Rezensierte Publikation:
Joachim Fischer, Tertiarität: Studien zur Sozialontologie. Weilerswist: Velbrück 2022, 324 S., br., 34,90 €
Die Dyade als Grundform des Sozialen aufzufassen, ist verbreitet. Auffällig ist dabei, dass selbst Theorieprogramme, die auf das Arbeitsfeld der Makrosoziologie ausgerichtet sind, mit dieser mikrosozialen Grundfigur beginnen. Das trifft auf Webers verstehende Soziologie mit seinem Grundbegriff des sozialen Handelns ebenso zu wie für Parsons‘ voluntaristische Handlungstheorie. Auch bei Luhmann (1994) wird die soziale Systembildung auf der doppelten Kontingenz von Ego und Alter Ego fundiert. Anders als Weber und Parsons ignoriert dieser mit dem Theorem der Ebenendifferenzierung jedoch nicht das Arbeitsfeld der Mikrosoziologie, wenngleich sein Theorieinteresse deutlich stärker auf ‚Gesellschaft‘ als auf ‚Interaktion‘ ausgerichtet ist. Selbst in der Mikrosoziologie ist es – zumindest in den Anwendungsbeispielen – verbreitet, eine Interaktion auf zwei Personen zu beschränken (vgl. z. B. Maiwald & Sürig, 2018). Gegen diese Festlegung auf eine dyadische Figuration als Grundeinheit wendet sich Joachim Fischer im vorliegenden Buch und fordert entschieden einen Paradigmenwechsel. Eingebettet ist dies in die grundlegende Frage nach der Bestimmung des Sozialen, die die Sozialtheorie oder – in Bezug auf die Philosophie – die Sozialontologie in Abgrenzung zu Natur oder Psyche zu beantworten habe. Stattdessen plädiert Fischer dafür, die Figur des Dritten bzw. Tertiarität als Grunddimension der Sozialität aufzufassen. Fischer verknüpft damit unmittelbar eine weitere Grundentscheidung: Er positioniert sich gegen Transsubjektivitätstheorien bzw. – in anderer Terminologie – gegen den Holismus und den damit verbundenen Vorrang des Kollektiven und entscheidet sich stattdessen für Intersubjektivitätstheorien bzw. den methodologischen Individualismus oder Atomismus. Zum Ausdruck kommt dies im wiederholt vorgetragenen Verweis, dass es sich beim Dritten in dem hier zugrundeliegenden Verständnis immer um „eine personale oder positionale Größe“ (S. 8) handelt. „Den Dritten oder Tertiarität zu thematisieren, bedeutet einen Schritt über Identität und Alterität hinaus“ (S. 89). Diese Figur ist „kein weiterer Anderer“. „Der/die Dritte“ stellt in der „Position von ‚Er‘ oder ‚Sie‘ [...] sozialontologisch ein Novum an Figuren und Funktionen der Vergesellschaftung [dar], die nicht noch einmal kategorial durch einen Vierten oder Fünften überboten werden“ (S. 8; H.i.O.). Ausdrücklich wird betont, dass damit nicht das Objekt gemeint sei, über das sich Ego und Alter Ego verständigen, und auch nicht das Medium (Sprache, System), indem sie sich treffen. Diese Umstellung von einer dyadischen zu tertiären Grundkonzeption hat für zentrale soziologische Theoreme weitreichende Folgen. Wie gezeigt wird, muss das von Mead stammende Theorem des generalisierten Anderen zu einem generalisierten Dritten (vgl. S. 155–157) und das vor allem von Parsons und Luhmann eingebrachte Theorem der doppelten Kontingenz zu einer dreifachen Kontingenz (vgl. S. 221–223) modifiziert werden. Neben dieser Grundlegung der Sozialtheorie geht es Fischer in diesem Buch vor allem darum, die Hauptargumente für diesen Paradigmenwechsel sowie die Vorteile und Gewinne für die Theoriebildung aufzuzeigen, die damit verknüpft sind. Für letzteres greift der aus der Philosophischen Anthropologie kommende Autor – Fischer ist, wie er in zahlreichen Publikationen (z. B. 2016) eindrucksvoll gezeigt hat, ein exzellenter Kenner von Helmuth Plessner – Luhmanns Systemtheorie als Bezugstheorie auf, was durchaus in Spannung zu der erfolgten Festlegung auf den methodologischen Individualismus steht.
