Der Raum lehrt. Hermann Hesses Bildungsroman im Licht der Qiao-Yiologie
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Guofeng Meng
Dr. Guofeng Meng lehrt deutsche Literaturgeschichte und chinesische Kultur an der Deutschen Fakultät der Tongji University in Shanghai. Forschungsschwerpunkte: Hermann Hesse, Interkulturelle Hermeneutik, Deutsche Literatur des Mittelalters.
Zusammenfassung
Im Rahmen der Qiao-Yiologie wird in diesem Beitrag anhand der Analyse verschiedener Räume in Hermann Hesses Bildungsromanen – namentlich des Flusses in Siddhartha, der Pestepidemie in Narziß und Goldmund sowie des Bambusgehölzes in Das Glasperlenspiel – aufgezeigt, dass der junge Protagonist die Akkumulation von Erkenntnissen sowie die geistige Erhebung (Yi) in einem bestimmten Raum auf seinem Entwicklungsweg (Qiao) erreicht. In Verbindung mit der zweidimensionalen Qiao-Yi-Konstruktion werden folgende Schlussfolgerungen gezogen: Die erzieherische Funktion des Raums ist nicht nur Ausdruck des I Ging und der taoistischen Konzepte von Yin und Yang, sondern auch eine Bekräftigung des menschlichen Geistes in der harmonischen Resonanz zwischen Menschen und Objekten. Obwohl diese Räume ihre pädagogische Funktion in unterschiedlichen Formen erfüllen, haben sie dieselben kulturellen und anthropologischen Implikationen.
Abstract
Under the framework of Qiao-Yiology, an analysis was conducted on the different spaces in the Bildungsroman of Hermann Hesse, namely the river in Siddhartha, the plague epidemic in Narcissus and Goldmund, and the bamboo grove in The Glass Bead Game. Results revealed that the young protagonist achieves the accumulation of knowledge as well as spiritual elevation (Yi) in a particular space on his path of development (Qiao). In conjunction with the two-dimension Qiao-yi construction, the following conclusions are drawn: The educational function of space is not only an expression of the I Ching and Taoist concepts of Yin and Yang, but also an affirmation of the human spirit in the harmonious resonance between people and objects. Although these spaces fulfill their educational function in different forms, they share the same cultural and anthropological implications.
1 Einleitung
Da Knechts Leben, soweit es uns bekannt ist, sich ganz in Kastalien abspielte, in jenem stillsten und heitersten Bezirk unseres gebirgigen Landes, den man früher mit einem Ausdruck des Dichters Goethe oft auch »die pädagogische Provinz« genannt hat, wollen wir […] dies berühmte Kastalien und die Struktur seiner Schule skizzieren. (Hesse 2012a: 53)
In seinem Roman Das Glasperlenspiel (1943) entwirft Hermann Hesse einen fiktiven Ort namens Kastalien, der sowohl eine Bildungsutopie im räumlichen Sinne als auch mit dem Bildungsroman, einer traditionellen deutschen literarischen Erzählform, verbunden ist. Allgemein gilt Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795–1796) als der erste wirkliche Bildungsroman, während Hesses Das Glasperlenspiel Goethes poetisches Ideal des Bildungsromans sowie seiner ‚Bildungsprovinz‘ aufgreift und weiterentwickelt.
Als ein von der säkularen Welt unabhängiger Bildungsbezirk bietet Kastalien jedem Mitglied einen besonderen, sicheren und stabilen Raum, in dem sich die Bewohner, ausschließlich Männer, entwickeln können; zudem bildet der Ort eine physische Kulisse für die Entwicklung der Handlung des Bildungsromans. Überdies ist es ein Raum des kulturellen Gedächtnisses, der die geistige und kulturelle Essenz aus der menschlichen Geschichte durch das Spiel mit den Glasperlen bewahrt. Kastalien stellt, wie der klassische Bildungsroman (Wilhelm Meister) selbst, ein kulturelles Panorama der Zeit dar, indem es individuelle Erfahrungen einbezieht: die Entwicklung des Einzelnen führt zur Vervollkommnung der ganzen Menschheit. (vgl. Gu 2013: 133–134)
Aus der räumlichen Perspektive der ‚Bildungsprovinz‘ besteht der Bildungsroman aus zwei räumlichen Formen. Zum einen gibt es den statischen Ort des Wachstums, der wie der große Raum von Kastalien den Entwicklungsprozess des Protagonisten in sich einschließt oder der in verschiedene Orte unterteilt werden kann, die jeweils einer Entwicklungsstufe entsprechen. Zum anderen ist der dynamische Weg des Wachstums zu nennen, der oft linear mit einem ‚wandernden‘ Prozess verbunden ist, wobei die räumlichen Übergänge in gewisser Weise die Kenntnisse des Protagonisten über „die soziografischen Details“ sowie „die Zustände und das tägliche Leben der wirklichen Welt“ ergänzen (Selbmann 1994: 65). Insgesamt gehen die beiden Raumformen ineinander über, mit Veränderung und Entwicklung im Statischen wie auch mit statischer Beobachtung im Dynamischen.
