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Spezialbibliotheken als digitale Grenzgänger

Eindrücke von der ASpB-Tagung, 15. bis 17. November 2017
  • Elgin Helen Jakisch EMAIL logo
Published/Copyright: February 2, 2018
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Die Bibliothek des Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“ war Gastgeber der 36. Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Spezialbibliotheken.[1] Mit etwa 200 Anmeldungen war die Tagung gut besucht. Die Organisatoren hatten, passend zu Berlin, das Motto „Die Mauer ist offen! Grenzen überwinden – Digitale Welten erschließen“ gewählt. Das Programm bot unter anderem praxisbezogene Vorträge über Digitalisierungsprojekte, Barrierefreiheit, Bibliothekssysteme in der Cloud und Forschungsdatenmanagement.[2] Bibliotheken gehen neue Wege. Grenzen sind aber noch vielfach vorhanden. Gerade in der digitalen Welt sind sie oftmals unsichtbar. Dieser Artikel fasst für die Leser der IWP interessante Impulse zusammen.

Abbildung 1 Große Löcher in der Mauer bieten neue Perspektiven (Foto: E. Jakisch).
Abbildung 1

Große Löcher in der Mauer bieten neue Perspektiven (Foto: E. Jakisch).

Der Kunde als „Mauerspecht“

Spezialbibliotheken sind traditionell nicht festgelegt auf rein bibliothekarische Arbeiten. Sie verwalten oftmals hauseigene Sammlungen, Archive oder besondere historisch gewachsene Bestände. Ihre Arbeitsweisen sind ebenso heterogen wie die Institutionen, denen sie angegliedert sind. Informiert man sich über den digitalen Wandel innerhalb dieser Szene, so bekommt man eine Miniatursicht auf die Fragestellungen, die die großen Institutionen beschäftigen werden. Sehr oft sind diese Bibliotheken aktiv am Informationsmanagement innerhalb der eigenen Institution beteiligt, arbeiten eng mit der Leitung und der IT zusammen. Weil die Wege zu den internen Kunden kurz sind, kommen von hier oft Anregungen für neue Servicebausteine.

Ein innovatives Projekt stellte Nicole Clasen von der ZBW in Kiel/Hamburg vor. Sie erläuterte die Auswertung von anonymisierten Ausleihdaten mit Hilfe von Visualisierungssoftware, um zu zeigen, welche Inhalte von welcher Nutzergruppe in welchen Zeiträumen gelesen werden und die Ausleihtrends für andere Nutzer der Bibliothek optisch sichtbar machen. Auch wenn diese Erfahrungen nicht gänzlich in die Erwerbungsstrategie einfließen, demonstrieren sie doch Interesse an einer Serviceverbesserung. Der Nutzer stellt seine eigenen Aktivitäten plötzlich mit denen anderer Nutzer in Beziehung und erhält, ähnlich wie bei Amazon, visuelle Lese-Empfehlungen.

Interdisziplinäres Arbeiten kann bisweilen die eigenen Sichtweisen verändern, Gewohnheiten in Frage stellen. Beim Management von Forschungsdaten tritt die Bibliothek aus ihrem gewohnten Kontext. Vier Vorträge kamen aus diesem Umfeld. Dass Bibliothekare gut systematisieren können und sich hier optimal einbringen, war ein Grund, warum man beim diesem Thema sofort an die Bibliotheken dachte. Der Teufel steckt aber im Detail. Die Interessen der Forscher und Bibliothekare mussten sich erst einmal annähern und Gewohnheiten über den Haufen geworfen werden. Ein Projekt hatte die kuriose Erfahrung gemacht, dass ein Zuviel an Metadaten die Forscher überforderte. Es war also notwendig, den Aufwand auf ein sinnvolles Maß zu reduzieren. Bisher gibt es noch keine Standards, wie das Management von Forschungsdaten geregelt sein soll. Jede Institution handhabt dies anders. Wenn die Forschung immer mehr Daten produziert und diese an die Nutzung von elektronischer Sekundärliteratur knüpft, könnte darin auch für kommerzielle Provider oder Verlage ein „Geschäftsmodell“ stecken.

Zwei andere Projekte handelten von einem Paradigmenwechsel: den Verzicht auf das Bibliothekssystem auf dem eigenen Server und die Verlegung der Infrastruktur in die webgestützte Cloud, direkt beim Provider. An der TU-Berlin war die Umstellung vollkommen unbemerkt vom Nutzer vonstattengegangen, wie Monika Kuberek nicht ganz ohne Stolz betonte. Sibylle Volz und Sabine Liebmann (DIPF) erklärten, dass ihre Entscheidung unter anderem nach dem Kriterium Modernisierung der Nutzeroberfläche ausgefallen war. Beide Häuser bewerteten diesen Schritt positiv, wenngleich eigene Expertise unter Umständen wegfällt. Auch wenn es zunächst möglicherweise irritiert, dass ein analoger Service nicht vermisst wird, den man zuvor durch einen digitalen ersetzt hat, ist dies doch der eigentliche Erfolg.

Archive in der Transformation

Die Grenzen zwischen Beständen werden im virtuellen Raum fließender, wenn analoge Archivalien digitalisiert werden. Derzeit digitalisiert man eifrig und stellt die Inhalte auf öffentliche Webportale wie Europeana, Wikimedia oder die Deutsche Digitale Bibliothek. Auf die Vernetzung und Nachnutzung der Daten dieser Projekte wird man gespannt sein dürfen. Es öffnen sich Perspektiven, Forschungsfragen aus verschiedenen Disziplinen mit Hilfe algorithmischer Technologien zur (Neu-)Erschließung der Inhalte nachzugehen. Die Nutzungsrechte-Klärung und der Datenschutz werden als Dauerthemen immer wichtiger.

