Home Evrin, Feyza/Meyer, Bernd (2023): Sprachmittlung in öffentlichen Einrichtungen. Handreichungen für die Praxis. Berlin: Peter Lang. 172 S., ISBN 9783631890035.
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Evrin, Feyza/Meyer, Bernd (2023): Sprachmittlung in öffentlichen Einrichtungen. Handreichungen für die Praxis. Berlin: Peter Lang. 172 S., ISBN 9783631890035.

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Published/Copyright: October 13, 2023
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Evrin, Feyza ( 2023 ): Sprachmittlung in öffentlichen Einrichtungen. Handreichungen für die Praxis. Berlin: Peter Lang.


Die Autorin und der Autor setzen sich mit ihrem Handbuch das große Ziel, vor dem Hintergrund wiederkehrender Integrationsdebatten und des in Deutschland vielfach diskutierten Konzepts „Integration durch Sprache“ eine „flächendeckende, effektive und rechtskonforme Versorgung mit Sprachmittlung“ (ebd.:2) in Deutschland zu etablieren. Diesem anspruchsvollen Vorhaben begegnen Evrin/Meyer durch die grundlegende Systematisierung von „Angebot und Nachfrage“ (vgl. Kapitel 2) in dem schwer zu überblickenden und unübersichtlichen Sektor der Sprachmittlung. Dabei werden in den insgesamt neun Kapiteln nicht nur gesellschaftspolitische, rechtliche und wissenschaftliche Perspektiven bezüglich „Sprachmittlung in öffentlichen Einrichtungen“ diskutiert – auch die Akteurinnen und Akteure (Nutzerinnen und Nutzer von Sprachmittlung und Sprachmittlerinnen und Sprachmittler, vgl. Kapitel 3) selbst kommen zu Wort. Zusätzliche Aktualität erfährt das Handbuch, das vor allem für „Projektverantwortliche, Sprachmittler, Politiker, Verbandsvertreter und potenzielle Nutzer“ (ebd.:7) gedacht ist, durch den Hinweis auf den Koalitionsvertrag 2021: Der Vertrag sieht vor, dass die Sprachmittlung „[...] im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des SGB V“ (ebd.) wird. Die Sprachmittlung in öffentlichen Einrichtungen erfährt einen „Paradigmenwechsel, weil damit erstmals eine rechtliche Anspruchsgrundlage für die Finanzierung von Sprachmittlung durch die Krankenversicherung geschaffen würde“ (ebd.:22).

Sprachmittlung ist „immer von vielfältigen sozialen Beziehungen und unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzen abhängig“ (ebd.:18) – diese Grundmotivation für das Erstellen der Handreichung verdeutlichen die Verfasserin und der Verfasser einleitend an zwei Beispielen aus dem schulischen und kommunalpolitischen Bereich. Damit wird exemplarisch der argumentative Rahmen gesteckt, warum Sprachmittlung kein „Entgegenkommen“ (ebd:21), sondern eine Notwendigkeit ist, die einen „Zugang zum Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich“ (ebd.) ermöglicht. Erwägenswerten Bedenken im Rahmen von (sprach‑)politischen Debatten rund um die erfolgreiche Inklusion von Migrantinnen und Migranten durch das möglichst schnelle Erreichen von Sprachkompetenzen wird damit schon zu Beginn entgegengetreten. (Wie die Heinrich-Böll-Stiftung [Ohliger et al. 2017:5] herausgefunden hat, ist das für den Ausbildungs- und Berufseinstieg erforderliche Mindestniveau der Sprachstufe B1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) meist nicht ausreichend für das Bestreiten des Arbeitsalltags und somit wahrscheinlich auch nicht für Behördengänge oder Arztgespräche). Nichtsdestotrotz fehlt an dieser und auch an einer anderen Stelle im Buch das Aufzeigen der unterschiedlichen gesellschaftsbedingten Ursachen für die Unvermeidlichkeit von Sprachmittlung (in öffentlichen Bereichen) und die Einbettung von Sprachmittlung in asyl- bzw. (sprach‑)politische Maßnahmen im Kontext von Migration und Flucht. Für Verwunderung sorgt dann der Begriff „Sprachmittlung“ im Zusammenhang mit der etymologischen Auseinandersetzung: So wurde „Sprachmittlung“ als Oberbegriff „für die Tätigkeit von Übersetzern, Dolmetschern und anderen Sprachkundigen“ (Evrin/Meyer 2023:21) während des Naziregimes verwendet. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wieso erfolgte keine Distanzierung zu diesem Begriff beziehungsweise wieso wurden nicht zumindest Überlegungen angestellt, eine neue Bezeichnung für die „unterstützende, sprachliche Tätigkeit“ (vgl. ebd.:23) zu finden – zumal Evrin/Meyer, in Anlehnung an die Definition des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens, unter ‚Sprachmittlung‘ vor allem das „mündliche Dolmetschen“ (ebd.) verstehen.