Die Protagonisten der Bildungsromane ziehen auf ihren Wanderungen von einem Ort zum anderen und entwickeln sich dabei geistig weiter. Ausgehend von dieser Beobachtung des Reifungsprozesses entspricht die Erzählstruktur des Bildungsromans dem von Ye Jun entworfenen Grundgedanken der Qiao-Yiologie. Demgemäß führt die Verschiebung des physischen Raums (Qiao) zu einer qualitativen Veränderung des Geistes (Yi), was die Bildung und Erschaffung individueller Ideen als Folge der materiellen Verschiebung und der geistigen Wanderschaft einschließt (Ye 2011: 9). Auf Grundlage des traditionellen chinesischen Klassikers I Ging untersucht die Qiao-Yiologie die Variabilität und Stabilität von Menschen und Kultur in verschiedenen Kontexten, wobei sie sowohl über ein breites theoretisches Fundament als auch über praktische methodische Implikationen verfügt, die auf die Interpretation von Phänomenen in verschiedenen Disziplinen angewendet werden können.
In Ye Juns Monografien Bianchuang yu Jianchang: Die Konzeption der Qiao-Yiologie (2014) sowie Constructing Order and Taking Image: The Methodology of Qiao-Yiology (2021b) werden jeweils die grundlegenden Konzepte und angewandten Methoden der Qiao-Yiologie konstruiert und ausgearbeitet. Der Autor kommt zu folgendem Schluss: Qiao ist die geografische Migration, und Yi ist die geistig-weltanschauliche Variation. Die Qiao-Yiologie ist sowohl eine Theorie zur Beobachtung von materiellen und mentalen Phänomenen als auch eine Methode zur Untersuchung von Veränderungen bei Individuen, Gruppen, Wahrnehmungen und Ideen im Kontext von multikulturellem Wandel und Austausch. (vgl. Ye 2014: 31–32) Aus den beiden Büchern sowie aus der vorhandenen Forschungsliteratur lassen sich drei Kerngedanken zusammenfassen: 1. Die binär-dreidimensionale Struktur, d. h. innerhalb der relationsspezifischen Struktur des ‚Qian-Kun‘ (quasi Himmel und Erde) sind jeweils drei Dimensionen (z. B. Anfang, Vorgang, Ende) etabliert, die das fundamentale Konzept bilden. 2. Die grundlegende Methode besteht darin, die Veränderungen zu beobachten, um ein dynamisches Bild oder eine Bildreflexion zu erhalten. 3. Die räumliche Bewegung führt zu einer mentalen Veränderung im Subjekt, die im Rahmen der Qiao-Yi-Theorie kognitiv begründet ist: Einerseits erkennt das Subjekt im räumlichen Wandel die Veränderung seiner Psyche, andererseits kann der Beobachter dem Phänomen, dass sich das Subjekt und der Raum gleichzeitig verändern, einen gewissen Sinn abgewinnen.
