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„Ich dachte mir, das ist nicht der Weg, den ich gehen will!” – Gründe für Langzeitmobilität europäischer InformationswissenschaftlerInnen

  • Vera Hillebrand

    Vera Hillebrand ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Information Behavior am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin. Sie schrieb ihre Masterarbeit zum Thema internationale Mobilität in der Informationswissenschaft.

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Published/Copyright: November 28, 2017

Zusammenfassung

Zweck dieser Studie ist, herauszufinden, welche Push- und Pull-Faktoren es für degree und post-diploma mobility in der europäischen Informationswissenschaft gibt. Die Autorin führte 16 Interviews mit InformationswissenschaftlerInnen über ihr Mobilitätsverhalten. Die Untersuchung zeigt, dass es sich nicht nur um berufliche Gründe handelt, die ForscherInnen mobil werden lassen. Persönliche Gründe, wie Partnerschaft, oder finanzielle Gründe, wie eine bezahlte Promotionsstelle, fördern Langzeitmobilität. Kinder bzw. Familie konnten als einziger Grund für Immobilität in dieser Studie festgestellt werden. Die Ergebnisse stellen in Frage, ob ein brain drain einzig anhand von Statistiken analysiert werden kann. Diese Studie zählt zu den wenigen qualitativen Datenerhebungen über Langzeitmobilität.

Abstract

The aim of this study is to better understand the push and pull factors of degree und post-diploma mobility of European Information science scholars. The author conducted 16 interviews with Information science scholars about their long-term mobility. The investigation shows not only job-related reasons drive scholars into mobility. Personal reasons, such as partnership, of financial reasons, like a funded doctorate position, facilitate international movement. Children or family are the only personal reasons for immobility this study could reveal. The results question if a brain drain can be analyzed by using only statistics. This study is one of the few qualitative studies about long-term mobility.

Résumé

Le but de cette étude est de savoir quels facteurs favorisent ou, au contraire, freine la mobilité des diplômés et des post- diplômés en sciences de l'information en Europe. L'auteur a mené 16 entretiens avec des scientifiques de l'information sur leurs comportements face au sujet de la mobilité. L'étude montre que ce ne sont pas seulement des raisons professionnelles qui rendent les chercheurs mobiles. Des raisons personnelles, comme des relations ou financières, comme un doctorat payé, favorisent la mobilité à long terme. Les enfants et la famille ont été décelés comme seules raisons de l'immobilité dans cette étude. Les résultats mettent en question le fait qu’une fuite de cerveaux peut être analysée uniquement sur base de statistiques. Cette étude est l'une des rares enquêtes de données qualitatives sur la mobilité à long terme.

Einleitung

Der Bologna-Prozess zielt auf die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums, ähnlich dem anglo-sächsischen System. Durch einheitliche Qualitätsnormen sollte die Mobilität für Studierende erleichtert werden.[1] Ein weiteres Anliegen war die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit im innereuropäischen Arbeitsmarkt. Denn die Abwanderung europäischer Forschende ins Ausland ist keine neue Entwicklung. Sie wird seit den 1950ern mit dem Begriff brain drain bedacht (OECD, 2008) und gerade in der europäischen Politik mit Sorge verfolgt, auch wenn unklar ist, wie weit es sich hier um ein übergreifendes Phänomen handelt. [2]

Die folgende Studie geht in drei in sich geschlossenen Artikeln (Hillebrand, 2017) mehreren Fragen nach: Gibt es einen brain drain im Forschungsbereich Informationswissenschaft (1), warum ist Europa attraktiv bzw. unattraktiv für internationale Studierende und Forschende in diesem Fachbereich (2) und welche Eigenschaften charakterisieren nationale Forschungsumgebungen (3)?

