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Ursache der Phantomschmerzen: Eine dynamische Netzwerkperspektive

  • Herta Flor

    Herta Flor ist seit 2000 Ordinaria für Neuropychologie und Klinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg und Wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Neuropsychologie und Klinische Psychologie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim. Herta Flor studierte Psychologie in Würzburg, Tübingen und Yale. Nach Forschungsaufenthalten an der University of Pittsburgh und einem Heisenbergstipendium wurde sie 1993 Professorin für Somatopsychologie und 1995 Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie befasst sich mit Lern- und Plastizitätsprozessen bei psychischen Störungen und insbesondere Schmerz und deren Behandlung durch Trainingsverfahren. Sie erhielt für ihre Arbeiten unter anderem den Max-Planck-Forschungspreis und den Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie für ihr Lebenswerk.

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    und Jamila Andoh

    Jamila Andoh ist Leiterin der Arbeitsgruppe „Hirnstimulation, Neuroplastizität und Lernen“ am Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), Mannheim. Sie hat einen Masterabschluss in Medizinischer Physik von der Universität Paris XI (Frankreich). Ihr Forschungsinteresse liegt in der Erforschung von Mechanismen der Hirnplastizität mittels des kombinierten Einsatzes von funktioneller Magnetresonanztomografie (MRI), transkranieller Magnetstimulation (TMS) und transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS). Ihre Forschungstätigkeit zielt darauf ab, die individuellen Variabilität neuralen Schaltkreise für Lern- und Gedächtnisprozesse zu untersuchen, um somit ein besseres Verständnis der Entwicklung von chronischen Schmerzen zu gewinnen.

Veröffentlicht/Copyright: 11. September 2017
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Zusammenfassung

Funktionelle und strukturelle Plastizität in neuronalen Schaltkreisen kann aktiv zu chronischen Schmerzsymptomen beitragen. Die Veränderungen des Zentralnervensystems, die einer Amputation folgen, sind besonders eindrückliche Beispiele der Plastizität des Gehirns. Solche plastischen Veränderungen resultieren aus der kombinierten sensomotorischen Deprivation und intensiven Verhaltensänderungen. Dies beinhaltet sowohl die Aufnahme von kompensatorischen motorischen Fähigkeiten als auch die Bewältigung einer chronischen Schmerzstörung (Phantomschmerz), der eine häufige Folge einer Amputation ist. In diesem Übersichtsartikel diskutieren wir die neusten Befunde zu funktionellen Veränderungen und Neuorganisation in nozizeptiven Bahnen und integrieren die Analysen aus Untersuchungen an Menschen auf mehreren Ebenen. Wir diskutieren wie funktionelle Veränderungen mit Schmerzsymptomen interagieren, nicht nur lokal im primär somatosensorischen Kortex, sondern auf der Netzwerkebene, in die sowohl spinale als auch zerebrale Regionen des nozizeptiven und Schmerznetzwerks eingebunden sind. Zusätzlich ist es wichtig festzustellen, dass Änderungen in der Funktion von neuronalen Netzwerken auch durch veränderten peripheren Input moduliert werden. Diese zentralen Netzwerke sind dynamisch und sind von verschiedenen psychologischen Faktoren wie Depression oder Angst, Lernprozessen, Prothesennutzung oder Nutzung des intakten Gliedes beeinflusst. Wir postulieren, dass zentrale und periphere Faktoren auf dynamische Weise interagieren und die Phantomerfahrung kreieren.

