Home Handeln und die Generalität des Körpers
Article Open Access

Handeln und die Generalität des Körpers

Jörg Michael Kastl, Generalität des Körpers. Maurice Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften. Weilerswist: Velbrück 2021, 356 S., kt., 39,95 €
  • Gregor Bongaerts EMAIL logo
Published/Copyright: September 15, 2022
Become an author with De Gruyter Brill

Reviewed Publication:

Jörg Michael Kastl, Generalität des Körpers. Maurice Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften. Weilerswist: Velbrück 2021, 356 S., kt., 39,95 €


Soziologie befasst sich mit der Erforschung sozialer Zusammenhänge und fragt dadurch nach den ‚sozialen Elementen‘, die in einem oder mehreren Zusammenhängen stehen. Gesagt ist damit zugleich, dass der Objektbereich, mit dem sich Soziologie befasst, ein solcher ist, der in irgendeiner Weise geordnet ist, an dem sich also das, was zusammengehört, von dem, was nicht zusammengehört, unterscheiden lässt. Oftmals werden diese Zusammenhänge dementsprechend als soziale Ordnung(en) bezeichnet. Vor diesem Hintergrund hat Niklas Luhmann (1985) die Grundfrage des Fachs wie folgt formuliert: „Wie ist soziale Ordnung möglich?“

Die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen sozialer Ordnung kann grundlegend unterschiedlich ausgelegt werden: Zum Ersten lässt sich jede beobachtbare soziale Ordnung danach befragen, wie und warum sie im sozio-historischen Kontext hervorgebracht und reproduziert worden ist. Auf diese Frageebene sind empirische Forschungen gemeinhin bezogen. Zum Zweiten kann basaler danach gefragt werden, wie es überhaupt sein kann, dass soziale Ordnung entsteht. An diese Frage können sich sozialontologische Unternehmungen anschließen, wie etwa „Bearbeitungen“ des Intersubjektivitätsproblems der bewusstseinsphilosophischen Tradition; und es kann je nach Ausgangslage geantwortet werden, dass Andere im Bewusstsein des Ego zunächst konstituiert werden müssen (vgl. Husserl, 2012) oder andersherum, dass sich aus einem ursprünglichen „Wir“ zunächst die Egos herausschälen (vgl. Scheler, 1923: 284). In soziologischen Theorien findet sich in der Gegenüberstellung von Akteurs- und Struktur- bzw. Systemtheorien eine Variation dieser sozialontologischen Problemstellung. Auf der einen Seite findet sich eine Art Konstitutionstheorie, die nach Sinnsetzungen und Sinndeutungen fragt, die im Handeln zum Ausdruck gelangen und sich institutionalisieren (vgl. Berger/Luckmann, 1980). Auf der anderen Seite gehen Strukturtheorien von der sozial geordneten Wirklichkeit aus, wie sie sozio-historisch gegeben ist, und zeichnen nach, wie unter den gegebenen Strukturbedingungen Handeln reguliert ist (vgl. z. B. Durkheim, 1984). Fraglich ist in beiden Ansätzen, was unter Struktur zu verstehen ist.

Es ist im Kern dieses Problem der Struktur, das Kastl aufgreift, wenn er sich in seinem umfassenden Buch „Generalität des Körpers“ mit einer Bewegung im Werk von Maurice-Merleau-Ponty auseinandersetzt. Er geht dabei erfrischend alteuropäisch vor – um eine von Luhmann angeführte Wendung in einem positiven Verständnis aufzugreifen. Alteuropäisch ist das Buch im Hinblick auf den Bildungshorizont, der es durchzieht, wie auch im Hinblick auf die theoretische Auseinandersetzung mit einem Autoren und dessen Werksentwicklung vor dem Hintergrund des intellektuellen Zeitgeistes und Feldes der Philosophie und Soziologie. Erfrischend alteuropäisch ist es in zweierlei Hinsicht: Zum Ersten ist es erfrischend, dass überhaupt ein Buch vorliegt, dass diesen Bildungshorizont fruchtbar aufruft, um eine entsprechend grundlegende Fragestellung zu bearbeiten, und es intellektuell nicht bei der schlichten problemorientierten Expertise belässt. Zum Zweiten ist es erfrischend, dass der geistes- und sozialwissenschaftliche Diskurs nicht geschlossen, sondern für Anregungen und Anschlüsse aus anderen, namentlich naturwissenschaftlichen Disziplinen geöffnet wird.