Obwohl die Kriterien für die Gegenstandsbestimmung der Qiao-Yiologie noch nicht vollständig definiert sind und ihre prägnante Verbindung zur Literatur bisher kaum hergestellt wurde (vgl. Dong 2021: 561), kann die Analyse literarischer Fälle zur Vervollkommnung der Theorie beitragen. Nach Ye Juns Ordnung der verschiedenen Typen von Qiao-Yi-Phänomenen in der deutschen Literatur lässt sich die Qiao-Yi-Forschung in der Literaturwissenschaft nach drei Ebenen unterteilen: 1. Untersuchung der Qiao-Yi-Symbolik, die sich in dem Werk selbst widerspiegelt. 2. Ausweitung auf die Studien der Literaturgeschichte, d. h. auf die eigene geografische Qiao-Yi-Erfahrung einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers. 3. Aus einer kulturübergreifenden interaktiven Perspektive wird die Entstehung der Weltzivilisation vom ‚Kleinen‘ zum ‚Großen‘, vom Fiktionalen zur Welt im Ganzen untersucht (vgl. Ye 2016: 3–4). Ausgehend von den Kernkonzepten der Qiao-Yiologie wird in diesem Beitrag versucht, die Qiao-Yi-Phänomene im literarischen Text zu erklären, d. h. die räumlichen Transformationen im Werk Hesses und deren Einfluss auf die ‚Entwicklung‘ des Protagonisten darzulegen – auch wenn die Qiao-Yiologie nicht der einzige Rahmen und Anhaltspunkt für die Interpretation dieser ‚Entwicklung‘ ist. Gleichzeitig wird in dem vorliegenden Beitrag Wert auf die Vertiefung und Verwendung der geistigen Wanderschaft gelegt, eines Qiao-Yi-Begriffs, der den fiktionalen Regeln der literarischen Welt entspricht und dazu geeignet ist, Raum und Idee in einem simultanen Veränderungsprozess nebeneinander zu stellen.
In dem ‚binären dreidimensionalen‘ Aspekt der Qiao-Yiologie durchläuft der Protagonist drei Stufen der Reifung, nämlich Unwissenheit – Entwicklung – Reife. Jede Stufe des Wachstums ist von einem binären Widerspruch zwischen altem Wissen und neuen Erkenntnissen begleitet. Wenn dieser Widerspruch, insbesondere innerhalb der literarischen Erzählung, vertieft werden soll, ermöglicht die Wahl eines relativ statischen Raums (der Ort des Wachstums) eine Extrapolation von der äußeren Umgebung auf die innere Welt. Mithin gerät der Raum zu einem Mittel der Erziehung und zu einem Werkzeug der Erzählung. Darüber hinaus impliziert die Darstellung des Raums außertextliche sozio-historische Elemente: „Die individuellen Erfahrungen des Aufwachsens spiegeln zwar den Entwicklungsverlauf eines jungen Menschen wider, stehen aber gleichzeitig in enger Wechselwirkung mit dem familiären und sozialen Kontext, was die soziale Dimension des Qiao-Yi-Prozesses widerspiegelt.“ (Ye 2016: 3)
In Hesses Bildungsromanen sind die Entwicklungswege der Protagonisten stets von räumlichen Transformationen und geistigen Sublimierungen begleitet, die sich für eine weitere Analyse und Interpretation im Rahmen der Qiao-Yiologie anbieten. Zugleich sind Räume mit pädagogischer Bedeutung in Hesses Text selbst durch die Qiao-Yiologie sowie ihre Erklärungsfunktion von interkultureller Kommunikation gekennzeichnet. Die Verbindung zwischen Hesse und der chinesischen Kultur ist in zahlreichen Studien untersucht worden; diese Verbindung war notwendig für Hesses Eintritt in die Weltliteraturszene und die Verwirklichung der Hesseschen Romantik, während die Qiao-Yiologie selbst ihre Wurzeln im chinesischen Denken hat. Im Fall von Das Glasperlenspiel etwa hat dieses fiktive Spiel im Roman die symbolische Darstellung von I-Ging: „In der Tat scheint das Glasperlenspiel eine modifizierte Version des I-Ging-Systems zu sein.“ (Hsia 1974: 281) Beim Aufbau der Qiao-Yiologie legt I-Ging nicht nur die theoretischen Grundlagen, sondern verleiht ihr auch einen „spielerischen Geist der Freiheit“ (Ye 2014: 63). Das Glasperlenspiel ist in der Lage, das Beste aus Wissenschaft und Kunst zu vereinen, während die Qiao-Yiologie darauf abzielt, die Grenzen des Diskurses zwischen den Disziplinen zu überwinden bzw. alle Arten von Wissen und Ideen zu integrieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Hesses Bildungsromane eine gewisse Affinität zur Qiao-Yiologie aufweisen und durch die Betrachtung des Raums – eines Phänomens, das sowohl konkret als auch abstrakt-symbolisch ist – zur Anwendung der Qiao-Yiologie im literarischen Bereich beitragen können.