Theorien zu den Ursachen von Phantomschmerz

Die Ursachen von Phantomschmerz (PS) sind nicht gänzlich verstanden. Neue Befunde legen nahe, dass sowohl periphere als auch zentrale Mechanismen, einschließlich neuroplastischer Veränderungen in kortikalen neuronalen Schaltkreisen, zu PS beitragen. So konnte gezeigt werden, dass Amputierte mit PS oft Veränderungen in der funktionellen Organisation somatotoper Karten im primären somatosensorischen Kortex aufweisen (SI, zusammenfassend siehe Flor et al., 2006). Diese maladaptive Plastizität wird vermutlich von der Deafferenzierung (Verlust der eingehenden Signale aus dem fehlenden Glied) verursacht, jedoch legen neuere Befunde zu bildgebenden Verfahren oder pharmakologischen Interventionen nahe, dass auch andere Mechanismen zum PS beitragen können. So haben z. B. Makin et al. (2013) gezeigt, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen der Stärke des PS und Aktivität in den somatosensorischen Regionen, die die Phantomhand repräsentieren, gibt und haben postuliert, dass erhaltene Funktionen im SI-Gebiet den PS bedingen. Vaso et al. (2014) konnten durch Unterdrückung von peripheren Einstrom durch Lidocain auf spinaler Ebene oder dem Hinterwurzelganglion den PS reduzieren. Sie schlossen daraus, dass das PS periphere Ursachen hat. Jedoch fehlten in dieser Studie adäquate Plazebobedingungen, sie war nicht verblindet, und es gab keine standardisierte Schmerzerhebung. Somit ist die Rolle peripherer Faktoren beim Phantomschmerz noch offen. Diese könnte man am besten in Längsschnittstudien untersuchen, jedoch sind diese schwierig durchzuführen, da es sich bei Personen vor einer Amputation oft um multimorbide Patienten handelt.

Die Idee, dass zentrale (entweder maladaptive Reorganisation oder erhaltene Organisation) oder periphere Ursachen von PS existieren, betont die Komplexität des Phänomens PS, jedoch sind diese unterschiedlichen Zugänge nicht notwendigerweise exklusiv. So schlugen z. B. Spitzer et al. (1995) ein Netzwerkmodell der Deafferenzierung vor, in dem sie zeigten, dass Reorganisationsprozesse auch von unstrukturierten Input aus der Peripherie beeinflusst werden können. Der unstrukturierte Input könnte im verbleibenden Stumpf generiert werden, aber auch im Hinterwurzelganglion und dieses abnorme Rauschen von der Peripherie könnte zur kortikalen Reorganisation beitragen. Mackert et al. (2003) verwendeten Nervenstimulation, um Input in die Zone, die vorher das jetzt amputierte Glied repräsentiert hatte, zu generieren, konnten jedoch keinen Phantomschmerz durch diese Stimulation erzeugen. Zusätzlich konnte in einem ähnlichen komputationalen Modell von PS (Boström et al., 2014) gezeigt werden, dass sowohl das Ausmaß der Reorganisation während der taktilen Stimulation als auch das Niveau der kortikalen Aktivität bei Phantombewegungen bei starkem PS im Vergleich zu schwachem PS erhöht waren. Die Autoren berichteten eine stärkere Aktivierung in der Region der erhaltenen Hand, aber diese Region war kleiner im Vergleich zu der Region, die von Phantombewegungen bei schmerzfreien Amputierten aktiviert wurde oder von Handbewegungen Gesunder. Dies stützt die Idee, dass maladaptive Reorganisation während taktiler Stimulation und die andauernde Repräsentation des Gliedes während Phantombewegungen miteinander in Zusammenhang stehen und einen ähnlichen zugrunde liegenden Mechanismus haben, der möglicherweise durch deafferenzierungsbedingte Disinhibition getrieben wird. In welchem Umfang eine aufrecht erhaltene Repräsentation des Glieds zum PS beiträgt, ist Gegenstand einer andauernden Diskussion. Makin et al. (2013) postulierten, dass Phantomschmerzen direkt mit der erhaltenen Repräsentation des Phantomgliedes in Zusammenhang stehen, jedoch verwendete die Arbeitsgruppe Phantombewegungen und vorgestellte Bewegungen, um die kortikale Repräsentation zu bestimmen. Aktivitätsbezogene Karten unterscheiden sich jedoch von stimulationsbezogenen Karten. So fanden im Gegensatz dazu Diers et al. (2010), dass die Beobachtung eines gespiegelten Bildes des sich bewegenden intakten Gliedes, das dann in der Wahrnehmung einer Bewegung des Phantomgliedes entspricht, zu keiner Aktivierung der Repräsentation des Areals der amputierten Hand im primären somatosensorischen Kortex in Amputierten mit PS führte. Im Gegenteil, die Autoren konnten zeigen, dass mehr Aktivierung in der früheren Handrepräsentation mit mehr PS einherging, ein Befund, der dem von Makin et al. (2013) direkt widerspricht. Jedoch wurden in einem Fall Phantombewegungen durchgeführt oder vorgestellt und im anderen über einen Spiegel erzeugt. Foell et al. (2014) berichteten, dass das Spiegeltraining die frühere kortikale Repräsentation des amputierten Gliedes reaktivieren kann und zeigten einen engen Zusammenhang zwischen der Reduktion von PS und der Reaktivierung und Normalisierung der kortikalen Repräsentation. Deswegen postulieren wir, dass es je nach experimentellem Kontext oder Methode Evidenz für entweder eine Reorganisation oder eine Aufrechterhaltung der Repräsentation des amputierten Gliedes geben kann. Wir glauben, dass sowohl die kortikale Reorganisation als auch die Aufrechterhaltung der Repräsentation nicht gegensätzliche Phänomene sind, sondern dass sie komplementäre Befunde sein könnten. Da motorische, sensomotorische und sensorische Karten unterschiedliche Funktionen haben, könnten deren Repräsentationen sich auch unterscheiden. Dies passt zu einer dynamischen Sicht von sensorischen kortikalen Karten, die sie sich mit dem Kontext und den Aufgaben ändern (Limanowski und Blankenburg, 2016), und nicht als feste und fixe Repräsentationen betrachtet werden können. Auf der Basis dieser Befunde und theoretischen Annahmen kann man von einer Interaktion peripherer und zentraler Prozesse in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von PS ausgehen, wie dies z. B. von Flor et al. (2006) vorgeschlagen wurde. Somit gehen maladaptive Reorganisationsprozesse und die andauernde Repräsentation des Areals des amputiertes Gliedes Hand in Hand.

