Home Zum Geleit
Article Publicly Available

Zum Geleit

  • Maren Lehmann

    Maren Lehmann ist Professorin für Soziologie am Fachbereich Kulturwissenschaften der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen am Bodensee, wissenschaftliche Beirätin der Austrian School of Government und Mitherausgeberin der Zeitschrift Soziale Systeme. Zuletzt war sie Mercator Fellow am SFB 1472 „Transformationen des Populären“ an der Universität Siegen. Ihre Forschungsinteressen liegen zwischen der Problemgeschichte von Individualität auf der einen und der Gesellschaftstheorie der Organisation auf der anderen Seite. Jüngste Veröffentlichungen: Diagrammatik des Publikums, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift (Schwerpunkt: Listen, Rankings, Charts. Zur Behauptung des Populären, hrsg. von Thomas Hecken und Niels Werber), Hamburg 2024, 87–105; „Die Möglichkeit, sich nach außen zu versetzen“, oder: Kommunikationsvarianten von Mitgliedschaft, in: Christel Gärtner et al. (Hrsg.), Kirchenkrise als Glaubenskrise. Gütersloh 2024, S. 191–207; Ortstermin: Im Lesesaal, in: Mittelweg 36 (2023), 150–157; Die Eitelkeit der Organisation, in: Peter Plener/Niels Werber/Burkhardt Wolf (Hrsg.), Das Protokoll. (AdminiStudies 2). Stuttgart 2023, 129–143; Das Fehlerproblem, in: Timon Beyes/Wolfgang Hagen et al. (Hrsg.), Luhmann am OVG Lüneburg. Zur Entstehung der Systemtheorie, Berlin 2021, 59–78.

    EMAIL logo
    and Peter Plener

    Peter Plener ist stellvertretender Leiter der „Austrian School of Government“ in der Sektion öffentlicher Dienst des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport in Wien. Dissertation über Schnitzlers Tagebücher (1879–1931). Jüngste Publikationen: Die Akte/n (Hrsg. mit Burkhardt Wolf), i.E. 2025; Das Protokoll (Hrsg. mit Niels Werber u. Burkhardt Wolf), 2023; Das Formular (Hrsg. mit Niels Werber u. Burkhardt Wolf), 2021; Aktenzeichen MoE – Bürokratie (Hg. mit Burkhardt Wolf), 2020.

Published/Copyright: December 4, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

Die Unterscheidung von Informalität und Formalität gehört sowohl in soziologischer als auch in verwaltungswissenschaftlicher Hinsicht zum Standardrepertoire der Organisationstheorie. Die Aufmerksamkeiten wechseln zwar gelegentlich die Seiten, häufig verbunden mit einer Identifikation ‚der‘ Organisation mit der jeweils in den Blick genommenen Seite. Aber gerade die Unterscheidung selbst wird in solchen Seitenwechseln bestätigt; sie lässt sich als theoretisch wie praktisch brauchbare Arbeitsdefinition des Organisationsbegriffs voraussetzen – als „funktionierende Simplifikation“, mit Luhmanns (1997, 237) Bestimmung der Technik. Semantisch dominiert dadurch die Seite der Formalität, und ihr gegenüber – was ein beachtlicher Teil vor allem der jüngeren Literatur schätzt – wird die Seite der Informalität zwar durch die Unterscheidung gerahmt, aber auf bemerkenswerte Weise zugleich von ihr ausgenommen. Informalität scheint die Funktion zuzukommen, die Umwelt der Organisation im System der Organisation beobachtbar und zurechenbar zu machen. Luhmann (1995, 285) spricht von „‚anderen‘ Erwartungen“, die „ihr eigentümliches Gepräge aus der bewußten, wenn auch stets vorläufigen, Ausklammerung formaler Verbindlichkeit [gewinnen]. Deren Negation ist ihr Ordnungsprinzip“. Das System der Organisation (etwa einer Verwaltung) selbst kann dadurch auf Formalität festgelegt werden, was wiederum den Konventionen des Systembegriffs entgegenkommt (den Ton setzt spätestens Habermas 1971) und mit jenen der Bürokratiekritik zu einem Syndrom verschmolzen werden kann. Demgegenüber verspricht „das faktische Verhalten“ (Luhmann 1995, 18 u. ö.) – das weithin als auf sinnliche Wahrnehmung unter füreinander Anwesenden Wert legende Interaktion bzw. als „Interface“ (White 1992, 38–48) verstanden wird – eine weit größere Variabilität subversiver Stile, beiläufiger Taktiken und latenter Routinen. Diese Varianzbreite nimmt Formalität wesentlich als „Abrundung“ in Anspruch (Luhmann 1995, 285; vgl. nur Meyer/Rowan 1977; Stinchcombe 1965 und 2001; Tacke 2015; Weick 1976).