Das Augenmerk möchte ich im Folgenden auf die im Buch vorgestellte Fassung des Körpers als eines sozialen Strukturmoments richten. Die Explikation erfolgt im Buch von Kastl im Anschluss an die Beschreibung einer Tagung Anfang der neunzehnhundertsiebziger Jahre, die ein Wendepunkt in der Rezeption der Phänomenologie von Merleau-Ponty und dadurch auch ein Wendepunkt in der Aufnahme und Weiterführung der phänomenologisch orientierten Soziologie insgesamt hätte sein können. Insbesondere hätte möglicherweise das „romantische Körperkonzept“ vermieden werden können, das Kastl bis heute als das dominante Konzept in der Soziologie, aber auch in der Leibphänomenologie identifiziert. Merleau-Ponty hingegen hatte sich von diesem Konzept – dies stellt Kastl eindrücklich heraus – bereits in den neunzehnhundertfünfziger Jahren verabschiedet und den Körper struktural gefasst.

Dieses strukturale Körperkonzept ist es, dem die Generalität für soziale Strukturen zukommt, die im Titel des Buches vorausgesetzt wird. Das romantische Körperkonzept kann Kastl berechtigt als Grund für das theoretische Problem ausweisen, dass Körper und Körperlichkeit innerhalb der Körpersoziologie begrifflich lediglich metaphorisch und damit dunkel erfasst werden. Schließlich werden sie als eine Art stummes Subjekt hinter dem bewussten Subjekt verstanden – als eine Subjekt- bzw. Akteursverdopplung also (vgl. 64). Die damit verknüpfte Konzeption eines „impliziten Wissens“ lehnt Kastl gleichermaßen ab und plädiert – wiederum sehr plausibel – dafür, „Wissen“ begrifflich auf propositional gehaltvolle Aussagen zu beschränken und konsequent von „Können“ zu unterscheiden (vgl. 67f.).

Eine weitere begriffliche Unterscheidung erschwert es gerade auch für die Soziologie, Klarheit in Bezug auf „Körper“ und „Körperlichkeit“ zu erzeugen: die Unterscheidung von „Körper“ und „Leib“. Körpersoziologie leitet sich oftmals von einer als Leibphilosophie verstanden Position her. „Leib“ markiert im Rahmen dieser Position dahingehend einen Unterschied zu „Körper“, dass er die „Subjekthaftigkeit“ der Erfahrung des eigenen Körpers herausstellt, während „Körper“ die materielle „Dinghaftigkeit“ dieser Erfahrung betont. Dass die Erfahrung des eigenen Körpers eine doppelte ist, ist altbekannt. Kastl kann gut belegen, dass diese Doppelerfahrung des Körpers spätestens seit Descartes zu Verständnis- und Begriffsproblemen geführt hat, die sich bis heute nicht vollständig lösen lassen. Er findet jedoch genügend Belege dafür, dass die Zurechnung von Phänomenen entweder zu „Leib“ oder zu „Körper“ einem hohen Maß an Willkür folgt, woraus wiederum zu schließen ist, dass die Unterscheidung selbst nicht sonderlich viel trägt. Den Terminus „Leib“ empfiehlt er dementsprechend aufzugeben. Die Doppelerfahrung bleibt dennoch bestehen und mahnt aus Kastls Sicht vor allem dazu, den Begriff des Körpers deskriptiv und zurückhaltend (vgl. 106) zu verwenden. Kastl geht von einer „irreduziblen Cartesianischen Differenz“ aus, „die phänomenologisch begründet ist, aber keinen Dualismus beinhaltet und auf keine ontologische Überhöhung abzielt, sondern sozusagen aus der Not geboren ist“ (106). Kastls Pointe liegt darüber hinaus darin, dass der Verweis auf die Körperbindung von Handeln, Wissen und Verstehen sowie auf deren tragende Prozesse noch nicht viel besagt. Die Körpergebundenheit dieser kognitiven und sozialen Prozesse (vgl. 106) erscheint allzu offensichtlich, und ihre beständige Markierung erzeugt kein tieferes Verständnis davon, wie diese Prozesse ablaufen, und vor allem kein tieferes Verständnis davon, wie diese Prozesse mit sozialen Strukturen verknüpft sind. Solange der Begriff „Körper“ nicht durch eine präzise Bestimmung der Prozesse erfasst ist, die Handeln, Wissen und Verstehen körperlich ausmachen, ist dieser theoretisch nicht fruchtbar zu verwenden, sondern bleibt dunkel. Kurzum: Als Subjekt- bzw. Akteursverdopplung bietet er keinerlei Ergänzung zu den hergebrachten Begriffen von „Subjekt“ oder „Akteur“ (vgl. 107).