Das vorliegende Buch reiht sich ein in eine mittlerweile seit ca. drei Jahrzehnten währende Theoriedebatte zum Status des bzw. der Dritten, an der der Verfasser von Anfang an maßgeblich beteiligt war. In einer werkbiografischen Skizze weist Fischer (S. 51) darauf hin, dass er sich schon in seiner Studienzeit mit der Thematik des Dritten befasst habe und diese sowohl in seiner Staatsexamensarbeit zu Musil (1978) wie auch in seiner 2010 eingereichten Habilitationsschrift – beide unveröffentlicht – aufgegriffen hat. Neun Artikel, die Fischer zu diesem Thema seit 2000 verfasst hat, sind in dieses Buch eingegangen. Sieben davon unverändert, einer ergänzt und ein weiterer als Grundlage für eine Neubearbeitung. Darüber hinaus umfasst das Buch neun weitere Beiträge, die erstmals publiziert werden. Obwohl im Vergleich zu den umfangreichen Arbeiten zum ‚Anderen‘ – Fischer verweist als Überblick auf Theunissen (1977) – die Reflexionsgeschichte zum Dritten nur ein „Nebenstrom“ (S. 102) sei, reicht diese deutlich weiter zurück. Vorgestellt wird eine Reihe von Autoren, die hierzu beigetragen haben. Besonders herausgestellt werden dabei Freud und seine von ihm aufgezeigte ödipale Konstellation in der Familie sowie das Werk von Simmel (zu Simmel umfasst das Buch zwei eigenständige Beiträge). Als Überblick wird zudem gezeigt, wie die Figur des bzw. der Dritten in anderen Disziplinen (z. B. Ethnologie) aufgegriffen wird.
Hauptargumente für die Umstellung
Aufbauend auf diese Vorarbeiten formuliert Fischer vier Hauptargumente (S. 56–57; 148–154; 172–176; 189), die die Vorrangstellung der Triade als Grundeinheit der Sozialtheorie beweisen sollen; das sprach-, sozialisations-, institutionentheoretische und Polymorphie-Argument.
Im sprachtheoretischen Argument wird – auf Elias aufbauend – auf das System der Personalpronomen Bezug genommen. Neben ‚Ich‘ und ‚Du‘ als personale Marker und der Sachstelle ‚Es‘ wird mit ‚Er‘ ein abwesender personaler bzw. mit ‚Sie‘ eine abwesende personale Dritte in die Kommunikation eingebunden. Dies wird als ein linguistischer Beweis aufgefasst, „dass der/die Dritte nicht nur fallweise in die Sozialität einbezogen wird, sondern sprachstrukturell permanent“ (S. 189). Während ein ‚Wir‘ schon mit ‚Ich‘ und ‚Du‘ möglich ist‘, setzen die beiden anderen Pluralformen (‚Ihr‘ und ‚Sie‘) immer schon die 3. Personalstelle (Sg.) voraus. Hingewiesen wird auch, dass diese im Unterschied zu ‚Ich‘ und ‚Du‘ geschlechtlich markiert wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Geschlecht in der dyadischen Konstellation irrelevant wäre. Auf dieser Ebene bedarf es keiner Markierung, da diese bereits präreflexiv vorgegeben ist. Fischer verweist im Zusammenhang mit dem System der Personalpronomen auf die Abwesenheit des Dritten. Dies wirft damit zugleich die Frage nach einer näheren Bestimmung des/der Dritten auf. Auch wenn – wie eingangs erwähnt – in den Anwendungsbeispielen der Mikrosoziologie Interaktion vielfach als eine Begegnung von zwei Personen ausgewählt wird, ist es in den Definitionen gängig, noch eine Ergänzung anzufügen und davon zu sprechen, dass diese zwei ‚oder mehrere Personen‘ umfassen könne (vgl. Goffman 1983). Ist ‚jede bzw. jeder weitere Andere‘ eine dritte Person oder bedarf es dafür einer weiteren Qualifikation? Ein Bestimmungsmerkmal könnte – wie Fischer an dieser Stelle andeutet – die Abwesenheit sein. Auch Simmel scheint dies nahezulegen, wenn er neben der „unmittelbaren Beziehung“ zwischen A und B von einer „mittelbare(n)“ spricht, die ihr „gemeinsames Verhältnis zu C“ (Simmel, 1992, S. 114) bildet. Zahlreiche Beispiele, die Fischer anführt, so z. B. die Mutter-Vater-Kind-Konstellation, lassen jedoch erkennen, dass in seinem Verständnis die Abwesenheit