Das vorliegende Themenheft der Sozialen Systeme ist das Ergebnis eines Workshops in Wien, zu dem die Autor:innen ausgewählter Einreichungen eingeladen wurden, die auf unseren Call for Papers reagiert hatten. Unser Interesse galt insbesondere Studien, die diesen skizzenhaften Überlegungen in theoretischen oder empirischen Fallstudien genauer nachgehen. Gesucht waren – nicht zwingend auf soziologische oder organisationswissenschaftliche Disziplinen beschränkte – Arbeiten, die das Verhältnis von Formalität und Informalität in bestimmten Organisationen und bestimmten Funktionssystemen problematisieren. Im Nachgang zweier diskussionsintensiver Tage sind verwaltungshistorische, organisationssoziologische und managementtheoretische Texte entstanden, die eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf das Informalitätsproblem verbindet. An dieser deutlicher als erwartet ausgefallenen Klammer wäre zu sehen, wo weiter zu forschen sein dürfte. Auch dies verbindet die nun vorliegenden Aufsätze: Organisation muss verstanden werden, und so klar, knapp, unmissverständlich Formalisierungen auch aufzutreten versuchen: dieses Verstehen ist nie gleichsinnig, es hat überall (aber nicht überall dieselben) öffnende, ausschweifende, mithin verunsichernde Folgen (Benno Wagner). Politische Erwartungen an die Verwaltung des Elends und der Krise unterscheiden sich, denn die Verwaltung einer Hungersnot (Peter Becker) führt zu anderer Informalität als die Verwaltung von Migration (Armin Nassehi, Irmhild Saake und Bjarne von Gaessler), professionell gebildeter Eigensinn (Burkhardt Wolf) zu anderer Informalität als erziehendes Beobachten (Achim Brosziewski), manageriale Durchgriffsprätentionen (Victoria von Groddeck) zu anderer Informalität als Wissens- und Erkenntnisbarrieren (Dennis Firkus), Vorabplanungen und Nachrationalisierungen in Krankenhäusern (Martin Feißt und Judith Muster) zu anderer Informalität als Verantwortlichkeitsproblematisierungen bei Havarien (Marcel Schütz).

So ist es einerseits nationalstaatlichen Behörden (auf allen Ebenen verwalteter Gewaltenteilung) nicht gestattet, sich zu Informalität anders als über deren Ausschluss zu verhalten; angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass diese Abwehr wesentlich über den ‚Apparat‘, Vor-Schriften und hierarchische Entscheidungsabläufe, Kanzleiordnungen und Geschäftseinteilungen organisiert werden soll. Bürokratiekritik aller Art, gegenüber einer Verwaltung häufig das Lob auf die formal nicht so restriktiv erscheinende Wirtschaft singend, meint stets auch eine Verlustanzeige hinsichtlich informeller Interventionsmöglichkeiten.

Andererseits werden in Schul- und Universitätsorganisationen möglicherweise nicht die formalen, sondern die informalen Erwartungen und die entsprechenden Verhaltensstile zum ‚abrundenden‘ Decorum. Mutmaßlich fallen darunter die Organisationen auch weiterer vormals klassischer Professionen des „people-processing“ (Goffman 1983, 8), etwa Kirchen oder Krankenhäuser. Je stärker sich die Programme und das Selbstverständnis auch einer wirtschaftlichen oder einer politischen Organisation auf bildende, personalisierende Prinzipien verpflichten, desto wahrscheinlicher wird diese inverse Variante. Die Organisationen politischer Parteien weisen diese inverse Tendenz umso eher auf, je deutlicher sich diese ungeachtet ihrer Institutionalisierung als ‚Bewegung‘ verstehen und entsprechend nicht Informalität, sondern ihre Formalstruktur negieren oder als nachrangig darstellen. Ein vergleichbarer Effekt dürfte durch Kreativitäts- und Beweglichkeitsobsessionen im Unternehmensmanagement entstehen.