Reorganisation auf der Ebene von Netzwerken

Die vorherige Literatur zum PS war vor allem auf Reorganisation im primären somatosensorischen und motorischen Kortex fokussiert, jedoch weiß man wenig über die Konsequenzen von chronischem Schmerz auf der Ebene der globalen Reorganisation des Gehirns. Der primäre somatosensorische Kortex ist mit anderen primären sensorischen Arealen (z. B. den visuellen Kortizes) und ebenso mit dem motorischen Kortex und mit höheren sensomotorischen und Assoziationsarealen (z. B. prämotorische und temporoparietale Kortizes) verknüpft. Deswegen ist es wahrscheinlich, dass lokale Veränderungen zu einer Kaskade von kortikalen Reorganisationsprozessen auch in entfernten damit verbundenen Arealen führen. So zeigten z. B. Makin et al. (2010), dass die Amputation eines Gliedes auch die visuell-räumliche Wahrnehmung der Teilnehmer beeinflusst, dergestalt, dass Amputierte einen räumlichen Neglekt auf der amputierten Seite zeigten und stattdessen die intakte Seite bevorzugten. Ebenso haben Preissler et al. (2013) gezeigt, dass Personen mit PS keine Zunahme der grauen Substanz im visuellen Kortex zeigten, die sonst bei Amputierten ohne PS auftritt. Sie schlugen vor, dass es sich hier um kompensatorische visuelle Prozesse bei den schmerzfreien Amputierten handeln könnte. Diese Befunde passen zur vorhergehenden Literatur, die gezeigt hat, das auch im okzipitotemporalen Kortex eine topografisch organisierte Körperkarte existiert (Orlov et al., 2010).

Läsionen in nicht humanen Primaten zeigten, dass es nach einer ischämischen Verletzung der M1-Handrepräsentation zu einer außerordentlichen Proliferation von neuen ventral-prämotorischen (PMv) Projektionen in der Handregion des primären somatosensorischen Kortex (SI) kommt und ebenso zu reziproken Projektionen von SI zum PMv. Diese auf Verletzung folgende Aussprossung könnte eine „Reparaturstrategie“ von SI sein, um die motorischen Regionen wieder mit den somatosensorischen Regionen zu verknüpfen (Dancause et al., 2005). Es ist unklar, ob solche Veränderungen eine direkte Folge der Verletzung sind, oder ob sie durch die Entwicklung von kompensatorischen Verhaltensweisen, die die nicht verletzten MISI-Kortizes oder interkortikale Verbindungen mit anderen kortikalen Regionen betreffen, oder ihre direkten kortikospinalen Projektionsbahnen entstehen (Abb. 1). So konnte gezeigt werden, dass die interhemisphärische Konnektivität in S1 und Phantomempfindungen miteinander in Zusammenhang stehen (Makin et al., 2013). Hier könnte nutzungsabhängige Plastizität bezogen auf kompensatorische Nutzung des anderen Gliedes aber auch das Ausmaß der Prothesennutzung eine wichtige Rolle spielen (z. B. Lotze et al., 1999). Zusätzlich konnte man zeigen, dass es zu einer verstärkten Konnektivität zwischen dem Verletzten SI-Kortex und medialen und präfrontalen Arealen kommt (auf der Basis von Daten zum Default Mode Network; Makin et al., 2015).