Im ersten Beitrag für diese Zeitschrift wurden die Ergebnisse einer quantitativen Analyse vorgestellt. Diese legten einen europäischen brain drain in der Informationswissenschaft (Hillebrand, 2017, 263-271) nahe. In diesem zweiten Teil stehen die Fragen nach den Gründen für Langzeitmobilität bei InformationswissenschaftlerInnen im Mittelpunkt. Auch wenn Mobilitätsfaktoren anhand von Fragebögen untersucht wurden (Veugelers und van Bouwel, 2015; Balaz, Williams und Kollar, 2004), gibt es kaum reine Interview-Studien zu degree oder post-diploma mobility (Carlson, 2013). Meist werden Zahlen mit qualitativen Daten ergänzt (Ackers, 2005; Morano-Foadi, 2005), weil die Quantität der Antworten aus Fragebögen für Generalisierungen aussagekräftiger ist als einzelne tiefere Interviews. Mobilität ist aber ein höchst subjektives Phänomen, das vor allem durch die Lebensgeschichte des Individuums geformt wird. Daher wählte die Autorin Interviews als tiefere Analysemöglichkeit und sprach mit 16 InformationswissenschaftlerInnen, um die Push- und Pull-Faktoren für degree und post-diploma mobility in der europäischen Informationswissenschaft zu ermitteln.

Methodik

Für die qualitative Studie führte die Autorin Interviews mit AutorInnen und GutachterInnen aus dem quantitativen Datenset durch. Es gab 16 positive Rückmeldungen, davon 13 Promovierte und drei Promovierende. Aufgrund der geringen Rückmeldezahl von Promovierenden sprach die Autorin auch mit zwei Forscherinnen, die nicht aus den quantitativen Daten rekrutiert wurden. Zwei TeilnehmerInnen haben ihr Heimatland nie für längere Zeit verlassen (stayers), um zu studieren oder zu arbeiten, drei sind nach einer längeren Zeit im Ausland wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt (returnees). Alle anderen leben im Moment in einem Land, dass nicht ihr Heimatland ist (leavers, siehe Tab.1). Fünf Forschende sind aus dem Ausland nach Europa eingewandert. Abbildung 1 zeigt die Mobilitäts-Muster aller InterviewpartnerInnen.

Abbildung 1 
Mobilitäts-Muster der InterviewpartnerInnen.
Abbildung 1

Mobilitäts-Muster der InterviewpartnerInnen.

In den Interviews erfragte die Autorin von allen Teilnehmenden die Gründe für ihre degree oder post-diploma mobility. Da alle InterviewpartnerInnen unterschiedlich alt sind und in verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens mobil geworden sind, beruht die Datenerhebung zu großen Teilen auf autobiographischen Erinnerungen. Es war der Autorin nicht möglich, den Wahrheitsgehalt oder die Genauigkeit dieser Erinnerungen zu kontrollieren.

Tabelle 1:

Einteilung der Teilnehmenden nach Geschlecht, Mobilitätskategorie, Bildungsgrad, Muttersprache und Forschungshintergrund.

Teilnehmer Geschlecht Kategorie promoviert Englisch Muttersprache Abschluss im LIS Bereich
P1 männlich returnee ja
P2 männlich leaver ja
P3 weiblich leaver ja x x
P4 männlich leaver ja x
P5 männlich leaver ja
P6 weiblich leaver ja x
P7 männlich stayer ja x
P8 männlich leaver nein x x
P9 weiblich leaver nein x
P10 weiblich leaver ja x
P11 weiblich leaver ja x x
P12 weiblich leaver nein x
P13 männlich returnee ja
P14 weiblich leaver ja x
P15 weiblich stayer ja x
P16 männlich returnee ja x

Die Interviews wurden online über Skype oder Adobe Connect durchgeführt, aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die Autorin hatte im Vorfeld bereits Code-Kategorien entwickelt, die sich an Laura Rumbleys Studie über Anreize und Barrieren von Mobilität anlehnen. Sie definierte drei große Bereiche von Anreizen und Barrieren: finanzielle, curriculum und persönliche Gründe (Rumbley, 2011, S. 200).

