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Viszeraler Schmerz – eine biopsychologische Perspektive

  • Sigrid Elsenbruch

    Prof. Dr. Sigrid Elsenbruch, Ph.D. – promovierte in Biologischer Psychologie an der University of Oklahoma Health Sciences Center (Oklahoma City, U.S.A.) mit psychophysiologischen Forschungsarbeiten zum Reidzdarmsyndrom und erhielt dort im Jahr 2000 den Doctor of Philosophy (Ph.D.). Als wissenschaftliche Assistentin setzte sie ihre Forschungsarbeiten zum viszeralen Schmerz an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen am Institut für Medizinische Psychologie fort, wo sie im Jahr 2004 habilitierte. Sie wurde von 2009–2014 im Heisenberg-Programm der DFG gefördert. Seit 2011 ist sie Professorin für Experimentelle Psychobiologie unter Berücksichtigung Geschlechtsspezifischer Aspekte an der Universität Duisburg-Essen und forscht am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie mit ihrer Arbeitsgruppe zu biologischen und psychologischen Aspekten der Gehirn-Darm-Achse im Kontext viszeraler Schmerzen.

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    , Adriane Icenhour

    Dr. Adriane Icenhour, Ph.D. – studierte Psychologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie promovierte zu neurobiologischen Mechanismen viszeraler Schmerzen an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen (Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie, Prof. S. Elsenbruch) und schloss die Promotion 2015 ab. Von Anfang 2016 bis Mitte 2017 war Dr. Icenhour als Postdoktorandin (DFG-Stipendium) am Institute of Clinical and Experimental Medicine, Division of Gastroenterology und Center for Medical Image Science and Visualization (CMIV) an der Universität Linköping in Schweden (Prof. Susanna Walter) tätig. Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland im Sommer 2017 führt Dr. Icenhour als Postdoktorandin in der Arbeitsgruppe von Prof. Elsenbruch ihre Forschungstätigkeit fort. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf den neuralen Mechanismen einer dysfunktionalen Gehirn-Darm-Kommunikation im Kontext chronischer viszeraler Schmerzen, vor allem beim Reizdarmsyndrom. Ihr Interesse gilt insbesondere schmerzassoziierten Lern- und Gedächtnisprozessen und ihren neuralen Korrelaten.

    and Paul Enck

    Prof. Dr. Paul Enck, Dipl.-Psych. – studierte Erziehungswissenschaften und Geschichte an der Universität Münster (1968–1973) und Psychologie an der Universität Oldenburg (1978–1982). Er promovierte 1985 in Psychologie, erlangte 1992 die Habilitation an der Ruhr-Universität Bochum und wurde 2000 zum Professor ernannt. Von 1994 bis 1998 leitete Prof. Enck das Funktionslabor an der Klinik für Gastroenterologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Seit 1998 ist er als Forschungsleiter am Universitätsklinikum Tübingen, zunächst in der Abteilung für Allgemeine Chirurgie (1998–2004), seit 2004 in der Abteilung für Innere Medizin VI/Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Published/Copyright: September 11, 2017
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Zusammenfassung

Der von inneren Organen ausgehende, viszerale Schmerz unterscheidet sich in entscheidenden Aspekten von somatischen Schmerzen, sodass sich aus der somatischen Schmerzforschung gewonnene Erkenntnisse nur begrenzt übertragen lassen. Zugleich sind insbesondere zentralnervöse Mechanismen der bidirektionalen Kommunikation zwischen Darm und Gehirn bislang nur unzureichend verstanden. Diese Übersichtsarbeit beleuchtet den viszeralen Schmerz aus einer biopsychologischen Perspektive mit Schwerpunkt auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Bedeutung von Stress und weiteren psychologischen Einflussfaktoren auf die bidirektionale Signalvermittlung entlang der Gehirn-Darm-Achse steht dabei im Fokus. Zudem werden Befunde zu möglichen geschlechtsbezogenen Unterschieden bei viszeralen Schmerzen diskutiert. An der Schnittstelle von biologischer Psychologie, Neurogastroenterologie und den Neurowissenschaften soll so ein Einblick in ein faszinierendes, interdisziplinäres Forschungsgebiet eröffnet werden.