Die strukturalistische Wende in Merleau-Pontys Körperkonzept, die Kastl nachzeichnet, findet ihren Ausgang nicht mehr in der Annahme eines Primats des Unsichtbaren. Im Gegenteil erscheint ihm in seinem Spätwerk das Sichtbare als Kern von Strukturen (vgl. 9). Nicht mehr das stumme Subjekt hinter dem bewussten Subjekt steht im Fokus, sondern die sichtbaren Bewegungen des Körpers als raum-zeitliche Phänomene. Mit dieser Wende sind radikale Absagen an die Bewussteinsphilosophie verbunden.

Es geht vor allem um die Abkehr von einer Konstitutionstheorie. Merleau-Pontys Konzept der Lebenswelt hatte dies schon in der Phänomenologie der Wahrnehmung (Merleau-Ponty 1966) beinhaltet. Für ihn war die Lebenswelt kein Ergebnis einer Konstitutionsleistung des Bewusstseins, sondern schlicht die wahrgenommene Welt. Die Lebenswelt ist keine Wirklichkeit, die durch erfahrungsabhängiges Wissen sinnhaft konstituiert wird, sondern die Wirklichkeit, die durch die körpergebundenen Wahrnehmungsprozesse gegeben ist. Hierin liegt schon die Generalität des Körpers, von der im Untertitel des Buches die Rede ist. Die Generalität impliziert auch die Anschlussfähigkeit an die Naturwissenschaften. Der generelle Körper ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften kein anderer als der der Naturwissenschaften. Strukturalistisch weiterentwickelt wird der „Körper“ nicht mehr als Subjekt gefasst, sondern als „Fleisch“ der Welt, wie es bei Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare (1986) heißt. „Fleisch“ expliziert Kastl als das „Sensible“ (vgl. 115), das der Körper als Empfindendes und Empfindbares ist, als Ding unter Dingen, aber zugleich als Medium der Erfahrung der Dinge. Vielleicht könnte man auch von „Gewebe“ sprechen, um diese Eigenschaft des körperlichen Zur-Welt-Seins herauszustellen. Der Körper ist sichtbar in Bewegung und damit eingebunden in räumlich-zeitliche Situationen. Durch die Bewegungen sind die Wahrnehmung und allgemein das Verhalten zur Welt strukturiert.

An der Generalität und Strukturiertheit hängt letztlich auch die Intersubjektivität, die genauso wenig eigens konstituiert werden muss wie die Wirklichkeit der wahrgenommenen Welt. Der Körper des Anderen ist durch sein Verhalten zur Welt, durch die Bewegungsabschnitte im Verhältnis zu den Gegebenheiten der Welt verständlich. Dies ist er, weil er die gleiche Struktur aufweist (vgl. 119f.) wie jeder andere vergleichbare Körper. „Konstitution“ ersetzt Kastl in dieser Hinsicht durch „Systasis“ (120ff.). Die Struktur des Körpers stellt in Wechselwirkung mit den Dingen der Welt die menschliche Wirklichkeit zusammen – ohne dass dies als Leistung im Sinne einer Konstitution oder Konstruktion zu verstehen ist. Im Vollzug des Verhaltens Zur-Welt sind die Körper zum einen verständlicher Ausdruck füreinander und zum anderen reichern sie sich mit Erfahrungen in Form von Dispositionen an. Diese Dispositionen sind Kern des zentralen Strukturmoments, auf das Kastl abhebt: Gedächtnis.

Mit Blick auf Kastls Kernfrage nach dem Verhältnis des Körpers zu sozialen Strukturen ist „Gedächtnis“ dementsprechend zentral. Das körperliche Gedächtnis erscheint als das einzige soziale Gedächtnis, das soziale Strukturzusammenhänge und mithin soziale Ordnung grundlegend ermöglicht. Dies ist aus Sicht von Kastl dahingehend der Fall, dass soziale Situationen immer nur als Interaktionen zu beobachten sind, die sich letztlich ausgesprochen komplex verketten können. Der Zusammenhang dieser Verkettung, der als Gesellschaft bezeichnet werden kann, ist schlicht nicht beobachtbar. Die Körper tragen die beobachtbaren Interaktionen und deren Verkettungen durch ihre operativen Gedächtnisse.