Diese passte die Autorin im Coding an und erweiterte sie um das Thema Sprache. Bei Rumbley gehört diese zu den curriculum Gründen. Doch bei den Interviews stellte sich der Faktor Sprache als sehr bedeutsam heraus, so dass die Autorin sich für einen eigenständigen Code entschied. In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Codings inhaltlich besprochen und ausgewertet.

Finanzielle Gründe als Push- und Pull-Faktor

Finanzielle und curriculum Gründe gehen Hand in Hand, wenn es um Einkommen und Arbeitsplatz geht. P2 bewarb sich für eine Arbeitsstelle im Ausland, weil er mit seinem fachlichen Hintergrund kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz sah. Für ihn war es wichtiger, überhaupt ein Einkommen mit seiner Ausbildung zu erhalten, als in seiner Heimat zu bleiben. Diese Entscheidung führte ihn nach seiner Promotion nach Dänemark, wo er heute noch lebt. Ein Promovierender entschied sich dagegen bewusst zwischen Einkommen und Promotion:

„Ich mag es verschiedene Dinge auszuprobieren und das war eine Gelegenheit eine Promotion zu bekommen, die voll finanziert war. Das war der zweite Grund. Ich meine, ich hatte ein gutes Gehalt im Vereinigten Königreich und manche Menschen hielten es für verrückt, dass ich ging.“ (P8, promovierend, leaver)[3]

Eine Teilnehmerin kommentierte die Finanzierung ihrer Promotion im Vereinigten Königreich:

„Was wirklich hart war, war eine Finanzierung zu bekommen. Eine Promotionsstelle kommt nicht automatisch mit einer Finanzierung. Ich hatte das Glück, dass ich mich für ein Projekt beworben hatte, dass bereits finanziert war. Also musste ich nur die davon überzeugen, dass sie mich als Promotionsstudierende haben wollten. Ich musste mich nicht um eine Finanzierung bewerben.“ (P13, promoviert, returnee)

Im Falle einer Teilnehmerin, die von Europa in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderte bezahlte ihr amerikanischer Arbeitgeber das nötige Visum. Weil sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Green Card hatte, erlaubte ihr diese Finanzierung, im Ausland zu bleiben.

Einen finanziellen negativen Aspekt von Mobilität nannte P5: Umziehen sei „sehr teuer“.

Beruflicher Lebenslauf als Push- und Pull-Faktoren

Da Rumbley hauptsächlich über Anreize und Barrieren für Studierende schreibt, umfasst das Thema curriculum für sie die Vereinheitlichung von Hochschulräumen, um die Ausbildung im Ausland im Heimatland anerkennen zu lassen, sowie die Existenz solcher Zeitfenster und die Förderung von credit mobility im Studium (2011, S. 200). Allerdings waren die InterviewpartnerInnen bereits in einer Phase ihrer Ausbildung, in der diese Umstände keine größere Rolle mehr spielen. Daher konzentrierte sich die Autorin auf die Hintergründe für Mobilität, die den Lebenslauf und die Karriere betreffen. Vier Forschende zog es ins Ausland, weil sie von dort ein Angebot für eine Arbeitsstelle bekamen. Die Aussicht auf eine langfristige Anstellung und eine eigene Forschungsagenda reizten P5 am Ausland:

„Ich sah mich, wie ich mich irgendwo für eine dreijährige Position bewerbe...oder für eine vierjährige Position irgendwo anders. Das würde bedeuten, meine Familie von einem Ort zum anderen zu treiben und immer noch einen stressigen Job zu haben und nicht meiner eigenen Forschung nachgehen zu können. Denn du arbeitest dann immer mit einem Professor und seiner Forschung. Ich dachte mir, das ist nicht der Weg, den ich gehen will!“ (P5, promoviert, leaver)