Hintergrund

Jeder Mensch hat sie schon erlebt – aus den inneren Organen des Thorax, des Abdomens oder des Beckens kommende, viszerale Schmerzen (Viszera = Eingeweide). Der Gastrointestinaltrakt ist durch das vegetative Nervensystem innerviert, sodass sich viszeraler Schmerz maßgeblich von Schmerzempfindungen in somatisch innervierten Organen wie der Haut oder der Muskulatur unterscheidet. Er wird meist als dumpf und diffus wahrgenommen, ist schwieriger zu lokalisieren, und wird als unangenehmer und bedrohlicher empfunden als somatischer Schmerz (Boeckxstaens et al., 2016). Diese perzeptuellen Unterschiede sind sowohl auf anatomische und physiologische, als auch auf zentralnervöse Besonderheiten bei der viszeralen Schmerzverarbeitung zurückzuführen. Dem komplexen Wechselspiel dieser peripheren und neuralen Mechanismen wird das Konzept einer bidirektionalen Gehirn-Darm-Achse am besten gerecht (Abbildung 1).

Abb. 1 Schematische Darstellung der bidirektionalen Kommunikationswege entlang der Gehirn-Darm-Achse und ihrer zentralen biologischen und psychologischen Einflussfaktoren. CRH = Corticotropin-releasing Hormon. Die Abbildung wurde unter Verwendung des Motifolio PPT Drawing Toolkits (www.motifolio.com) erstellt.
Abb. 1

Schematische Darstellung der bidirektionalen Kommunikationswege entlang der Gehirn-Darm-Achse und ihrer zentralen biologischen und psychologischen Einflussfaktoren. CRH = Corticotropin-releasing Hormon. Die Abbildung wurde unter Verwendung des Motifolio PPT Drawing Toolkits (www.motifolio.com) erstellt.

Die viszeralen Organe wie der Darm verfügen nicht über spezifische Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren), sondern haben organspezifische niedrig- und hochschwellige Rezeptorsysteme, die beispielsweise bei Dehnung aktiviert werden. Gesunde Magendarmfunktionen dringen, abgesehen von z. B. dem Sättigungsgefühl oder Stuhldrang, normalerweise nicht in unser Bewusstsein. Erst die Aktivierung hochschwelliger Rezeptoren, beispielsweise bei starker Dehnung, führt zu einer bewussten Wahrnehmung von Reizen aus dem Magendarmtrakt, einschließlich viszeraler Schmerzen. Viszerale Signale werden über Nervenfasern des vegetativen Nervensystems im Rückenmark umgeschaltet. Hier werden Reflexsysteme initiiert, welche die normalen Funktionen (z. B. Bewegungen des Darms) der viszeralen Organe in Zusammenarbeit mit dem Nervensystem des Magendarmtraktes – dem enterischen Nervensystem – regulieren. Auch wenn ein Großteil der Signale nicht zum Großhirn weitergeleitet wird und sich damit der bewussten Wahrnehmung entzieht, wird ein Teil dieser Informationen aus der Körperperipherie im Hirnstamm registriert. Schmerzhafte viszerale Reize hingegen erreichen höhere schmerzverarbeitende Hirnareale organ-unspezifisch. Hier sind zudem viszerale Schmerzreize im Gegensatz zu somatischen Signalen nicht im primären, sondern im evolutionsbiologisch älteren, sekundären somatosensorischen Kortex und im Inselkortex repräsentiert. Im Hirnstamm und auch im Großhirn gibt es über verschiedene Kommunikationswege des vegetativen Nervensystems, des Hormonsystems sowie des Immunsystems enge Verbindungen zurück zum enterischen Nervensystem. Den komplexen biologischen und psychologischen Einflussfaktoren auf Störungen der Magen-Darm-Funktion wird ein biopsychosoziales Krankheitsmodell am besten gerecht, welches der Pathophysiologie chronischer viszeraler Schmerzen zugrunde gelegt wird.