Die sich in diesen Verkettungen vollziehende Genese sozialen Sinns wird mit Blick auf die grundsätzliche Verständlichkeit des Körpers in Relation zur Welt nachvollziehbar. Merleau-Ponty hat in seinen späten Vorlesungen, die den Text von Kastl orientieren, eine Ausdruckstheorie skizziert, in welcher er de Saussures Idee der Sprachbedeutung als eines diakritischen Systems auf das körperliche Zur-Welt-Sein dahingehend überträgt, dass die körperlichen Bewegungsabschnitte sich im zeitlichen Nacheinander, durch den Anschluss zum Vorangegangenen und im Abstand zu anderen Möglichkeiten sinnhaft verstehen lassen. Zur-Welt-Sein erscheint, so verstanden, als ein dauerhaftes Ausdrucksgeschehen, wobei der Sinn durch den Verhaltensanschluss erzeugt wird und dies analog zu sprachlicher Bedeutungsgenerierung beschrieben werden kann. Merleau-Ponty hatte dies schon früh als einen besonderen Stil des Zur-Welt-Seins beschrieben. Kastl arbeitet das diakritische Prinzip dieses Stils heraus. Er markiert zugleich, dass er keine naturalistische Bedeutungstheorie vertritt (230), sondern lediglich die – wie ich es ausdrücken möchte – Bedingungen der Möglichkeit von sozio-kultureller Bedeutungsgenese herausstellt. Weil die Markierung von Bedeutungen immer sozial eingebettet ist, ist es m. E. jedoch schwierig nachzuvollziehen, inwiefern die Bewegungen selbst schon eine Bedeutung tragen – und sei es die Minimalbedeutung des wohin und woher. Anfang und Ende der Bewegung(sepisode) müssen ersichtlich sein. In der Interaktion mit Kindern wird dementsprechend mitkommuniziert, was man gerade macht, und es wird – ganz sprachanalog – interpunktiert, wann das intendierte Vollzugsgeschehen endet. Dies ist etwa in einer Gebrauchstheorie der Bedeutung erfasst, die Kastl mit Verweis auf Tomasello aufruft (Tomasello, 2010: 739).

Letztlich wird mit dem Erlernen der Zuschreibung von Intentionen auch die Zuschreibung von Handeln und Handlung gelernt, womit die zentrale soziologische Kategorie angesprochen ist, die im Buch von Kastl kaum zur Sprache kommt. Kastl verknüpft die plausible indirekte Ontologie sozialer Strukturen, die durch die körperlichen Vollzüge und Gedächtnisprozesse im Verhältnis zur Welt bestimmt ist, mit praxistheoretischen Sozialtheorien. Diese erfassen das Soziale als einen Nexus von doings und sayings. Problematisch erscheint dabei, dass weitgehend ungeklärt ist, wie diese doings und sayings zu fassen sind, aus denen sich Praktiken zusammensetzen (vgl. Bongaerts, 2017: 162f.). Sind es Handlungen im traditionell soziologischen Sinne, deren Sinn im subjektiven Handlungsentwurf zu finden ist, oder drängt eine praxistheoretische Perspektive auf eine Reformulierung der Handlungsbegrifflichkeit? Mit Blick auf soziale Strukturen ist dies keine unwichtige Frage, schließlich sind es Handlungsvollzüge, die die erwartbaren Handlungsverkettungen im Sinne sozialer Ordnung bestimmen. Die Zuschreibung bzw. Zurechnung von Handeln und Handlungen setzt deren Identifizierbarkeit voraus (vgl. Bongaerts, 2021). Diese Identifizierbarkeit ist wiederum an die Unterscheidbarkeit von anderen körperlichen Vollzügen gebunden. Dementsprechend reicht die Beschreibung des körperlichen Verhaltens als eines fortlaufenden Ausdrucksgeschehens nicht aus, um die sozial relevanten von den sozial nicht-relevanten Verhaltensweisen zu unterscheiden. Dies ist kein Widerspruch zu Kastls anregender Lesart von Merleau-Pontys strukturalem Körperkonzept, sondern ein Verweis darauf, dass an dieser Stelle weitergedacht werden muss, um den Anschluss an die soziologische Handlungsbegrifflichkeit und damit an die Sozialtheorie zu sichern. Die Ausarbeitung müsste m. E. zeichentheoretisch erfolgen und mithin auf Kastls Beschreibung der Sinngenese im zeitlichen Verlauf der körperlichen Vollzüge aufstufen. Die mit Merleau-Ponty herausgearbeitete indirekte Ontologie sozialen Geschehens ist sicherlich die Bedingung der Möglichkeit für soziale Ordnung, aber noch nicht deren Explikation.