Das zweite Kapitel ermittelt den geschätzten Bedarf von Sprachmittlungseinsätzen in Deutschland. Dafür werden „Daten aus der Vermittlungstätigkeit von Sprachmittlerpools in der Schweiz“ (ebd.:28) herangezogenen, da dort die Sprachmittlung nicht nur in wichtigen Regeldiensten besser etabliert ist als in Deutschland, sondern auch als Dienstleistung besser dokumentiert wird (vgl. ebd.:29). So errechnen Evrin/Meyer, dass pro Mensch mit Migrationshintergrund ein Sprachmittlungsbedarf von 0,09 Einsätzen im Jahr anfällt (vgl. ebd.:30). Die Autorin und der Autor erwähnen an dieser Stelle selbstkritisch, dass die unklare Bedeutung der Kategorie „Migrationshintergrund“ (ebd.:31) lediglich eine „ungefähre Anzahl an Sprachmittlungseinsätzen, die in einer Gemeinde oder Region in einem Jahr benötigt wird“ (ebd.), zulässt. Genau wie bei der Debatte um „Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt“ und die damit zusammenhängende Frage nach dem Ausländeranteil bzw. der Größe (nachfolgender) Migrationsgenerationen in Deutschland können statistische Angaben (beispielsweise durch den Mikrozensus) nur bedingt weiterhelfen. Dennoch ermöglichen die Überlegungen der Autoren einen Schätzwert für die Nachfrage von Dolmetscheinsätzen im öffentlichen Bereich. Laut Evrin/Meyer lässt sich für Deutschland anhand des Faktors von 0,09 und 21 Millionen Einwohnern mit Migrationshintergrund (2022) ein ungefährer Sprachmittlungsbedarf von 1,69 Millionen Einsätzen pro Jahr errechnen (vgl. ebd.:33) – eine Nachbesserung zum eigentlichen Ergebnis von 1,89 müsste in einer weiteren Auflage erfolgen. So oder so ändert diese Kleinigkeit nichts an der stichhaltigen Argumentation der Verfasserin und des Verfassers: In den Bereichen Verwaltung, Bildung, Soziales und Gesundheit ist in über 1,5 Millionen Fällen die Verständigung zwischen Akteurinnen und Akteuren nicht gesichert. Die Autorin und der Autor empfehlen abschließend, kommunale Bedarfe an Sprachmittlungseinsätzen über die Formel „Anzahl der Menschen mit Migrationshintergrund x 0,09“ zu ermitteln. Dies führen Evrin/Meyer beispielhaft und mit kritischer Reflexion im Hinblick auf einzelne, städtische Sprachmittlungsangebote und -dienstleister für Rheinland-Pfalz und weitere Bundesländer durch.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich einerseits mit den Kosten, die Sprachmittlungen in öffentlichen Einrichtungen verursachen, und andererseits mit den unterschiedlichen Perspektiven der „Nutzer und Sprachmittler“ (ebd.: 46 f.). Studien zur Sprachmittlung im medizinischen Bereich (vgl. ebd.:45) zeigen, dass zunächst Kosten verursacht, gleichzeitig aber auch Kosten, die durch eine fehlende Sprachmittlung entstehen würden, gesenkt werden. So führen Sprachmittlungsangebote unter anderem dazu, dass sich langfristig die Gesundheitskosten reduzieren. (Im Rahmen einer Interventionsstudie wurde festgestellt, dass nach ihrer Entlassung Patientinnen und Patienten, die auf Sprachmittlung angewiesen sind, tendenziell weniger oft die Notaufnahme aufsuchen). Grundsätzlich wird bei der Darstellung des Kosten-Nutzen-Faktors von Sprachmittlung deutlich, dass die Datengrundlage nicht nur dünn ist, sondern auch von den Autoren detaillierter hätte beschrieben werden können. Diesem studienorientierten Blickwinkel werden dann bereichsspezifische Perspektiven (Schulen, Sozialarbeit, Beratungsstelle für Frauen, Frauenhäuser, Psychiatrie und Psychotherapie, Jugendhilfe, Migrationsberatung) der Nutzerinnen und Nutzer sowie Sprachmittlerinnen und Sprachmittler hinsichtlich von Relevanz und Auswirkungen gegenübergestellt. So ist wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse, dass manche Einrichtungen ohne Sprachmittlung ihren Aufgaben überhaupt nicht nachkommen bzw. gerecht werden können (vgl. ebd.: 59). Im Kontrast dazu steht die Feststellung, dass die Finanzierung von Sprachmittlung nicht nur „ungeklärt“ (ebd.: 60) ist, sondern auch eine hohe Administration erfordert. Besonders interessante Einblicke gewähren die acht interviewten Sprachmittlerinnen und Sprachmittler, durch die unter anderem gezeigt werden kann, dass die Tätigkeit der Sprachmittlerin/des Sprachmittlers nicht unbedingt klar von sozialarbeiterischen Tätigkeiten abgegrenzt werden kann (vgl. ebd.:70). Leider fehlen für einen kompletten Einblick in die Perspektiven der Nutzerinnen und Nutzer Erfahrungsberichte der Klienten und Klientinnen. Gerade die Thematisierung des starken Abhängigkeitsverhältnisses von Geflüchteten zu Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern in Asylverfahren hätte für die Grundargumentation der Handreichung gesprochen.

