS 2022, 523 S., ebook, 34,99 €
- Nachruf
- Die Farben der Soziologie
- Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)