Eine solche ließe sich zum Beispiel mit Jürgen Freses Konzept einer Zurechnungstheorie des Handelns machen, die Handeln, gleichermaßen wie Kastl, sprachanalog fasst, die Handlungsbegrifflichkeit dabei jedoch umarbeitet: Handeln erscheint als eine Situationsveränderung von Zeitpunkt t1 zu Zeitpunkt t2, die als Handeln dadurch identifizierbar ist, dass sie anzeigt, von einem Subjekt hervorgebracht worden zu sein (vgl. Frese, 1985: 57). „Handeln“ wird dabei als ein Prozessatom gedacht, dessen Sinn durch seine Position in einem umfassenderen Zusammenhang von vorangehenden und folgenden Handlungen bestimmt wird. Sprachanalog ist Handeln damit als Sinnabschnitt oder auch als Episode gefasst. „Situationen“ erscheinen als settings von Dingen und bewussten Orientierungen, die den Horizont der möglichen Anschlüsse eröffnen. Vor diesem Hintergrund lässt ich mit Frese Handeln als Phänomen freilegen, das als Zeichengeschehen im Bereich des Sichtbaren gegeben ist. Die Transzendenzen durch die Zeitlichkeit des Vollzugs, die auch Kastl herausstellt, bleiben davon unberührt als Horizont mitgegeben.

Eine Pointe der zurechnungstheoretischen Fassung des Handlungsbegriffs ist es, dass Handeln selbst als ein Phänomen in den Blick gerät und nicht primär durch andere Phänomene definiert wird, wie etwa einen subjektiv gemeinten Sinn oder anderen Repräsentationen von Handeln. „Bewusstsein“ wird damit in die Situation verschoben und erscheint nicht als Teil des Phänomens „Handeln“, sondern als dessen situative Bedingung. Der spezifisch zu fassende körperliche Vollzug selbst ist das Handeln, und die Anschlüsse, die zu den jeweiligen Situationsänderungen im Zeitverlauf führen, können als Strukturen gefasst und – wenn sich Regelmäßigkeiten bei typischen Situationen finden – durch Strukturbegriffe abstrahiert und generalisiert werden. Diese begriffliche Umformulierung ist konsequent, wenn man auf die Sichtbarkeit des sozialen Geschehens abhebt und die körperliche Vollzugswirklichkeit von Handeln für die sozialtheoretischen Grundbegriffe herausstellen möchte. Kastl geht an dieser Theoriestelle nicht so weit, wenn er zum einen die begriffliche Fassung von doings und sayings weitgehend offen lässt und zum anderen soziale Strukturen dahingehend zu schnell ontologisiert, dass er das körpergebundene Gedächtnis in seiner non-deklarativen und deklarativen Dimension zur sozialen Struktur schlechthin erhebt. Schlechthin meint hier, dass ausschließlich das körpergebundene Gedächtnis ein operatives Gedächtnis und damit primär ist. Soziale Gedächtnisse, die zum Beispiel in der Systemtheorie als Gedächtnisse sozialer Systeme begriffen und beispielsweise durch „Bilanzierungsmechanismen“ „Mnemotechniken“, „Zahlungsbilanzen“ (267), auch Archive konkretisiert werden, leisten diese Operativität nicht. Sie sind ohne die körpergebundenen Gedächtnisse nicht Teile sozialer Wirklichkeit. Bedeutet dies aber, dass sie nicht dennoch notwendige Bedingungen spezifischer sozialer Gedächtnisleistungen sind? Sicherlich sind zum Beispiel Schrift und Bücher ohne Körper und deren Gedächtnisse, die etwas mit ihnen anzufangen wissen, keine Medien sozialer Wirklichkeit, aber ohne diese Kommunikationsmedien sind auch die körpergebundenen Gedächtnisse und vor allem die sozialen Strukturen andere. Beide – Körper und Medien – sind in gewisser Weise „Träger“ des sozial geordneten, also strukturierten und zugleich strukturierenden Handelns. Sie sind dadurch aber noch nicht die Strukturen selbst, und dies gilt sowohl für die sozialen Gedächtnisse im Sinne der Systemtheorie als auch für die körpergebundenen Gedächtnisprozesse.