Mit den beiden nachfolgenden Kapiteln „Rechtliche Aspekte von Sprachmittlung“ (Kapitel 4) und „Organisationsmodell für Vermittlungsstellen“ (Kapitel 5) leisten Evrin/Meyer die zentralste Voraussetzung für den Vorschlag eines flächendeckenden, systematischen Sprachmittlungsangebots in Deutschland. Das vierte Kapitel setzt sich nicht nur mit den „Anspruchsgrundlagen“ (ebd.: 72ff.) von Sprachmittlung auseinander, sondern thematisiert auch die „Rechtssichere Bereitstellung von Sprachmittlung“ (ebd.:72). Beide übersichtlich dargestellten (Grau-)Bereiche zeigen, dass die unklare Rechtsprechung und die damit verbundenen Ermessensspielräume einzelner Personen zu institutionellen Abhängigkeiten für Personen mit Sprachmittlungsbedarf führen. Dabei weisen die Autorin und der Autor nicht nur auf Probleme im Zusammenhang einer rechtlich gesicherten Sprachmittlung hin, sondern bemühen sich auch um entsprechende Lösungsvorschläge (vgl. ebd.:98). Daran schließt dann in Kapitel 5 auch die Vorstellung eines praxisorientierten und zugleich detaillierten Organisationsmodells an, „das die wesentlichen Anforderungen an die Vermittlungsstelle berücksichtigt“ (vgl. ebd.:101). Einbezogen werden dabei unter anderem auch die konkrete Auflistung der Aufgaben von Vermittlungsstellen, digitalisierte Prozessanforderungen, die Akquise von Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern sowie die Prozessoptimierung und Öffentlichkeitsarbeit.