Abb. 1 Schematisches Diagramm der Hauptfaktoren, die für die Entwicklung von Phantomschmerz relevant sind
Abb. 1

Schematisches Diagramm der Hauptfaktoren, die für die Entwicklung von Phantomschmerz relevant sind

Darüber hinaus ist bekannt, dass Netzwerke dynamisch sind, da sie das Endprodukt von Interaktionen zwischen multiplen sensorischen, motorischen und kognitiven Regionen sind und dies unterstützt die Idee einer flexiblen dynamischen Repräsentation des Körpers im Kortex, der von multisensorischen Informationen rekonstruiert wird (Limanowski und Blankenburg, 2016). Solche großflächigen Reorganisationsprozesse betonen die Komplexität des Phantomschmerzphänomens und müssen weiter untersucht werden.

Darüber hinaus ist es so, dass die funktionellen Attribute und Repräsentationen spezifischer sensorischer Wahrnehmungen wie auch deren Verhaltenskonsequenzen sich über kurze wie auch lange Zeiträume verändern können (Flor et al., 2006; Kuner, 2010). Somit kann man erwarten, dass akuter Schmerz, der selbst schon eine komplexe multifaktorielle Erfahrung ist, Interaktionen zwischen verschiedenen neuronalen Schaltkreisen, die in peripheren, spinalen und Hirnregionen verteilt sind, involvieren und dass sich jeder dieser lokalen Schaltkreise in einer Aktivitäts- und störungsspezifischen Art verändert, wenn die Chronifizierung einsetzt. Jedoch wissen wir bislang nicht, welche maladaptiven Plastizitätsprozesse eine Ursache und welche eine Konsequenz chronischer Schmerzen sind, und ein detailliertes Verständnis der zugrunde liegenden zellulären und molekularen Mechanismen fehlt noch. Darüber hinaus wissen wir nicht, welches der funktionelle Beitrag verschiedener peripherer oder zentraler Mechanismen ist und dies ist ein Gegenstand von Diskussion und Kontroversen, nicht zuletzt, weil dies wichtige Konsequenzen für die Entwicklung von therapeutischen Zugängen hat.

Komorbiditäten: Überlappende neuronale Schaltkreise bei chronischem Schmerz

Funktionelle Plastizität und Reorganisation in nozizeptiven Bahnen korrelieren räumlich und zeitlich mit verschiedenen Aspekten von chronischem Schmerz und bilden in einigen Fällen ein mechanistisches Korrelat für funktionelle Veränderungen in der Schmerzwahrnehmung, im schmerzbezogenen Affekt und der Chronizität wie auch Komorbiditäten von chronischen Schmerzen. Daten über die Komorbidität von chronischem Schmerz mit Störungen wie Angst oder Depression und deren Ähnlichkeit mit Mechanismen von Sucht und stressbezogenen Störungen legen nahe, dass chronischer Schmerz nicht ausschließlich in nozizeptiven Schaltkreisen repräsentiert ist und dass sich mit der Zeit und mit zunehmender Chronizität Assoziationen mit andern Schaltkreisen bilden, und diese Schaltkreise sich überlappen können. Zusätzlich ist es so, dass Depression, Stresserfahrungen und bestimmte Lernmuster, wie z. B. eine Neigung, sehr stark auf Belohnung zu reagieren, das nozizeptive System in Richtung Chronizität auslenken könnten. Es ist dann möglich, dass diese Schaltkreise, die in den chronischen Schmerz involviert sind, denen ähnlich sind, die emotionale, motivationale und kognitive Prozesse repräsentieren (Bushnell et al., 2013). So konnte man zum Beispiel zeigen, dass Patienten mit Fibromyalgie nicht in der Lage sind, Schmerz durch positive Stimmung zu modulieren. Während Gesunde eine Verminderung von Schmerz und Unangenehmheit zeigen, wenn sie gleichzeitig positive Erlebnisse haben, weisen Patienten mit Fibromyalgie eine Verstärkung der Schmerzintensität und Unangenehmheit auf, wenn ein angenehmer emotionaler Hintergrund vorliegt (Kamping et al., 2013). Dies geht einher mit reduzierter Aktivierung im sekundären somatosensorischen Kortex, der Insel, dem orbitofrontalen Kortex und der anterioren Gyrus cinguli. Darüber hinaus hat sich zeigen lassen, dass die striatale Aktivierung als Indikator von motivationalem Verhalten gestört ist. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Patienten mit chronischen Schmerzen weniger effizient Schmerz durch positive Gefühle modulieren können und dass sie weniger von appetitiven Ereignissen als Gesunde profitieren können. Dies passt zu Befunden, die zeigen, dass die Verarbeitung von Belohnung im chronischen Schmerzzustand verändert ist (Navratilova et al., 2014). Es gibt somit gute Hinweise darauf, dass chronischer Schmerz motivationales Verhalten stört und mit einer defizienten Modulation z. B. des dopaminergen Systems einhergeht (Martikainen et al., 2015). Somit gibt es Ähnlichkeiten zwischen der Entwicklung von abhängigem Verhalten und chronischem Schmerz, und es ist möglich, dass der Versuch, Schmerzreduktion zu erhalten, zu einer defizitären Verarbeitung anderer Arten von belohnenden Reizen führen kann. Es kommt somit zu einer Art Übernahme von nozizeptiven Schaltkreisen, von denen, die in die an der Verarbeitung von Belohnung involviert sind (Elman und Borsook, 2016). Dies ist in völliger Übereinstimmung mit bereits lange existierenden Modellen zur operanten Konditionierung chronischen Schmerzes (Main et al., 2014).