Auf Grundlage dieser Beobachtungen werden drei verschiedene ‚lehrende Räume‘ in Hesses Romanen – der Fluss in Siddhartha (1922), die Pestepidemie in Narziß und Goldmund (1930) sowie das Bambusgehölz in Das Glasperlenspiel – ausgewählt, um offenzulegen, wie der Raum im Prozess des Qiao-Yi seinen erzieherischen Wert verwirklicht oder wie die materielle Welt die geistige Welt der Figuren beeinflusst. Obwohl sich diese Räume in einem Zustand relativer Stagnation befinden, sind sie alle Schlüsselpunkte auf dem Weg der Entwicklung des Protagonisten. Sie sind von einer inneren Dynamik erfüllt und verleihen den Figuren geistigen Auftrieb. Die Poetisierung des Raums impliziert jedoch Symbole mehrerer Kulturen, sodass für Hesse der Raum selbst im Text ein wirksames Mittel zur interkulturellen Integration darstellt.
2 Fluss: Raum der Kompensation
Der Roman Siddhartha ist auf der Legende des Buddha Sakyamuni aufgebaut und erfährt eine Art des erzählerischen Qiao-Yi.[1] Der Autor schildert einen Prozess der spirituellen Befreiung durch die Wanderungen des gleichnamigen Protagonisten, der voller Erfahrungen in einem weltlichen Sinne ist und im Wesentlichen eine Erzählung über den modernen Menschen sowie dessen Lebenseinstellung präsentiert. Von der religiösen Sage bis zur modernen Fiktion haben sich Zeit und Ort der Erzählung verschoben; deren entsprechende Rezeption hat sich gleichfalls verändert. Andererseits bewahrt dieses Werk Spuren traditioneller religiöser Erzählungen: In den meisten Werken Hesses „spielt die Dimension des Religiösen eine besondere Rolle, die exemplarisch und bis ans Ende gültig im Siddhartha entwickelt wird“ (Solbach 2012: 170). Über die vordergründig buddhistische Erzählung hinaus weisen Siddharthas Wanderungen und dessen Erziehung, wie einige Studien betont haben, auch auf die christliche „triadische Struktur“ hin – „nämlich den paradiesischen Zustand, den Sündenfall und die Erlösung durch Christus“ (Murti 1990: 106).
Siddhartha wird jedoch vor allem durch seine eigene Kraft gerettet, d. h. durch seinen eigenen Wunsch, sein Schicksal zu begreifen. Seine Wanderschaft führt ihn durch zwei verschiedene Welten – die erste Hälfte dient seiner Erkundung der Spiritualität (bei den Samanas und beim Buddha); die zweite Hälfte hingegen dient seiner Erfahrung des weltlichen Lebens (bei Kamala und dem Kaufmann). Diese beiden Teile der Erfahrung sind, obwohl es sich im Allgemeinen um einen aufwärts gerichteten Wachstumsprozess handelt, einander nicht über- oder unterlegen, sondern befinden sich in einem Zustand der Opposition und Einheit. Der eigentliche Moment der geistigen Transzendenz für den Protagonisten ist dessen Leben als Fährmann auf dem Fluss:
Oft saßen [Siddhartha und der Fährmann] am Abend gemeinsam beim Ufer auf dem Baumstamm, schwiegen und hörten beide dem Wasser zu, welches für sie kein Wasser war, sondern die Stimme des Lebens, die Stimme des Seienden, des ewig Werdenden. (Hesse 2012b: 444)
Obwohl die Landschaft und die geografische Lage des Flusses nicht ‚realistisch‘ dargestellt werden, sondern die Objekte in die Darstellung der Innenwelt integriert sind, wird aus dem Kontext deutlich, dass der Fluss hier nicht nur die Trennlinie der Erzählung, sondern auch den Übergang vom Dschungel zur Stadt im geografischen Raum darstellt. Der Fluss ist weder eine Stätte von Buddhas Erziehung erfüllt von theoretischem Diskurs, noch eine Stadt voller lebendiger Praxis, sondern ein ‚Raum der Kompensation‘ zwischen beiden. Siddharthas erste Reise durch den Fluss ist ein Übergang von der spirituellen zur weltlichen Erfahrung; seine zweite Reise durch ihn ist seine ‚Rückkehr‘, nachdem er beide Lebensarten erfahren hat. Nur hier kann der Protagonist letztlich ein Gleichgewicht zwischen physischem Raum, Spiritualität und verschiedenen Erfahrungen erreichen.