Diese Wahrnehmung von Mobilität im beruflichen Lebenslauf eines Akademikers ist auch schon bei Wissenschaftlerinnen vorhanden, die noch promovieren:

„Ok, also eigentlich, wenn du promovierst, kannst du nicht wählerisch sein bei deinem ersten Job! Und dadurch ist planen umsonst...das ist eine ideale Vorstellung, aber die kann sich nicht ergeben, wenn du weißt was ich meine.“ (P8, promovierend, leaver)

Zwei WissenschaftlerInnen konnten ihren Fachbereich nur im Ausland studieren und kehrten beide nach ihrer Promotion in ihr Heimatland zurück.

Von einer negativen Auswirkung auf den beruflichen Lebenslauf durch Mobilität berichtete ein Teilnehmer:

„Personen in meinem Alter sind hier bereits in einer höheren Position. Obwohl sie mehr oder weniger dieselbe Erfahrung haben, aber sie waren eben schon immer hier.“ (P5, promoviert, leaver)

Eine weitere Schwierigkeit von Mobilität ist der Aufbau eines wissenschaftlichen Netzwerkes, das einem bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz hilft. Denn das braucht Zeit.

Persönliche Gründe als Push- und Pull-Faktoren

Von 16 Personen erwähnten nur drei keine persönlichen Gründe, die ihre Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, beeinflussten. Für alle anderen Interviewpartner spielen der Lebenspartner, Familie oder Kinder eine wesentliche Rolle im Mobilitätsverhalten. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Partnerschaft. Fünf Forschende verließen ihr Heimatland oder Aufenthaltsland für ihren Lebenspartner. Ein zweites Szenario sind Kinder. Beide stayer gaben Kinder als Grund an, wieso sie nie für längere Zeit ihre Heimat verlassen haben. Ein Forschender, der mit Familie mobil ist, äußerte sich dazu:

[...] und natürlich, wenn du Familie und Kinder hast [...] willst du an einem Ort arbeiten.“ (P5, promoviert, leaver)

P14 könnte wegen ihrer Kinder nicht in ihr Heimatland zurückkehren, weil sie die Landesprache nicht beherrschen. Ein weiterer Teilnehmer könne sich vorstellen, in sein Heimatland zurückzukehren, aber noch sei sein Kind zu jung. Diese Beziehung zwischen Familie und Mobilität nahm auch eine Teilnehmerin ohne Kinder wahr:

„[...] ich und mein Ehemann – wir haben keine Kinder – waren immer interessiert daran außerhalb der Vereinigten Staaten zu leben.“ (P11, promoviert, leaver)

Ein dritter Grund zurückzukehren sind die eigenen Eltern oder Verwandten. Vier Teilnehmende äußerten den Wunsch für ihre Familie in ihr Heimatland zurückzukehren. Zwei davon haben dies umgesetzt.

Sprache als Push- und Pull-Faktor

An vierter Stelle der Barrieren für Mobilität steht bei Teichler, Ferencz, Wächter: „foreign language skills deficiencies“ (2011, S. 8). Das eigene Heimatland zu verlassen bedeutet eine Entwurzelung, weil man sein persönliches, sprachliches und emotionales Territorium verlässt (Murphy-Lejeune, 2003, S. 65). Die Herausforderung, einen Abschluss in einer Fremdsprache zu machen, ist um ein vielfaches höher, als dabei in demselben sprachlichen Territorium zu bleiben:

„Gut, ich bin französischer Muttersprachler. Wir reden Französisch. Jetzt von Französisch zu Englisch zu wechseln ist nicht leicht. Ja, es ist eine Herausforderung.“ (P9, promovierend, leaver)

Im akademischen Arbeitsleben schränken Sprachbarrieren den Raum für Bewerbungen ein:

„Du kannst dir vorstellen, dass ich mich dort bewerben muss, wo man Englisch spricht [...]. Denn ich kann nicht nach Deutschland gehen oder nach Dänemark, weil ich dort in einer anderen Sprache unterrichten müsste.“ (P14, promoviert, leaver)

Europa hat keine gemeinsame Sprache − dadurch ist es sehr wahrscheinlich, dass man gezwungen ist, das eigene Sprachterritorium zu verlassen. Trotzdem mussten nur drei Teilnehmende eine neue Sprache lernen. Sie alle zogen nach Dänemark. Für die elf WissenschaftlerInnen, die nicht englische MuttersprachlerInnen sind, spiele Englisch eine wichtige Rolle in ihrer Ausbildung und am Arbeitsplatz. Alle Zurückgekehrten waren zuerst in einem englischsprachigen Land, bevor sie in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Zwei Promovierende leben zwar in einem Land ohne Englisch als Amtssprache, aber studieren auf Englisch. Sechs Forschende leben gerade in einem anglophonen Land.

Diskussion

Die Interviewteilnehmenden lassen sich in fünf Gruppen einteilen:

  1. Forschende, die in Europa geboren sind und es verlassen haben (P6; P8; P10)

  2. Forschende, die in Europa geboren sind und innerhalb Europas mobil sind (P2; P3; P4; P5; P13)

  3. Forschende, die nach einem Auslandaufenthalt in ihr Heimatland zurückgekehrt sind (P1; P16)

  4. Forschende, die ihr europäisches Heimatland nicht verlassen haben (P7; P15)

  5. Forschende, die nach Europa eingewandert sind (P9; P11; P12; P14)

Wertet man die Push- und Pull-Faktoren aus, lässt sich nicht sagen, dass bestimmte Kategorien von Gründen häufiger auftreten. Weder für diejenigen, die nach Europa gekommen sind, noch für diejenigen, die es verlassen haben. In der Gesamtheit liegen persönliche und curriculare Faktoren gleich auf.

Was durch diese Studie inhaltlich widerlegt wird, ist die Annahme aus der quantitativen Studie der Autorin (Hillebrand, 2017, 263-271), dass die Vereinigten Staaten von Amerika ein alternativloser Anziehungspunkt für die Informationswissenschaft sind, wenn es um die Ausbildung im Forschungsbereich geht. Die Ergebnisse zeigen, dass für Studierende eine finanzierte Promotionsstelle wichtiger ist als die geographische Lage. Bei den Promovierten sagte nur ein Wissenschaftler ausdrücklich, dass er in die Vereinigten Staaten von Amerika wollte, weil dort die Universitäten gut seien. Diese Aussage machten aber auch Teilnehmende über ihre Aufenthaltsländer in Europa. Die Gründe für die amerikanischen Forscherinnen, nach Europa zu kommen, waren bessere Arbeitsbedingungen. Längere Arbeitsverträge oder sichere Arbeitsplätze sind gerade für Forschende mit Familie ein Anreiz, Angebote aus dem Ausland wahrzunehmen. Persönliche Verbindungen in jeglicher Form können Forschende zum Bleiben, zum Gehen, aber auch zum Zurückkehren bewegen und das völlig unabhängig von den Reizen oder Barrieren, die die Politik in die Arbeitswelt einstreut. Dies könnte zur Vermutung führen, Mobilität sei ein viel zu subjektives Thema, um in irgendeiner Form kontrolliert werden zu können. Für die post-diploma mobility kann dies durchaus zutreffen. Aber bei der degree mobility sind es die benötigten Fähigkeiten des Fachbereiches und die Finanzierung, die Studierenden wichtig sind. So ist Englisch die lingua franca der Informationswissenschaft. Ein Blick auf Abbildung 1 zeigt, dass in der Phase vor der Promotion englischsprachige Länder eine größere Rolle spielen als danach. Eine Ausbildung in einem englischsprachigen Land hat Vorteile für die zukünftige Karriere in der Informationswissenschaft. Dies beweist auch der Trend, immer mehr englischsprachige Studiengänge in nicht anglophonen Ländern anzubieten, um Studierende und Angestellte aus dem Ausland anzuziehen.