Im sechsten Kapitel werden dann „die in Deutschland angebotenen Qualifizierungsmöglichkeiten beschrieben“ (vgl. ebd.:117). Damit verbunden ist die Kernfrage nach der geeigneten Ausbildung von Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern, die sich überwiegend um sprachliche Mindestanforderungen nach dem GER dreht. So kritisieren Evrin/Meyer die Grundannahme des GER, dass Zwei- oder Mehrsprachigkeit „Übersetzungsfähigkeiten“ (ebd.:118) einschließt. Weitere, notwendige Vermittlungskompetenzen, wie z. B. zum Rollenverständnis oder zum Hintergrundwissen der Kommunikation, spielen in diesem Ansatz kaum eine Rolle (vgl. ebd.:119). Damit verbunden sind dann auch Unklarheiten bei den Qualifizierungsanforderungen für Sprachmittlerinnen und Sprachmittler in öffentlichen Einrichtungen und die Überprüfung dieser Fähigkeiten. Anschließend werden allgemein akademische und nicht akademische Formate sowie die Staatliche Prüfung für Dolmetscher besprochen (vgl. ebd.:117). Die darin fehlende Einbindung solcher zuvor angesprochener „Soft-Skills“, welche als Teil der Vermittlungskompetenz über die mündliche Übersetzungsarbeit hinausgehen, werden im Rahmen einer „Basisschulung für Sprachmittlung“ (ebd.:131ff.) sowie in der „Schulung für Fachkräfte“ (ebd.:141ff.) konkretisiert.

Eine thematische Breite erfährt die Handreichung im Zuge der beschriebenen Qualifizierungsmöglichkeiten durch die Erläuterung der Vor- und Nachteile des „Distanzdolmetschens“ (Kapitel 7) gegenüber dem Präsenzdolmetschen sowie durch den Einbezug der „Schriftlichen Übersetzung“ (Kapitel 8). Letzteres Thema erwähnen Evrin/Meyer im Zusammenhang mit Dokumenten, die vor, nach oder während des (mündlichen) Dolmetscheinsatzes verwendet und übersetzt werden (vgl. ebd.:55). Eine entsprechende Fünf-Schritte-Anleitung für die Vor- und Nachbereitung schriftlicher Übersetzungen runden das Kapitel ab. Anstelle eines Schlusswortes fassen die Autorin und der Autor ihre Analysen in „Zehn Empfehlungen für die Praxis“ (ebd.:163) zusammen und bleiben damit ihrem Motto einer vor allem für die Praxis ausgerichteten Anleitung für Sprachmittlungsangebote treu.

Das Buch von Evrin/Meyer überzeugt durch innovative und ambitionierte Ansätze zur Beschreibung und längst überfälligen Systematisierung von Sprachmittlung in Deutschland. Die Verfasserin und der Verfasser beziehen dabei immer wieder wertvolle Beispiele aus der Praxis mit ein. Die zum Teil erstmalige Beleuchtung von problembehafteten Themen im Bereich der Sprachmittlung (beispielsweise die rechtlichen Grundlagen betreffend) werden erfreulicherweise mit entsprechenden Lösungsvorschlägen versehen.

Zitierte Literatur:

Ohliger, Rainer/Polat, Filiz/Schammann, Hannes/Thränhardt, Dietrich (2017): Integrationskurse reformieren. Steuerung neu koordinieren. Schritte zu einer verbesserten Sprachvermittlung. Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/sites/default/files/e-paper_36_integrationskurse_reformieren.pdf (25.07.2023).Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-10-13
Erschienen im Druck: 2023-11-24

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 29.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/les-2023-0027/html
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