Chronische viszerale Schmerzen

Chronischer viszeraler Schmerz tritt als Kernsymptom im Rahmen funktioneller Magen-Darm-Erkrankungen (engl. functional gastrointestinal disorders; FGID) auf, für die nach heutigem Wissensstand keine eindeutige organische Ursache identifiziert werden kann und die als exemplarisch für eine Dysfunktion der Gehirn-Darm-Interaktion betrachtet werden. Darunter ist das Reizdarmsyndrom (RDS), das durch wiederkehrende Unterbauchschmerzen und eine gestörte Darmtätigkeit charakterisiert ist, mit einer Prävalenz von etwa 11% die am häufigsten gestellte Diagnose (Enck et al., 2016), gefolgt von der durch Oberbauchbeschwerden geprägten funktionellen Dyspepsie (FD). Frauen sind dabei deutlich häufiger betroffen, was geschlechtsbezogene Einflüsse nahelegt. FGID schränken die Lebensqualität Betroffener massiv ein und sind mit erheblichen sozioökonomischen Belastungen verbunden. Eine hohe Überlappung mit psychiatrischen Erkrankungen, vor allem Angststörungen und Depressionen, legen einen maßgeblichen Einfluss psychologischer Faktoren nahe (Van Oudenhove et al., 2016). Trotz einer Vielzahl verfügbarer Therapieoptionen pharmakologischer, psychotherapeutischer oder alternativmedizinischer Natur gelingt es meist nicht, Betroffenen langfristig Symptomminderung oder gar Symptomfreiheit zu ermöglichen. Dies ist nicht zuletzt dem bislang nur unzureichenden Verständnis der Ursachen und zugrunde liegenden Mechanismen geschuldet und illustriert weiteren Forschungsbedarf (Layer et al., 2011).

Interdisziplinäre Forschungsansätze zur Gehirn-Darm-Achse und ihren Störungen an der Schnittstelle zwischen der Psychologie, den Neurowissenschaften und der Neurogastroenterologie werden diesen komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren bestmöglich gerecht (Tanaka et al., 2011; Abbildung 1). Frühere Forschungsarbeiten dokumentierten Veränderungen der gastrointestinalen Motilität und Sensitivität in Reaktion auf emotionalen Stress bei FGID und legten einen Grundstein für neuere Ansätze, die sich mit den peripheren und zentralnervösen Mechanismen und deren komplexer Interaktion befassen. Wesentliche pathophysiologische Konzepte, die auch im Kontext somatischer Schmerzforschung zentral sind, sind die Allodynie, d. h. eine Überempfindlichkeit, bei der unschädliche, nicht schmerzhafte Reize eine Schmerzempfindung auslösen, sowie die Hyperalgesie, also eine erniedrigte Schmerzschwelle und damit verstärkte Reaktion auf schmerzhafte Reize (Elsenbruch, 2011; Mayer et al., 2015a). Jüngere Arbeiten befassen sich zusätzlich mit veränderten Aufmerksamkeitsprozessen. Der Begriff der Hypervigilanz beschreibt eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Signalen und Prozessen (Elsenbruch and Enck, 2016). Bei chronischen Bauchschmerzen geht dieser selektive Wahrnehmungsfokus auf Signale aus dem Magen-Darm-Trakt mit negativ geprägten Interpretationen im Sinne katastrophisierender Gedanken einher. Gastrointestinale Empfindungen werden demnach stärker als potenziell bedrohliches Krankheitssymptom wahrgenommen, negativ bewertet und emotional eingefärbt erinnert. Der Einfluss dieser zentralnervös vermittelten, psychologischen Faktoren und ihrer Wechselwirkungen auf die Symptomatik bei FGID stehen im Fokus interdisziplinärer, psychobiologischer Forschung zum viszeralen Schmerz.

Stress und psychologische Faktoren

Chronischer Stress und Symptome von Angst oder Depression treten häufig bei PatientInnen mit FGID auf. Sie beeinflussen sowohl den Ausprägungsgrad der gastrointestinalen Symptomatik, als auch die Lebensqualität (Van Oudenhove et al., 2016). Erkenntnisse aus der tierexperimentellen Forschung liefern fundamentales Wissen zu den Mechanismen, die dem Einfluss akuter und chronischer Stressbelastungen auf Funktionen der Gehirn-Darm-Achse zugrunde liegen. Sie dokumentieren zahlreiche stress-induzierte Veränderungen der gastrointestinalen Funktion wie eine Verzögerung der Magenentleerung und eine Beschleunigung der Dünn- und Dickdarmpassage, eine Stimulation der Säuresekretion und eine gehemmte Durchblutung der Schleimhaut (Taché et al., 2017), die teilweise auch für den Menschen nachgewiesen wurden (Boeckxstaens et al., 2016). Diese Effekte sind maßgeblich durch die Mediatoren der Stress-Achse, insbesondere des Corticotropin Releasing Hormone (CRH), vermittelt (Taché et al., 2017). Neueste Ansätze zeigen darüber hinaus komplexe Wechselwirkungen von Stress(-mediatoren) und dem mikrobiellen Milieu des Darms (Mikrobiota) (Mayer et al., 2014; Moloney et al., 2016). So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass infolge einer Transplantation des Stuhlinhalts von RDS – PatientInnen in keimfreie Ratten bei den Tieren viszerale Hypersensitivität induziert werden konnte (Crouzet et al., 2013).