Siddharthas Gleichgewicht oder Vollendung ist eine dialektische Beziehung zwischen dem Positiven und dem Negativen, die (auf der Ebene der literarischen Narration) in der räumlichen Beziehung des Flusses externalisiert wird. Auf der einen Seite des Flusses steht der negative Eskapismus (und gleichzeitig die positive theoretische Erforschung), auf der anderen das positive säkulare Leben (und gleichzeitig der negative geistige Untergang). Der Fluss trennt und zugleich verbindet zwei Lebensräume und Seinsweisen, ein ‚Gleichgewicht von Yin und Yang‘ im Sinne des chinesischen Taoismus und I Ging (Hesses Leben zeigt bereits seine Verbundenheit und Begeisterung für den Taoismus), beruhend auf „[dem] Prinzip des Wu wei, des Nicht-Handelns und Gewährenlassens“ (Solbach 2012: 195), das alles in den angemessensten Naturzustand versetzt.
Es ist bemerkenswert, dass Siddhartha die Lehren des Flusses durch Zuhören empfängt – ein Ansatz, der wiederum in einer dialektischen Beziehung zwischen Veränderung und Invarianz steht. Der fließende Fluss enthält das Element der Veränderung, aber er selbst verändert sich in seiner Art nicht; das Zuhören ist vordergründig eine passive Akzeptanz, aber in Wahrheit eine aktive Konformität – nämlich die taoistische Idee, dass das Wasser alles akzeptiert, aber in aller Stille alles verändert. Der Fluss veranschaulicht die taoistische und I-Ging-Philosophie der Existenz in Gestalt des Raumes, die mit der theoretischen generativen Basis der Qiao-Yiologie übereinstimmt: „Die Veränderung der Dinge ist der Prozess der Geburt. Wo es eine objektive Existenz des Universums gibt, ist der Wandel die Wahrheit aller Zeiten. Auch wenn die Erscheinungen statisch sind, sind sie im Inneren immer in Bewegung.“ (Ye 2011: 4)
In diesem Bildungsroman gründet die Meister-Schüler-Beziehung auf der Freundschaft zwischen Vasudeva, dem alten Fährmann, und dem Protagonisten. Doch aufgrund des Flusses als Bildungsraum wird der eigentliche Erzieher zum Fluss und Vasudeva wird zum Medium für die Interpretation der Fluss-Lehre. Indem er zuhört, stellt Siddhartha eine reflektierende Beziehung zwischen dem Fluss und der inneren wie auch der äußeren Welt her, wobei die Veränderungen in der inneren Welt im sprachlosen Fluss widerhallen: „Der Fluß floß sanft und leise, es war in der trockenen Jahreszeit, aber seine Stimme klang sonderbar: sie lachte!“ (Hesse 2012b: 458) Auf scheinbar anthropomorphe, tatsächlich aber ironische Weise lässt Hesse den Protagonisten erkennen, dass dessen innere Obsessionen das größte Hindernis auf dem Weg zur Befreiung sind.
Aus Sicht der der Qiao-Yiologie übernimmt der Fluss als Mikroraum letztlich die Funktion einer kosmischen Verkehrsader. Er hat die Funktion, das Materielle und das Psychologische wie auch das Positive und das Negative auszugleichen; er hat also alles aufzunehmen, um auf dieser Grundlage die Grenze zwischen Veränderung und Unveränderlichkeit aufzulösen. Gleichzeitig wird die verborgene erzieherische Bedeutung des Seins im lauschenden Fluss durch Siddharthas Lebensphilosophie – den hörbaren Dialog mit Vasudeva – sichtbar gemacht, was den pädagogischen Raum des Flusses etabliert.