kein geeignetes Grundmerkmal sein kann. Evident ist jedoch, dass nicht ein:e jede:r ‚Andere:r‘ in einer sozialen Situation schon eine Dritte bzw. ein Dritter ist. Exemplarisch kann auf ein Skatspiel, ein Kartenspiel zu dritt, hingewiesen werden. (Zur sprachlichen Vereinfachung nehme ich an, es sind drei Spielerinnen.): Die Alleinspielerin, bestimmt durch das sog. Reizen, spielt gegen die beiden anderen, die die Gegenpartei bilden. Runde für Runde wird bestimmt, wer gewonnen hat und am Ende wird ausgezählt, wer von diesen beiden Parteien siegreich war. Während die beiden Mitspielerinnen die Alleinspielerin als Dritte auffassen, sieht sich diese mit zwei „Anderen“ konfrontiert. Ohne dass es explizit zum Thema wird, wird auch bei Goffman deutlich, dass durch drei Anwesende noch nicht die Position des bzw. der Dritten geschaffen wird. Diese Position hat vielmehr das Publikum inne, das er dem Ensemble („team“) gegenüberstellt (Goffman, 1959) oder auch die von ihm vielfach beschriebene Figur des Zuschauers bzw. der Zuschauerin („bystander“) (z. B. Goffman, 1963).
Das sozialisationstheoretische Argument verweist „auf die unhintergehbare ‚Triangulierung‘ der interrelationalen Subjektbildung“ (S. 189). Aufgegriffen wird Freuds Konzept des Ödipuskomplexes, der für ihn der zentrale Konflikt für die Genese von Neurosen ist und überhaupt die universale Basis für die Moralentwicklung (Über-Ich-Bildung) und die Aneignung der Geschlechtsidentität bildet. In den Blick genommen wird damit die Mutter-Vater-Kind Konstellation als Grundstruktur von Familie. In dieser Konstellation einer ‚Normalfamilie‘ kann die Position des Dritten das Kind innehaben, das eine Paarbeziehung zu einer Familie erweitert. Verbreitet ist es zudem, den Vater als Dritten aufzufassen, der sich in einer Familie mit ungleich verteilter Sorgearbeit, um Anerkennung in einer engen Mutter-Kind-Symbiose buhlt. Dritte kann jedoch auch die Mutter sein. Diese in der Familienforschung vielfach beschriebene und herausgestellte Normalfamilie entsprach weder in der Vergangenheit und noch weniger entspricht sie heute der vorhandenen Familienvielfalt. Schon beim alten Rechtsinstitut der Adoption hat ein Kind mehr als zwei Eltern. Zwei rechtliche Eltern (sofern die Adoption durch ein Paar erfolgt) sowie zwei biologische Eltern (wobei diese nicht immer, zumindest nicht beide, bekannt sind). Bei einer offenen Form der Adoption, die heute stark propagiert wird, verschwinden die biologischen Eltern trotz der ‚Annahme an Kindes Statt‘ nicht aus dem Gesichtskreis des Kindes. Im Falle einer Inkognito-Adoption, bei der die biologischen Eltern anonym bleiben, kann die Suche nach den leiblichen Eltern für Heranwachende – wie Studien zeigen – zu einem zentralen Lebensthema werden. Die Fortschritte der Reproduktionsmedizin, die wachsende Akzeptanz und Normalisierung geschlechtlicher Vielfalt und die hohe Instabilität von Zweierbeziehungen tragen dazu bei, dass Einelterfamilien und komplexe Familienformen mit mehr als zwei Bezugspersonen stark zugenommen haben. Einige Rechtsordnungen, z. B. in Kanada, haben darauf reagiert und die rechtliche Möglichkeit geschaffen, dass ein Kind mehr als zwei Eltern haben kann. Damit stellen sich besondere Anforderungen an das doing family, da damit vielfältige Aushandlungs- und Anerkennungsprozesse verbunden sind. Möglich wird damit auch eine Konkurrenz um den Status als Dritte:r. Vorrangig sind jedoch die Konstruktionsleistungen für das ‚Wir‘ und damit die Festlegungen, wer zu diesem ‚Wir‘ gehört und wer nicht. Die Fülle möglicher Drittenfiguren in Familien wird erst sichtbar, wenn an Stelle eines verengten Familienmodells die „changing faces of families“ (Adler & Lenz, 2023) als Ausgangspunkt aufgegriffen werden.