Ob und inwieweit Befunde aus Tierstudien zu Stress auf den Menschen übertragbar sind, ist nicht abschließend geklärt. Auch wenn vergleichbare Experimente zu chronischem Stress beim Menschen nicht durchführbar sind, geben Langzeitstudien wertvolle Hinweise auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen chronischen psychologischen Belastungen und chronischen Schmerzen. So konnten bei Personen, die zunächst keine Darmsymptome aufwiesen, erhöhte Angstsymptome und eine geringere Lebensqualität als Risikofaktoren für die spätere Entwicklung einer FGID identifiziert werden (Ford et al., 2008; Koloski et al., 2012). Auch Untersuchungen zum postinfektiösen RDS, das durch akute Darminfektionen ausgelöst wird, dokumentieren prospektiv ein höheres Erkrankungsrisiko durch chronische Stressbelastung und Depressivität (Spiller and Garsed, 2009). Andererseits legt eine aktuelle prospektive Untersuchung nahe, dass emotionale Störungen sowohl vor der Manifestation chronischer viszeraler Schmerzen, also auch in deren Folge auftreten können (Koloski et al., 2016). Komplexe Wechselwirkungen zwischen psychologischen Veränderungen und gastrointestinaler Symptomatik im Sinne eines Teufelskreises erscheinen vor diesem Hintergrund naheliegend.

Hirnbildgebung

Verfahren wie die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) rücken das Gehirn im Sinne einer „zentralen Schaltstelle“ der Gehirn-Darm-Achse in den Fokus der Forschung zur viszeralen Schmerzverarbeitung bei Gesunden und PatientInnen. Diese Verfahren erlauben die Untersuchung funktioneller Hirnprozesse während der Verarbeitung experimentell induzierter Schmerzreize, und liefern somit wichtige Erkenntnisse zu den neurobiologischen Grundlagen der Integration sensorischer, kognitiver und emotionaler Dimensionen des Schmerzgeschehens.

PatientInnen mit RDS zeigen in Reaktion auf Dehnungen des Enddarms verstärkte neurale Aktivierung insbesondere in Hirnregionen der emotionalen Erregung (emotional arousal), der kognitiven Kontrolle, sowie der endogenen Schmerzmodulation im Vergleich zu Gesunden (Mayer et al., 2015b). Während bei Gesunden verstärkt Regionen aktiviert werden, die mit der Schmerzinhibition assoziiert sind, sind bei PatientInnen vor allem die vermehrte Aktivierung des Thalamus, der Insula und des anterioren cingulären Kortex zu beobachten. Die stärkere Beteiligung dieser Hirnareale als Teil eines zentralen Salienz-Netzwerks unterstreicht die Bedeutung dysfunktionaler Aufmerksamkeitsprozesse im Sinne einer viszeralen Hypervigilanz (Mayer et al., 2015b). Psychologische Faktoren spielen auch hier eine wichtige Rolle. So verändern akuter Stress oder negative Emotionen die neuralen Aktivierungsmuster bei Gesunden und PatientInnen mit RDS (Elsenbruch et al., 2010a; Phillips et al., 2003). Veränderungen der zentralnervösen Schmerzverarbeitung beim RDS sind zudem nachweislich mit Symptomen von Angst und Depressivität assoziiert (Elsenbruch et al., 2010b). Interessanterweise zeigen PatientInnen bereits in Antizipation von Schmerz veränderte Hirnaktivierungen (Mayer et al., 2015b). Solche antizipatorische Reaktionen, die vor allem in Arealen der Aufmerksamkeit und emotionalen Verarbeitung zu beobachten sind, spiegeln schmerzbezogene Furcht als Resultat assoziativer Lernprozesse wider (Icenhour et al., 2015b; Labus et al., 2013), die auch bei Gesunden die Verarbeitung viszeraler Reize beeinflusst (Icenhour et al., 2017). Schließlich verdeutlichen Studien zu Placebo-Effekten im Kontext viszeraler Schmerzen die Relevanz schmerzbezogener Erwartungen. So führt die Gabe einer wirkstofffreien Substanz (eines Placebos) in Kombination mit der positiven Erwartung einer Schmerzlinderung zu einer Reduktion der wahrgenommenen Schmerzen – einer Placebo-Analgesie. Diese geht einher mit einer signifikanten Reduktion schmerzinduzierter Hirnaktivierung in einem komplexen Netzwerk von Arealen, die an sensorischen, emotionalen, motivationalen und kognitiven Aspekten der Schmerzmodulation beteiligt sind. Diese Prozesse sind bei PatientInnen mit chronischen viszeralen Schmerzen in Bezug auf neurobiologische Mechanismen bislang nur unzureichend untersucht – eine Forschungslücke, die mit Blick auf das klinische Potenzial von Placebomechanismen bald geschlossen werden sollte (Elsenbruch and Enck, 2015).