Folgt man der zurechnungstheoretischen Umformulierung des Handlungsbegriffs, dann müsste man gleichermaßen wie das Bewusstsein auch die von Kastl herausgearbeiteten körpergebundenen Gedächtnisse in die Situation des Geschehens verschieben. Soziale Strukturen erscheinen dann als die spezifischen Verkettungen von körpergebundenen Handlungen. Es sind die regelmäßig erfolgenden und dadurch erwartbaren Anschlüsse, die im zeitlichen Nexus des kontextierenden vorherigen und folgenden – auch gleichzeitigen – Handelns zu beobachten sind. Das Phänomen „Struktur“ ist damit unmittelbar mit dem freigelegten und zeichen- wie erzähltheoretisch auszuführenden Phänomen „Handeln“ verbunden. Meso- und makrologische Strukturbegriffe erscheinen in der Folge als Abstraktionen von einer Fülle solcher Handlungsverkettungen. Der von Kastl herausgestellte Strukturbegriff „Gedächtnis“ gewährleistet – verstanden als Situationsbedingung – den Strukturtransfer von einer in die nächste typische Situation. Im Verbund mit weiteren Kommunikationsmedien und Situationsbedingungen ermöglichen die körpergebundenen Gedächtnisse mithin den Vollzug und Anschluss von Handeln und Handlungen sowie deren Strukturierung – z. B. in Form des Turn Taking bei Gesprächen oder der Zeit- und Distanzregeln in face-to-face Interaktionen usw. Mit Bourdieu könnte man formulieren, dass sie mit dem praktischen Sinn und den Kompetenzen versorgen, die die Praxis tragen. Die Praxis der Handlungsvollzüge mitsamt ihren Strukturierungen ist jedoch auf einer anderen Beschreibungsebene zu fassen. Die körperlichen Vollzüge sind symbolisch materieller und mithin sichtbarer Teil des Handelns. Auf die Gedächtnisse der Körper ist diese Vollzugswirklichkeit nicht zu reduzieren. Ein solcher Reduktionismus ist sicherlich nicht das Anliegen von Kastl, dies wird sehr deutlich. Ganz im Gegenteil stimmen Kastls Ausführungen zur Strukturierung des Interaktionsgeschehens sehr gut mit den Ausführungen zu einer zurechnungstheoretischen Position zusammen (vgl. 315). Dennoch setzt er soziale Strukturen in ontologischer Stoßrichtung mit den menschlichen Körpern gleich. Diese Zentralstellung des körpergebundenen Gedächtnisses liest sich wie eine Subjektfigur, zumindest solange wie das körpergebundene Gedächtnis nicht klar in ein Situationsverhältnis zu den Phänomenen des Handelns gestellt wird. Genau zu diesem Zweck wäre eine Anknüpfung der Ausführungen zum strukturalen Körperkonzept an die soziologische Handlungsbegrifflichkeit und in der Konsequenz eine Reformulierung dieser Begrifflichkeiten notwendig.

Literatur

Berger, P. L.; Luckmann, T. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie; Fischer: Frankfurt am Main, 1980.Search in Google Scholar

Bongaerts, G. Zur Vollzugswirklichkeit des Handelns.Soziale Welt 2017, 68, 157–173.10.5771/0038-6073-2017-2-3-157Search in Google Scholar

Bongaerts, G. Soziale Praxis, Verhalten, Handeln und ihre Zurechnung. In Praxis, Ausüben, Begreifen; Corsten, M., Hrsg.; Velbrück: Weilerswist, 2021; pp 264–276.10.5771/9783748912583-264Search in Google Scholar

Durkheim, E. Die Regeln der soziologischen Methode; Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1984.Search in Google Scholar

Frese, J. Prozesse im Handlungsfeld; Boer: München, 1985.Search in Google Scholar