Jedoch involviert chronischer Schmerz nicht nur Veränderungen in der Verarbeitung von Belohnung, sondern auch Veränderungen in der Verarbeitung von aversiven Reizen, spezifisch im aversiven emotionalen Lernen. So konnten mehrere Studien zeigen, dass chronischer Schmerz von verstärkten Hirnaktivierungen auf Assoziationen von Schmerzen mit schmerzbezogenen Signalen begleitet wird, die mit negativer Antizipation und Angst vor Schmerzen assoziiert sind. Hier kommt es dann zu Furcht vor Schmerz und zu Aktivierungen in einem Schaltkreis, der die Amygdala, den Hippokampus und präfrontale Areale umfasst (Hashmi et al, 2013). In diesem Kontext ist die Extinktion von aversiven Gedächtnisinhalten eventuell wichtiger als die Akquisition der Furchtreaktionen, und Furchtgedächtnisprozesse könnten ein wichtiger Fokus für weitere Forschungsaktivitäten sein. Dieses Überwiegen von aversivem emotionalem Lernen könnte auch die deutliche Überlappung von chronischem Schmerz und Angststörungen erklären (Abb. 2). Darüber hinaus treten Depression und chronischer Schmerz oft in einer komorbiden Weise auf und es wurde vorgeschlagen, dass neuroinflammatorische Prozesse ein gemeinsamer Mediator sein könnten. Zusätzlich sind maladaptive kognitive Prozesse wie Katastrophendenken oder Überzeugungen von Hilf- und Hoffnungslosigkeit wie auch Rumination in chronischen Schmerzzuständen erhöht. Diese können die schmerzassoziierten Überaktivierungen, die man in salienzbezogenen neuronalen Netzwerken sieht, verstärken, beinhalten Veränderungen in der funktionellen Konnektivität dieser Areale und dies könnte ein weiterer wichtiger Chronifizierungsmechanismus sein (Kucyi et al., 2014, ). In diesem Kontext ist die Erfahrung von Stress und die Bewältigung von Stress eine andere wichtige Determinante des Auftretens chronischer Schmerzen. So gibt es viele Hinweise, dass Stress und Trauma die in Schmerz involvierten Hirnregionen und Schaltkreise verändern, insbesondere diejenigen, die in emotionale und motivationale Prozesse involviert sind, und es konnte auch gezeigt werden, dass das Stresserleben einer der besten Prädiktoren für Schmerzchronizität ist. Darüber hinaus kann Stress die Extinktion von aversiven Gedächtnisinhalten beeinträchtigen und das Wiederauftreten von bereits gelöschten aversiven Gedächtnisinhalten begünstigen und könnte somit aversive Interaktionen von Emotionen und Schmerz perpetuieren (Elsenbruch und Wolf, 2015).