Veränderungen der Hirnfunktion bei PatientInnen mit FGID treten auch spontan unter Ruhebedingungen auf, wie eine zunehmende Zahl von resting-state fMRT – Studien belegt. Störungen der spontanen Hirnaktivität und funktionellen Konnektivität, die die Interaktion zwischen neuralen Systemen abbildet, zeigen sich bei FGID vor allem im default mode Netzwerk, das mit selbstreferenziellen, also auf das Ich bezogenen Prozessen einschließlich der Überwachung körperlicher und emotionaler Zustände, assoziiert ist. Daneben sind auch Störungen des Salienz-, des emotional arousal und des sensomotorischen Netzwerks beschrieben (Lee et al., 2016; Mayer et al., 2015b), die vor allem Hirnregionen betreffen, für die stimulusinduzierte Veränderungen beschrieben sind und zusätzlich die Rolle gestörter Prozesse der Aufmerksamkeit und emotionalen Regulation im Kontext chronischer viszeraler Schmerzen unterstreichen.

Verfahren wie die Voxel-basierte Morphometrie (VBM) oder das Diffusion-Tensor Imaging (DTI) erlauben schließlich auch die non-invasive Untersuchung der Hirnstruktur und der Verbindungsbahnen zwischen spezifischen Hirnarealen. Zusammenfassend zeigen sich auch hier bei PatientInnen substanzielle Veränderungen vor allem Hirnareale betreffend, die an der sensorischen Verarbeitung, Integration und Modulation beteiligt sind wie dem somatosensorischen Kortex, dem Thalamus, den Basalganglien, sowie in präfrontalen Arealen die mit regulatorischen Prozessen assoziiert sind. Zudem zeigen sich, konsistent mit funktionellen Befunden, auch hier deutliche Veränderungen des Salienznetzwerks. Interessanterweise waren beobachtete Unterschiede zwischen PatientInnen und Gesunden insbesondere auf psychopathologische Symptome und weniger auf Erkrankungsdauer oder Symptomschwere zurückzuführen (Mayer et al., 2015b). Auch wenn diese Befunde morphologische Veränderungen des Gehirns bei chronischem viszeralen Schmerz nahelegen, lassen sie keine Aussage darüber zu, ob diese Ursache oder aber Folge der chronischen Schmerzen sind. Longitudinale Studien sind deshalb notwendig, um Hinweise auf kausale Zusammenhänge zwischen Veränderungen des zentralen Nervensystems und chronischem viszeralen Schmerz ableiten zu können.

Geschlechtsdifferenzen in Bildgebungsstudien zum viszeralen Schmerz

Funktionelle Hirnbildgebungsstudien liefern Hinweise auf eine Rolle des Geschlechts im Kontext der viszeralen Schmerzverarbeitung sowohl bei Gesunden als auch bei von chronischen viszeralen Schmerzen Betroffenen. Dabei zeigen sowohl gesunde Frauen als auch Patientinnen eine stärkere Aktivierung in Hirnarealen, die mit der emotionalen Schmerzverarbeitung und Modulation assoziiert sind (Icenhour et al., 2015a). Dies legt eine Schlüsselrolle emotionaler Prozesse bei der geschlechtsspezifischen Verarbeitung und Modulation akuter viszeraler Schmerzen nahe. Da auch bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen eine Häufung weiblicher Betroffener zu verzeichnen ist, könnten emotionale Faktoren auch im Sinne psychischer Stressoren als geschlechtsspezifische Risikofaktoren das häufigere Auftreten viszeraler Schmerzen bei Frauen begünstigen. Schließlich scheint jedoch Geschlechtsunterschieden beim viszeralen Schmerz auch ein komplexes Zusammenspiel entlang der Gehirn-Darm-Achse zugrunde zu liegen, bei dem die oben beschriebenen psychologischen Faktoren mit neurobiologischen Mechanismen interagieren. So wird insbesondere weiblichen Geschlechtshormonen ein entscheidender Einfluss auf die viszerale Sensitivität und das Schmerzerleben zugesprochen (Icenhour et al., 2015a). Die Bedeutung der Sexualhormone ist jedoch im Kontext der Hirnverarbeitung viszeraler Schmerzen bislang unzureichend verstanden.