Fazit

Dieser Beitrag versucht, eine Lücke zu schließen zwischen Statistiken zu Mobilitätsverhalten und den Forderungen zur Erforschung der Hintergründe davon. Dazu interviewte die Autorin 16 InformationswissenschaftlerInnen, die entweder in Europa geboren wurden oder nach Europa migriert sind. Die Ergebnisse dieser Studie dokumentieren, dass statistische Daten alleine nicht ausreichend sind, um Mobilität oder Migration zu analysieren. Auch wenn sich in den Ergebnissen der qualitativen Studie die englischsprachigen Länder vor allem vor der Promotion als wichtig erweisen: Durch die Frage nach dem Warum wird schnell klar, dass dies nicht nur mit beruflichen Gründen zusammenhängt. Es kann nur schwer von einem brain drain die Rede sein, wenn ForscherInnen in ein Land mit Englisch als Amtssprache auswandern, um eine Familie zu gründen und deshalb nicht wieder zurückkehren.

Die Attraktivität eines Landes hängt für WissenschaftlerInnen vor ihrer Promotion davon ab, was ihnen die Forschungsumgebung für ihre Ausbildung bieten kann. Solange Englisch die Sprache der Informationswissenschaft bleibt, werden englischsprachige Länder oder Länder mit Studiengängen in englischer Sprache immer eine größere Anziehungskraft auf internationale Studierende und Mitarbeiter ausüben. Nach der Promotion aber sind es nicht mehr diese Gründe, die ForscherInnen in einem Land halten. Stattdessen sind gute Arbeitsbedingungen und familiäre Sicherheit wichtig. Nach diesen Kriterien richteten sich die Entscheidungen, nicht nach der geographischen Lage.

Laut den Ergebnissen dieser Studie sollte Europa versuchen, durch finanzierte Promotionsstellen und gute Arbeitsbedingungen die Nachteile der Sprachbarriere und Größe konkurrierender Forschungsumgebungen auszugleichen. Jedoch sollten auch mehr qualitative Daten zum Thema Langzeitmobilität erhoben werden, denn die Teilnehmerzahl dieser Studie umfasst nur einen sehr kleinen Teil der europäischen InformationswissenschaftlerInnen.

Der brain drain vermittelt das Bild eines völligen Verlustes von ForscherInnen an das Ausland. Diese Darstellung ist zu einseitig. Wenn Studierende in ihrem Grundstudium bereits Kontakt zur nationalen Forschergemeinschaft aufbauen, dann stehen die Chancen gut, dass diese Verbindungen auch trotz degree oder post-diploma mobility bestehen bleiben. Brain circulation geht davon aus, dass die WissenschaftlerInnen physisch zurückkehren müssen, um ihren Beitrag zur nationalen Forschung beizutragen, aber durch die Technologien in der Kommunikation verschwinden die geographischen Begrenzungen der Zusammenarbeit. Die Forschung zum Wissenstransfer durch Diasporas zeigt, dass Abwanderung nicht gleich Verlust bedeuten muss (Siar, 2014; Wächter, 2006).


Anmerkung

Dieser Artikel basiert auf der Masterarbeit der Autorin: International Degree and Post-Diploma Mobility in Information Science/ von Vera Hillebrand. – Berlin : Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, 2017. Erschienen als Heft 421 der Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft


Über den Autor / die Autorin

Vera Hillebrand

Vera Hillebrand ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Information Behavior am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin. Sie schrieb ihre Masterarbeit zum Thema internationale Mobilität in der Informationswissenschaft.

Literatur

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Online erschienen: 2017-11-28
Erschienen im Druck: 2018-04-26

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 25.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/iwp-2017-0062/html
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