Abb. 2 Globale Faktoren, die das Ausmaß an Phantomschmerz modulieren und assoziierte Hirnareal
Abb. 2

Globale Faktoren, die das Ausmaß an Phantomschmerz modulieren und assoziierte Hirnareal

Schließlich muss man Veränderungen in der Körperrepräsentation als einen Kontext betrachten, in dem die Schmerzverarbeitung auftritt. So konnte man zum Beispiel zeigen, dass Patienten, die an einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom leiden, das Gefühl der Fremdheit des betroffenen Gliedes berichten, und sie zeigen auch Störungen in der Fähigkeit, den betroffenen Körperteil nach taktiler Stimulation zu identifizieren. Sie weisen darüber hinaus Defizite in der generellen Wahrnehmung von Körperpositionen und auch Veränderungen in der Größenwahrnehmung des betroffenen Gliedes auf. Des Weiteren ist sowohl die taktile als auch die propriozeptive Wahrnehmungsfähigkeit gestört (Tsay et al., 2015). Wie diese Veränderungen zur Schmerzchronizität beitragen, ist derzeit noch wenig bekannt, obwohl Interventionen, die die Körperrepräsentation bei Schmerz verändern, durchaus erfolgreich sind (Flor, 2012).

Schlussfolgerungen

Wir postulieren, dass Phantomschmerz das Ergebnis einer komplexen Interaktion von peripheren und zentralen Faktoren ist und dass Reorganisationsprozesse in mehreren Hirnregionen zur Schmerzerfahrung beitragen, die durch peripheren Input moduliert werden kann. Sowohl verletzungs- als auch nutzungsabhängige Plastizitätsmechanismen sind aktiv und interagieren in einer dynamischen Weise über die Zeit. Für die Behandlung von Phantomschmerz bedeutet dies, dass man kortikale Repräsentationen zum Ziel der Intervention machen muss.

Über die Autoren

Herta Flor

Herta Flor ist seit 2000 Ordinaria für Neuropychologie und Klinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg und Wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Neuropsychologie und Klinische Psychologie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim. Herta Flor studierte Psychologie in Würzburg, Tübingen und Yale. Nach Forschungsaufenthalten an der University of Pittsburgh und einem Heisenbergstipendium wurde sie 1993 Professorin für Somatopsychologie und 1995 Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie befasst sich mit Lern- und Plastizitätsprozessen bei psychischen Störungen und insbesondere Schmerz und deren Behandlung durch Trainingsverfahren. Sie erhielt für ihre Arbeiten unter anderem den Max-Planck-Forschungspreis und den Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie für ihr Lebenswerk.

Jamila Andoh

Jamila Andoh ist Leiterin der Arbeitsgruppe „Hirnstimulation, Neuroplastizität und Lernen“ am Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), Mannheim. Sie hat einen Masterabschluss in Medizinischer Physik von der Universität Paris XI (Frankreich). Ihr Forschungsinteresse liegt in der Erforschung von Mechanismen der Hirnplastizität mittels des kombinierten Einsatzes von funktioneller Magnetresonanztomografie (MRI), transkranieller Magnetstimulation (TMS) und transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS). Ihre Forschungstätigkeit zielt darauf ab, die individuellen Variabilität neuralen Schaltkreise für Lern- und Gedächtnisprozesse zu untersuchen, um somit ein besseres Verständnis der Entwicklung von chronischen Schmerzen zu gewinnen.

Literatur

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Danksagung

Diese Arbeit wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (SFB1158/B07an H.F und J.A.) finanziert. H.F. erhielt Unterstützung durch ein Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates (Projekt 230249). Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Glossar

ACC

anteriorer Gyruscinguli

BG

Basalganglien

M1

primärer motorischer Kortex

PAG

periaquäduktales Grau

PFC

präfrontaler Kortex

S1

primärer somatosensorischer Kortex

S2

sekundärer somatosensorischer Kortex


Anmerkung

Übersetzung der englischen Version des Artikels online verfügbar unter https://doi.org/10.1515/nf-2017-A018


Online erschienen: 2017-9-11
Erschienen im Druck: 2017-8-28

© 2017 by De Gruyter

Heruntergeladen am 28.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/nf-2017-0018/html
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