Fazit

Die komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Einflussfaktoren auf das Schmerzerleben machen interdisziplinäre Forschungsansätze an den Schnittstellen von Psychophysiologie, Neurowissenschaften und Neurogastroenterologie notwendig. Ein tieferes Verständnis der Gehirn-Darm-Achse und ihrer komplexen Mechanismen auf biologischer, psychologischer und letztlich auch sozialer Ebene ist essenziell, um langfristig erfolgreiche Therapiekonzepte für die Behandlung chronischer viszeraler Schmerzsyndrome zu implementieren.

Über die Autoren

Sigrid Elsenbruch

Prof. Dr. Sigrid Elsenbruch, Ph.D. – promovierte in Biologischer Psychologie an der University of Oklahoma Health Sciences Center (Oklahoma City, U.S.A.) mit psychophysiologischen Forschungsarbeiten zum Reidzdarmsyndrom und erhielt dort im Jahr 2000 den Doctor of Philosophy (Ph.D.). Als wissenschaftliche Assistentin setzte sie ihre Forschungsarbeiten zum viszeralen Schmerz an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen am Institut für Medizinische Psychologie fort, wo sie im Jahr 2004 habilitierte. Sie wurde von 2009–2014 im Heisenberg-Programm der DFG gefördert. Seit 2011 ist sie Professorin für Experimentelle Psychobiologie unter Berücksichtigung Geschlechtsspezifischer Aspekte an der Universität Duisburg-Essen und forscht am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie mit ihrer Arbeitsgruppe zu biologischen und psychologischen Aspekten der Gehirn-Darm-Achse im Kontext viszeraler Schmerzen.

Adriane Icenhour

Dr. Adriane Icenhour, Ph.D. – studierte Psychologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie promovierte zu neurobiologischen Mechanismen viszeraler Schmerzen an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen (Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie, Prof. S. Elsenbruch) und schloss die Promotion 2015 ab. Von Anfang 2016 bis Mitte 2017 war Dr. Icenhour als Postdoktorandin (DFG-Stipendium) am Institute of Clinical and Experimental Medicine, Division of Gastroenterology und Center for Medical Image Science and Visualization (CMIV) an der Universität Linköping in Schweden (Prof. Susanna Walter) tätig. Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland im Sommer 2017 führt Dr. Icenhour als Postdoktorandin in der Arbeitsgruppe von Prof. Elsenbruch ihre Forschungstätigkeit fort. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf den neuralen Mechanismen einer dysfunktionalen Gehirn-Darm-Kommunikation im Kontext chronischer viszeraler Schmerzen, vor allem beim Reizdarmsyndrom. Ihr Interesse gilt insbesondere schmerzassoziierten Lern- und Gedächtnisprozessen und ihren neuralen Korrelaten.

Paul Enck

Prof. Dr. Paul Enck, Dipl.-Psych. – studierte Erziehungswissenschaften und Geschichte an der Universität Münster (1968–1973) und Psychologie an der Universität Oldenburg (1978–1982). Er promovierte 1985 in Psychologie, erlangte 1992 die Habilitation an der Ruhr-Universität Bochum und wurde 2000 zum Professor ernannt. Von 1994 bis 1998 leitete Prof. Enck das Funktionslabor an der Klinik für Gastroenterologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Seit 1998 ist er als Forschungsleiter am Universitätsklinikum Tübingen, zunächst in der Abteilung für Allgemeine Chirurgie (1998–2004), seit 2004 in der Abteilung für Innere Medizin VI/Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

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Anmerkung

Übersetzung der englischen Version des Artikels online verfügbar unter https://doi.org/10.1515/nf-2017-A029


Online erschienen: 2017-9-11
Erschienen im Druck: 2017-8-28

© 2017 by De Gruyter

Downloaded on 28.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/nf-2017-0029/html
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