Hoffmann, L., Hrsg. Sprachwissenschaft. Ein Reader. De Gruyter: Berlin/New York, 2010; pp 730–75010.1515/9783110226300Search in Google Scholar

Husserl, E. Cartesianische Mediationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie; Felix Meiner: Hamburg, 2012. Search in Google Scholar

Luhmann, N. Wie ist soziale Ordnung möglich? In Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 2; Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1985; pp 195–285.Search in Google Scholar

Scheler, M. Die Sinngesetze des emotionalen Lebens. I. Band: Wesen und Formen der Sympathie; Cohen: Bonn, 1923.Search in Google Scholar

Tomasello, M. Konstruktionsgrammatik und früher Erstspracherwerb; In Sprachwissenschaft. Ein Reader; Search in Google Scholar

Published Online: 2022-09-15
Published in Print: 2022-09-05

© 2022 Gregor Bongaerts, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Verächter des Leibes – Verfechter des Fleisches
  6. Handeln und die Generalität des Körpers
  7. Essay
  8. Zwischen Wirtschaft und Moral. Geld als Treiber gesellschaftlichen Wandels
  9. Themenessay
  10. Robotik in allen Lebenslagen? Zur zunehmenden Relevanz und Problematik von Robotern in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen
  11. Sammelbesprechung
  12. „Fußball ist eigentlich ganz einfach. Man muss nur seine Kollegen verstehen.“ – Sammelrezension aktueller soziologischer Forschungen zu Fußball
  13. Einzelbesprechung Technik
  14. Martina Heßler / Kevin Liggieri (Hrsg.), Technikanthropologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden: Nomos 2020, 592 S., br., 58,00 €.
  15. Einzelbesprechung Theorie
  16. Thomas Kron / Christina Laut, Soziologie verstehen. Eine problemorientierte Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 2021, 237 S., kt., 34,00 €
  17. Anne Warfield Rawls (Hrsg.), Harold Garfinkel: Parsons’ Primer. Berlin: J. B. Metzler 2019, 393 S., gb., 39,99 €
  18. Einzelbesprechung Arbeit
  19. Jonathan Falkenberg, Taylors Agenten. Eine arbeitssoziologische Analyse mobiler Assistenzsysteme in der Logistik. Baden-Baden: Nomos 2021, 287 S., kt., 59,00 €
  20. Einzelbesprechung Thanatosoziologie
  21. Thorsten Benkel / Matthias Meitzler, Körper – Kultur – Konflikt. Studien zur Thanatosoziologie. Baden-Baden: Rombach Wissenschaft 2022, 180 S., kt., 39,00 €
  22. Einzelbesprechung Soziale Ungleichheit
  23. Lars Meier, Working Class Experiences of Social Inequalities in (Post-) Industrial Landscapes: Feelings of Class. London/New York: Routledge 2021, 192 S., gb., 141,00 €
  24. Einzelbesprechung Wissenssoziologie
  25. Danny Otto, Dem „Prekariat“ auf der Spur. Eine Deutungsmachtanalyse soziologischer Wissensgenerierung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2019, 346 S., br., 39,95 €
  26. Einzelbesprechung Geschlecht
  27. Simone Scherger / Ruth Abramowski / Irene Dingeldey / Anna Hokema / Andrea Schäfer (Hrsg.), Geschlechterungleichheiten in Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Familie. Festschrift für Karin Gottschall. Frankfurt/New York: Campus 2021, 484 S., br., 48,00 €
  28. Einzelbesprechung Umwelt
  29. Axel Franzen / Sebastian Mader (Eds.), Research Handbook on Environmental Sociology. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar Publishing 2021, 416 S., gb., 246,18 €
  30. Einzelbesprechung Organisation
  31. Günther Ortmann / Marianne Schuller (Hrsg.), Kafka. Organisation, Recht und Schrift. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2019, 440 S., gb., 49,90 €
  32. Einzelbesprechung Geschlecht
  33. Barbara Rendtorff / Claudia Mahs / Anne-Dorothee Warmuth (Hrsg.), Geschlechterverwirrungen. Was wir wissen, was wir glauben und was nicht stimmt. Frankfurt am Main: Campus 2020, 240 S., kt., 24,95 €
  34. Einzelbesprechung Kapitalismus
  35. Wolfgang Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie: Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp 2021, 538 S., gb., 28,00 €
  36. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2022
  37. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 15.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-0024/html?lang=en
Scroll to top button