Beim institutionentheoretischen Argument stützt sich Fischer auf die bekannte Argumentation von Berger & Luckmann, dass die Wirklichkeitskonstruktion von A und B durch die Weitergabe an eine:n Dritte:n einen objektiven Charakter gewinnt. Dies wird als Beweis aufgefasst, „dass der/die Dritte als soziale Figur überhaupt soziale Ordnung ermöglicht“ (S. 189). Fischer erkennt darin zugleich einen „missing link“ zwischen Handlungs- und Systemtheorie (S. 152) und auch zwischen Mikro- und Makrosoziologie (S. 174). Gesellschaft – und damit das Arbeitsgebiet der Makrosoziologie – schon mit drei Personen beginnen zu lassen (vgl. auch Bröckling, 2020) und damit die Mikrosoziologie auf die Zahl zwei zu beschränken, kann aus diesem Arbeitsgebiet auf keine Zustimmung stoßen. Ebenso wenig, wie soziale Ordnung oder auch Struktur zu einem exklusiven makrosoziologischen Gegenstand zu erklären. Goffman hat schon in seiner Dissertation (1953, veröffentlicht 2022), in der er sein Theorie- und Forschungsprogramm der interaction order grundgelegt hat, gezeigt, dass soziale Ordnung sehr wohl auch ein zentrales Thema der Interaktionsforschung ist (Lenz & Hettlage 2022). Die mit dem institutionentheoretischen Argument naheliegende Möglichkeit, das Verständnis über personale Dritte hinaus zu erweitern und zusätzlich die aus dieser Konstellation hervorgebrachten Objektivierungen einzubeziehen – wie von Lindemann (2010) und auch von Knoblauch (2016) vorgeschlagen –, deutet Fischer mit der Verbindung von Intersubjektivität und Transsubjektivität (S. 200) allenfalls an, greift diese aber nicht aktiv auf. Ungenutzt bleibt damit zugleich das damit verbundene Potenzial, den schroffen Gegensatz von Atomismus und Holismus aufzubrechen, wie u. a. Schulz-Schaeffer (2016) angeregt hat.
Mit dem Polymorphie-Argument soll der Beweis erbracht werden. „dass der/die Dritte (...) in verschiedensten Schattierungen immer schon die Sozialität mitgestaltet“ (S. 189). Ausgehend von Simmels Unterscheidung der Typen des Vermittlers und Schiedsrichters, des lachenden Dritten und des ‚Divide et impera‘ ist der Autor an mehreren Stellen (ausführlich S. 110–116) bestrebt, die große Vielfalt der Erscheinungsformen von Dritten, zum Teil in Abgrenzung zu dyadischen Figuren (S. 116–117), einzufangen. Dabei geht es darum, die Reichhaltigkeit aufzuzeigen; diese Auflistungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch hier wäre es wünschenswert gewesen, näher zu bestimmen, wodurch eine in einer sozialen Situation anwesende bzw. eine mit einer persönlichen Beziehung in Verbindung stehende Person zum bzw. zur Dritten wird. Bei einer solchen Bestimmung müsste der fluide Charakter dieser Zuordnung beachtet werden. Niemand ist Dritte bzw. Dritter, sondern wird stets nur – wie das Beispiel des Skatspiels zeigt – aus einer bestimmten Perspektive zur bzw. zum Dritten. Nicht nur ist jede bzw. jeder Dritte ein ‚Ich‘; ‚Er‘ oder ‚Sie‘ kann auch (wieder) zum ‚Du‘ werden oder aus dem Sozialzusammenhang verschwinden. Es handelt sich – wie schon Simmel betont – um Gelegenheitsstrukturen, die rasch wechseln können. Neben den anwesenden Dritten müssen dabei immer auch die abwesenden berücksichtigt werden.