Die Beiträge des nun vorliegenden Themenheftes gehen diesen Überlegungen nach. Sie versuchen, Informalität und Interaktion unter den Bedingungen von Formalisierung und Organisation beschreibend und begrifflich auf den Punkt zu bringen. Weitere Arbeit wird vonnöten sein; als Herausgeber:innen hoffen wir, dabei dem hier versuchsweise eingeschlagenen Pfad eigensinniger, diskussionsfreudiger Disziplinarität weiter folgen zu können.

Über die Autoren

Prof. Dr. Maren Lehmann

Maren Lehmann ist Professorin für Soziologie am Fachbereich Kulturwissenschaften der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen am Bodensee, wissenschaftliche Beirätin der Austrian School of Government und Mitherausgeberin der Zeitschrift Soziale Systeme. Zuletzt war sie Mercator Fellow am SFB 1472 „Transformationen des Populären“ an der Universität Siegen. Ihre Forschungsinteressen liegen zwischen der Problemgeschichte von Individualität auf der einen und der Gesellschaftstheorie der Organisation auf der anderen Seite. Jüngste Veröffentlichungen: Diagrammatik des Publikums, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift (Schwerpunkt: Listen, Rankings, Charts. Zur Behauptung des Populären, hrsg. von Thomas Hecken und Niels Werber), Hamburg 2024, 87–105; „Die Möglichkeit, sich nach außen zu versetzen“, oder: Kommunikationsvarianten von Mitgliedschaft, in: Christel Gärtner et al. (Hrsg.), Kirchenkrise als Glaubenskrise. Gütersloh 2024, S. 191–207; Ortstermin: Im Lesesaal, in: Mittelweg 36 (2023), 150–157; Die Eitelkeit der Organisation, in: Peter Plener/Niels Werber/Burkhardt Wolf (Hrsg.), Das Protokoll. (AdminiStudies 2). Stuttgart 2023, 129–143; Das Fehlerproblem, in: Timon Beyes/Wolfgang Hagen et al. (Hrsg.), Luhmann am OVG Lüneburg. Zur Entstehung der Systemtheorie, Berlin 2021, 59–78.

MR Mag. Dr. Peter Plener

Peter Plener ist stellvertretender Leiter der „Austrian School of Government“ in der Sektion öffentlicher Dienst des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport in Wien. Dissertation über Schnitzlers Tagebücher (1879–1931). Jüngste Publikationen: Die Akte/n (Hrsg. mit Burkhardt Wolf), i.E. 2025; Das Protokoll (Hrsg. mit Niels Werber u. Burkhardt Wolf), 2023; Das Formular (Hrsg. mit Niels Werber u. Burkhardt Wolf), 2021; Aktenzeichen MoE – Bürokratie (Hg. mit Burkhardt Wolf), 2020.

Literatur

Goffman, Erving (1983): The Interaction Order. American Sociological Association, 1982 Presidential Address. American Sociological Review 48 (1), 1–17.10.2307/2095141Search in Google Scholar

Habermas, Jürgen (1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 142–290.Search in Google Scholar

Luhmann, Niklas (1995 [1964]): Funktionen und Folgen formaler Organisation. 4. Aufl., mit einem Epilog 1994. Berlin: Duncker & Humblot.Search in Google Scholar

Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Meyer, John W./Rowan, Brian (1977): Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony. The American Journal of Sociology 83 (2), 340–363.10.1086/226550Search in Google Scholar

Stinchcombe, Arthur L. (1965): Social Structure and Organizations, in: James G. March (Hrsg.), Handbook of Organizations. Chicago: Rand McNally, 142–193.Search in Google Scholar

Stinchcombe, Arthur L. (2001): When Formality Works. Authority and Abstraction in Law and Organizations. Chicago/London: The University of Chicago Press.Search in Google Scholar

Tacke, Veronika (2015): Formalität und Informalität. Zu einer klassischen Unterscheidung der Organisationssoziologie, in: Victoria von Groddeck/Silvia M. Wilz (Hrsg.), Formalität und Informalität in Organisationen. Wiesbaden: Springer, 38–92.10.1007/978-3-658-00603-7_2Search in Google Scholar

Weick, Karl E. (1976): Educational Organziations as Loosely Coupled Systems. Administrative Science Quarterly 21 (1), 1–19.10.2307/2391875Search in Google Scholar

White, Harrison C. (1992): Identity and Control. A Structural Theory of Social Action. Princeton, N. J.: Princeton University Press.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-12-04
Erschienen im Druck: 2024-12-02

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 23.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sosys-2024-0001/html
Scroll to top button