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Zur Problematik der Schuldfähigkeitsbeurteilung von intelligenzgeminderten Rechtsbrechern«

– ein Abriss zum 3. Eingangsmerkmal anhand einer aktuellen Studie –
  • Dieter Seifert EMAIL logo und Tina Neuschmelting
Veröffentlicht/Copyright: 12. Juni 2021

Zusammenfassung

Patienten mit der Hauptdiagnose einer Intelligenzminderung führen ein Schattendasein im deutschen Maßregelvollzug nach § 63 StGB. Zahlenmäßig stellen sie eine Minderheit dar, weisen jedoch im Vergleich zu anderen Diagnosegruppen eine überlange Verweildauer auf. Der bis dato persistierende Umstand mangelnder wissenschaftlicher Grundlagenkenntnisse über diese Patientengruppe hält deren Abseitsposition aufrecht. Dadurch werden Unsicherheiten bei der Diagnostik sowie Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Legalprognose sowohl auf Seiten der Juristen als auch der Sachverständigen und Therapeuten geschürt. Das dritte Eingangsmerkmal des § 20 StGB, unter das Patienten mit einer angeborenen Intelligenzschwäche ohne nachweisbare Ursache subsumiert werden, ist gleichsam ein Abbild dieses Daseins. Abgesehen von der noch bis Ende 2020 despektierlichen und antiquierten Bezeichnung (Schwachsinn), birgt dieser Rechtsbegriff Unklarheiten und erschwert ein sicheres, transparentes Vorgehen in der forensischen Beurteilung. Dabei sind gerade diese Patienten, allein aufgrund ihrer mangelnden intellektuellen Fertigkeiten, auf die Expertise und auch Fürsorge Anderer (Sachverständiger/Juristen) angewiesen. Anhand der Ergebnisse einer aktuellen empirischen Untersuchung über 102 im Maßregelvollzug des Landes NRW (gemäß § 63 StGB) untergebrachten intelligenzgeminderten Patienten soll versucht werden, einige der offenkundig gewordenen wissenschaftlichen Lücken zu schließen, um ein höheres Maß an Sicherheit im Umgang mit dieser Patienten- und Straftätergruppe zu erreichen. Im Besonderen ist darauf hinzuweisen, dass bei mehr als jedem fünften Urteil (21,5 %) erhebliche Defizite festzustellen waren, die beide Stufen der Schuldfähigkeitsbeurteilung betrafen. So ließ sich in den Urteilen bei 13 % keine Angabe zu einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB entnehmen; in den restlichen Fällen fehlten konkrete Ausführungen zur Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit. Bei kritischer Analyse der Einweisungsgutachten lag der Anteil an fehlerhaften Ausführungen zur Schuldfähigkeit noch etwas höher (27 %).

Abstract

Patients with the main diagnosis Intellectual developmental disorder play an overlooked role in the German forensic commitment according to § 63 StGB (German penal code). While being a minority in numbers, they display an overly long detention time in comparison to other diagnostic groups. The still persisting lack of basic scientific knowledge about this patient group reinforces their state of not being recognized enough. This leads to increasing uncertainties regarding diagnostics as well as the evaluation of criminal responsibility and legal prognosis for the juridical side as the forensic experts and therapists alike. The third category of the § 20 StGB (Disorders of Intellectual Development, until the end of 2020: Idiocy), which accounts for patients with a congenital mental retardation without a traceable cause, reflects this status quo. Apart from its disrespectful and oldfashioned description, this legal term includes ambiguities and thereby impedes a safe and transparent forensic evaluation. Yet it is especially these patients that rely, already due to their insufficient intellectual capabilities, on the expertise and care of others (forensic experts/legal experts). By the results of a current empirical study about 102 patients with a mental retardation, which are being accommodated in the forensic commitment of North Rhine-Westphalia (according to § 63 StGB), we aim to close some of the evident scientific gaps in order to ensure a higher extent of safety when dealing with this patient- and likewise criminal group. In particular, it should be noted that in more than every fifth verdict (21,5 %) severe deficits were found affecting both degrees of the evaluation of criminal responsibility. In 13 % of these none of the categories of the § 20 StGB was mentioned; in the remaining cases specific statements regarding the ability for insight and/or ability for control were missing. Through critical analysis of the admission assessments the amount of deficient explanations about the criminal responsibility increased even further (27 %).

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Online erschienen: 2021-06-12
Erschienen im Druck: 2021-06-08

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 17.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/mks-2021-0103/html?lang=de
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