Konsequenzen der Umstellung
Bei den Konsequenzen der Umstellung der Sozialtheorie auf die Tertiarität, wird zwischen sozialontologischen und sozialepistemologischen unterschieden. Die Ausführungen zu Letzteren bleiben allerdings knapp. Durch den systematischen Einbezug des/der Dritten verschiebe sich „die Epistemologie vom ‚Verstehen‘ zum ‚Beobachten‘, ohne das Verstehen auszuschalten“ (S. 169). Aus der Position des bzw. der Dritten wird die Beziehung zwischen Ego und Alter Ego beobachtbar. Diese Feststellung verbleibt allerdings auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung. Abgesehen davon, dass näher bestimmt werden müsste, was eigentlich mit dieser Verschiebung gemeint ist, wird auch nicht weiter expliziert, was das für eine soziologische Perspektive bedeutet. Ausführlich werden dagegen die sozialontologischen Konsequenzen behandelt. Neben Überblicksdarstellungen in mehreren Kapiteln finden sich im letzten Textblock sechs eigenständige Beiträge. Die Kernthese ist dabei, dass mit einer triadischen Sozialtheorie die Aussagen zur funktionalen Ausdifferenzierung der nebeneinander operierenden sozialen Teilsysteme in der Moderne verbessert werden können (S. 216). Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang betont, dass damit nicht behauptet werden soll, dass die sich selbst beobachtende Vergesellschaftung ausschließlich tertiäre Figuren umfasse. Vielmehr bestehe ein Nebeneinander triadischer und dyadischer Figurationen, wobei für letztere unter anderem Kooperation, Tausch, Konflikt oder Freundschaft als Beispiele genannt werden (Diese mehrmals vorkommenden Beispiele, z. B. S. 216, überraschen, da auch diese Formen nicht immer auf zwei Personen beschränkt sind.). Fischer stützt sich dabei auf Simmel, der schon gezeigt habe, dass die Teilsysteme sich „offensichtlich bevorzugt entlang je einer triadischen Schlüsselfiguration auskristallisieren“ (S. 218). Im Verlauf der soziokulturellen Evolution haben Gesellschaften, so Fischers Kernargument, „a) in sich das (brisante) Potential verschiedenster Typen dyadischer ‚Erwartungserwartungen‘ und triadischer ‚Übereckerwartungen‘ (...) (entdeckt), und b) in ‚sozialen Erfindungen‘ bestimmte dieser triadischen Kommunikationsfigurationen selektiv für spezifische Funktionen der Vergesellschaftung auf Dauer (...) (gestellt), um erwartbare Effekte immer wieder wahrscheinlich zu machen“ (S. 219). Wenngleich ein Nebeneinander von Dyaden und Tiraden konstatiert wird, kommt letzteren somit für die Systembildung eine Vorrangstellung zu. Eine dyadische Sozialtheorie sei sozialtheoretisch unterkomplex und erst eine triadisch komplettierte Sozialtheorie mit der aufzeigbaren Vielfalt der Drittenfiguren und dem mit dem Institutionalisierungsargument gezeigten Kippmechanismus von Handlung zu Struktur vermag es, die Ausdifferenzierung der Teilsysteme aufzuzeigen. Gezeigt wird dies – als Erprobung der Kernthese – in je eigenen Kapiteln für die Teilsysteme Recht, Politik, Medien, Ökonomie und Familie. Im Recht werde die bzw. der schiedsrichternde Dritte systemhaft auf Dauer gestellt, in der Politik die Koalitionen, in den Medien die Figuren Bote/Botin und Übersetzer:in und in der marktformigen Ökonomie der bzw. die lachende oder begünstigte Dritte.