Spezialbibliotheken sind ebenfalls in solche Projekte involviert. Das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte beispielsweise digitalisiert rare Bestände auf Anfrage und verknüpft hauseigene Quellen mit Forschungsdaten und externen Ressourcen. Beim Deutschen Institut für Pädagogische Forschung (DIPF) hatte man für ein Forschungsprojekt Abituraufsätze aus 100 Jahren gescannt und in einem „virtuellen Sonderlesesaal“ zugänglich gemacht. Lars Müller skizzierte, wie Informationstechniken auf Geisteswissenschaften angewendet und einer sinnvollen Nachnutzung zugeführt werden können. Es war schwierig, wie Müller erläuterte, die Metadaten aus archivarischer oder bibliothekarischer Sicht optimal in Einklang zu bringen.

Bei vielen Projekten scheint man den Arbeitsaufwand noch zu unterschätzen. Der Bibliothek des Bureau of Fiscal Documentation (Amsterdam) räumte man für das Scannen und OCR-wandeln von 13 Millionen Einzelseiten in 69 Sprachen aus 200 Ländern nur drei Monate Zeit ein. Am Ende hatte man zwei Jahre gebraucht, weil man Probleme mit der OCR-Wandlung hatte und mit verschiedenen Dienstleistern arbeiten musste.

Universelle Zugänglichkeit

Die digitale Welt ist in ihrer Anfangsphase. Noch ist nicht alles für jeden zugänglich. Barrierefreiheit assoziieren wir zunächst mit Fahrstühlen. Dabei geht es um den gesellschaftspolitischen Auftrag der Zugänglichkeit von Informationen, Lokalitäten und Dienstleistungen als Menschenrecht. Es gibt eine UN-Kommission, die sich damit beschäftigt. Weil diese Aspekte innerhalb der Informationswelt zu wenig Beachtung finden, widmete sich eine ganze Session auf der Tagung dem Thema.

Bemerkenswert war der Vortrag von Prof. Dr. Thomas Kahlisch (Deutsche Zentralbücherei für Blinde). Er sprach über das barrierefreie Internet und universelles Design. Gemeint sind eine breite und flexible Nutzbarkeit, Fehlertoleranz, geringer physischer Aufwand und Erreichbarkeit. All dies weisen Smartphones auf. Kahlisch demonstrierte mit Dreh- und Wischbewegungen auf dem bildlosen Display seines Smartphones eindrücklich, wie schnell Blinde und Sehbehinderte damit sprachgesteuert im Web navigieren. Auch PDF-Dateien sind nicht automatisch barrierefrei, selbst wenn die Entwicklungen von Adobe längst dem Standard eines universellen Designs entsprechen. Wer hier Abhilfe schaffen will, kann den PDF/UA-Standard nutzen (Universal Accessibility).

Kommunikation als Schlüssel zu mehr

Drei One-Person-Librarians aus Berlin diskutierten in einem Werkstattgespräch über ihre Erfahrungen mit Outsourcinglösungen und wann Kooperationen mit Dienstleistern gelingen. Die digitalen Ansprüche steigen. Eine Kooperation mit Dienstleistern ist notwendig, schon aufgrund der begrenzten Ressourcen. Die Firmenpräsentationen in separaten Sessions erfreuten sich daher größeren Zulaufs, als von den Veranstaltern erwartet. Dies ist ein deutliches Zeichen für ein verstärktes Interesse an externen Lösungen.

Abbildung 2 Blick Vortragsraum mit Platz für 200 Tagungsgäste (Foto: E. Jakisch).
Abbildung 2

Blick Vortragsraum mit Platz für 200 Tagungsgäste (Foto: E. Jakisch).

Kommunikation – dieses Stichwort fiel häufig. Viele Vorträge betonten, wie wichtig es ist, die Sprache der an den Schnittstellen Beteiligten zu verstehen. Die Digitalisierung geht einher mit der Erfahrung, dass man sich mit anderen Fachdisziplinen beispielsweise über Methoden des Dokumentenmanagements unterhalten kann und muss. Man kommt unwillkürlich raus aus dem eigenen begrenzten Gebiet und miteinander ins Gespräch. Die Zeit, in der man Services „über die digitale Mauer“ geworfen und nicht gesehen hat, wo sie beim Kunden landen, scheint offensichtlich vorbei.

Wir erleben eine spannende Übergangszeit – noch wissen wir genau, woher wir analog kamen, aber nicht, wohin wir digital steuern. Viele Grenzen werden sich verschieben. Einfach zugänglich, gut nutzbar und interdisziplinär sollte die Informationswelt von morgen für den Kunden sein. Die Aufgaben der Spezialbibliotheken werden sich nach und nach verändern. Die Tagung bewegte sich auf dem Terrain vorsichtig. Es gibt noch sehr viel Raum, Spezialbibliotheken im 21. Jahrhundert neu zu denken. Die Vorträge boten wenig Visionäres dafür solide Erfahrungsberichte und praktische Beispiele. Da sich auch die Grenzen zwischen den Berufsbildern und Institutionen immer weiter auflösen, ist die interdisziplinäre und internationale Kooperation der beste Weg, die Welt mit guten Informations-Lösungen zu versorgen. Es besteht Hoffnung, dass andere Disziplinen über die Zusammenarbeit mit Information Professionals deren Beitrag zur Entwicklung von digitalen Lösungen mehr und mehr wertschätzen.

Deskriptoren: Tagung, Bibliothek, Fachinformation, Interdisziplinär, Digital

Über den Autor / die Autorin

Elgin Helen Jakisch
Online erschienen: 2018-02-02
Erschienen im Druck: 2018-02-23

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 25.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/iwp-2018-0008/html
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