Editorial
Mit dem vorliegenden 29. Jahrgang beenden wir die Bielefelder Herausgabe der Soziale Systeme und übergeben die Zeitschrift einem neuen Herausgeberteam an den Universitäten Sheffield und Cambridge. Die Übergabe gibt uns Gelegenheit, dem Herausgeberkollegium, insbesondere dem geschäftsführenden Herausgeber Johannes F. K. Schmidt, unseren Autoren, unseren Abonnenten, unseren Lesern und unseren Verlagen für ihre Arbeit, ihr Interesse und ihre Treue danken. Wir haben alle ehrenamtlich gearbeitet, während die Verlage Leske & Budrich, Lucius + Lucius und de Gruyter das verlegerische Risiko getragen haben.
Das Team der neuen Herausgeber, Erik Brezovec, Barry Gibson, Christian Morgner und Steve Watson, sieht sich der soziologischen Systemtheorie, wie sie von Niklas Luhmann geprägt worden ist, verpflichtet. Mit dem zukünftigen Titel Social Systems und mit dem Wechsel in den englischen Sprachraum reagiert die Zeitschrift auf ein wachsendes internationales Interesse an der Systemtheorie. Die neuen Herausgeber wollen dafür Sorge tragen, dass die Zeitschrift den formalen Ansprüchen eines Wissenschafts- und Universitätsbetriebs entspricht, in dem nicht nur das schon in Bielefeld praktizierte anonymisierte Peer-Review-Verfahren der Begutachtung eine Rolle spielen, sondern auch internationale Listen, die über Impactfaktoren und ähnliches Auskunft geben. Ebenso wichtig bleibt es jedoch, die Systemtheorie als ein soziologisches Theorieangebot zu profilieren und sie in einem engen Austausch mit anderen Sozialwissenschaften sowie mit der allgemeinen Systemtheorie zu halten.
In der Systemtheorie steckt nicht nur das Potential einer allgemeinen Kognitionstheorie, die auch Biologen, Neurophysiologen, Psychologen, Informatiker und Philosophen interessiert, sondern auch das Potential einer Auseinandersetzung mit den jüngeren Erdsystemwissenschaften, Medienwissenschaften und der ökologischen Forschung, in denen ein Begriff der Environmentalität prominent geworden ist, der ohne weitere Umstände in allen Umweltsachverhalten systemische Prozesse vermutet. Dem tritt die Systemtheorie mit ihrer strikten Orientierung an einer System/Umwelt-Differenz entgegen, die rekursive und nicht-lineare Operationen der Produktion und Reproduktion von Systemen auf der einen Seite von einer unbekannt bleibenden Umwelt auf der anderen Seite unterscheidet. Nur so ist überdies garantiert, dass die wissenschaftliche Erkenntnis hinreichend auf ihre eigenen Erkenntnisbedingungen reflektiert.
Unausgeschöpft ist auch das Potential der soziologischen Systemtheorie zur Beschreibung der aktuellen Weltlage. Gleich drei Umweltfaktoren setzen die Weltgesellschaft unter einen erheblichen Druck, auf den sie mit komplexen Strukturen reagiert, ohne zu wissen, ob diese als Problemlösungen in der Gesellschaft für die Gesellschaft anschlussfähig sind: Die natürliche Umwelt leidet unter der menschengemachten Klimaveränderung und dem Verlust der Biodiversität und die menschliche Umwelt unter wachsenden Migrationsbewegungen, Alterungsprozessen und medizinischen Belastungen, während sich die technische Umwelt auf zunehmend intelligente Formen der Datengewinnung, Datenverarbeitung und Datenkommunikation umstellt. Mit welcher Struktur und Kultur die Gesellschaft auf diese Veränderungen reagiert, ist offen. Das Lösungspotential einer demokratischen Politik, einer kompetitiven Marktwirtschaft, einer konfessionalisierten Religion, eines positiv von Gerechtigkeitsideen entkoppelten Rechts, einer auf die Empirie der Anschauung angewiesenen Wissenschaft, der immer wieder der neuen Nachricht verpflichteten Massenmedien und einer nervösen Kunst ist begrenzt.
Der systemtheoretische Grundgedanke, wenn es einen gibt, ist nach wie vor ebenso konstruktivistisch wie funktionalistisch. Jedes System differenziert sich ein einer Umwelt aus, die sie selbst konstruiert, und jede Konstruktion ist die Lösung eines Problems. Dysfunktionen gibt es nur in den Augen eines Beobachters, ein Scheitern nur unter den Bedingungen der Evolution. Für die Soziologie bedeutet das, dass sie wie zu den Zeiten von Auguste Comte, Gabriel Tarde und Georg Simmel, Vilfredo Pareto, Talcott Parsons und Niklas Luhmann vor der Herausforderung steht, ihre theoretischen Begriffe zu schärfen, um sich empirisch nicht überwältigen lassen zu müssen.
Die Zeitschrift Soziale Systeme war seit ihrer Gründung 1995 ein Ort der Erprobung theoretischer Begriffe und ein Ort, an dem dank einer der interessantesten Theorieperspektiven, die die Soziologie zu bieten hat, die Welt anders gesehen werden kann. Wir freuen uns, dass die Zeitschrift Social Systems diesen Impuls aufnimmt und weiterträgt.
Dirk Baecker, für das Herausgeberkollegium, im November 2024
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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