Etwas ausführlicher zur Familie – der Autor bevorzugt das Begriffswort „Familiarität“ – als dem fünften hier behandelten Teilsystem: Herausgestellt wird, dass Familie von allen funktionalspezifisch ausdifferenzierten Sozialsystemen die „höchste Verdichtung verschiedenster Formen von Wechselwirkungen“ aufweise. Während sich die anderen genannten Sozialsysteme „um je spezifische, ausgewählte Beziehungsformen aufbauen [...] operiert das Kommunikationsgeschehen der Familiarität im und mit dem gesamten Spektrum von Beziehungsformen“ (S. 276–277). Diese Bestimmung ist angelehnt an das von Parsons stammende Begriffspaar Spezifität vs. Diffusität. Als Bezug wird zudem Luhmanns „Vollperson“ als Besonderheit des Intimsystems angezeigt. Angesichts der im Sozialen dauerhaft vorgegebenen Dezentrierung des Subjekts kann das jedoch in dieser Sozialform immer nur ein ‚Limesbegriff‘ (Schütz) sein. Formulierungen wie „die menschliche Subjektbildung jedes (...) Neuankömmlings (kann) nicht ohne Gewahrwerden und Inkooperation dieses Dritten abgeschlossen werden“ (S. 281), basieren dagegen auf – wie bereits angesprochen – einem verengten Familienmodell. Die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft muss aber von einer Vielfalt von Familienformen ausgehen.
Nach diesen Teilsystemen wendet sich Fischer im Erprobungsteil abschließend noch der Zweierbeziehung und der Liebe zu, wobei diese Begriffe weitgehend synonym verwendet werden. Dargeboten wird eine „Phänomenologie des Dritten in Liebesdyaden“ (S. 298), z. B. als Vermittler:in, als Rivale bzw. Rivalin oder auch die Ausschließung des/der Dritten. Gezeigt wird damit, dass selbst in Figurationen, die eigentlich auf zwei beschränkt sind, Dritte im hohen Maße relevant sind. Dieser Befund wird als ein weiterer „starker Beleg“ für die Umstellung der Sozialtheorie auf Tertiarität aufgefasst.
Mit der vorliegenden Publikation möchte Fischer den Nachweis führen, dass „(d)er/die weltimmanente, mundane Dritte“ ein „sozialontologischer Eckstein im sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ (S. 308) ist. Uneingeschränkt ist zu konstatieren, dass es dem Autor überzeugend gelingt, das große Potential einer triadischen Sozialtheorie aufzuzeigen. Ob damit allerdings ein Vorsprung und Überlegenheit einhergehe oder eine vollständige Erfassung von Intersubjektivität erst mit dieser Ausweitung gegeben sei, dagegen lassen sich Zweifel anmelden. Sicherlich ist es für eine kulturvergleichende Beobachtung von Liebessemantiken empfehlenswert, wie Fischer (S. 306) anregt, „die immer schon mitlaufende ‚Tertiarität‘ (...) zwischen Identität und Alterität mit zu beobachten“. Sicherlich gibt es auch viele Beispiele, die sich als Belege anführen lassen. Jedoch ist zu erwarten, dass diese Beobachtung nicht immer fündig wird. Was für die Liebessemantik naheliegt, dürfte sich bei anderen sozialen Phänomenen wiederholen. Trotz einer Fülle von Beispielen für die hohe soziale Relevanz von Dritten kann daraus keine Generalisierung abgeleitet werden, dass diese immer und überall vorkommen und entscheidend sind. Das vorliegende Buch kann und sollte – sowohl auf der Ebene der Theorie wie auch der Empirie – anregen, den Blick für Dritte zu weiten. Daraus sollte allerdings kein Zwang werden, sie immer und überall zu finden. Für die Sozialität kommt der Tertiarität eine herausgehobene Relevanz zu, jedoch ist Sozialität gleichwohl zu zweit und – wie schon Simmel (1992, S. 96) mit seinen Ausführungen zur Einsamkeit gezeigt hat – auch schon in der „Einzahl“ möglich.
Literatur
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© 2023 Karl Lenz, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Die Farben der Soziologie
- Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
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