3 Pestepidemie: Raum der Stagnation
Der Roman Narziß und Goldmund ist im historischen Kontext des mittelalterlichen Europa angesiedelt. Er enthält mittelalterliche religiöse und soziokulturelle Elemente, aber seine Helden, allen voran Goldmund, tragen die Merkmale eines modernen Geistes. Trotz der Tatsache, dass Narziß in seiner kirchlichen Laufbahn als Mönch aufsteigt, ist seine Persönlichkeit stabil und unveränderlich, so dass er in den ersten Jahren Goldmunds die Funktion des Betreuers nimmt. Diese Lehrer-Schüler-Beziehung endet mit Goldmunds Wunsch, die weltliche Welt zu durchstreifen: „Während Narziß das hierarchische Ordo-Denken der mittelalterlichen Ständegesellschaft vertritt, […] erlebt Goldmund die Welt, ihre Natur und Kultur, als ein fruchtbares und furchtbares Chaos.“ (Lubich 2005: 52)
Angesichts dieser Gegenüberstellung liegt der Fokus des Romans tatsächlich auf der Erzählung von Goldmunds Wandererfahrungen, während die verschiedenen Mentorenbeziehungen, die er während seiner prägenden Jahre eingeht, lediglich eine Notwendigkeit in einer bestimmten abenteuerlichen Phase sind, sowohl hinsichtlich der Erzähltechnik als auch des Handlungsverlaufs. Die wechselnde Natur der Betreuungen steht im Einklang mit dem qiao-yiologischen Mechanismus, dass sich die innere Welt als Reaktion auf die Umstände verändert. Neben der Erfahrung „im erotischen Sinnenrausch und im kreativen Schaffen“ (Lubich 2005: 52) ist auch die Wahrnehmung der Pestwelt durch den Protagonisten ein wichtiger Bestandteil seiner späteren Reife:
Dieser Hof, aus Hütte, Stall und Scheune bestehend und von einer grünen Hofstatt mit hohem Gras und vielen Obstbäumen umgeben, lag merkwürdig still und verschlafen: keine Menschenstimme, kein Tritt, kein Kindergeschrei, kein Sensendengeln, nichts war zu hören. (Hesse 2012c: 433)
Beim Besuch des Bauernhauses wird der Raum in der Plage durch eine Art Schreckensvision präsentiert. Szenen, die von menschlichem Leben erfüllt sein sollten, erhalten durch die Stille des Tageslichts eine Atmosphäre der Unheimlichkeit. Die Abwesenheit von Geräuschen steht für die Abwesenheit des Hörens mit den fünf Sinnen, vertieft aber zugleich die visuelle Wahrnehmung dieser apokalyptischen Szene. Goldmunds Eintritt in diesen Raum zeigt zum einen, dass er seine Angst vor Pest und Tod überwunden hat; zum anderen verweist die Darstellung des Bildes vom Pestraum sowohl auf das Fernweh des Protagonisten als auch auf die Verwandlung und Sublimierung seiner geistigen Welt.
Neben der Präsentation des Niemandslandes enthält das Werk auch Szenen, in denen der Protagonist dem Tod ins Auge sieht:
Goldmund folgte den Totenwagen in kleiner Entfernung, es ging ein paar Schritt weit, und da war kein Friedhof, sondern mitten in der leeren Heide war ein Loch gegraben, nur drei Spatenstiche tief, aber groß wie ein Saal. (Hesse 2012c: 438–439)
Dieser Spaziergang auf den Spuren der Toten ist ein ganz besonderer Abschnitt auf der Wanderroute des Protagonisten. Die Besonderheit des Zeitpunkts liegt darin, dass die Behandlung der Toten nicht mehr den traditionellen Bestattungsregeln folgt, sondern durch die reale Lage zur Zeit der Pest bedingt ist. Dadurch wird die ursprüngliche Ordnung der Lebenswelt gestört und der Sinn des Daseins gerät in „die Verheerungen der Pestepidemie“ (Solbach 2012: 287). Räumlich gesehen betritt Goldmund den Untergrund aus dem imaginären Blickwinkel der Toten – einen überfüllten und erstickenden Ort, der Zeit und Leben zum Stillstand bringen kann.
So wird die Welt der Pest durch „die detaillierte visuelle Beobachtung des Sterbens“ (Solbach 2012: 287) als stagnierender Raum dargestellt. Auf der Erzählebene des Bildungsromans ist die Überwindung von Widrigkeiten eine notwendige Etappe in der Entwicklung des Protagonisten. Die durch die Pest verursachten materiellen und spirituellen Prüfungen und Drangsale tragen dazu bei, dass jener seine Ziele erreichen kann. Gleichzeitig bietet der stagnierende Raum Goldmund einen Raum der Kontemplation, in dem dieser schweigend seine Umgebung beobachtet und in eine innere Resonanz mit der Welt gerät: Dieser Augenblick ist mehr als still. Somit kann die erzieherische Funktion des Raums trotz der Stagnation der Außenwelt potenziell in der geistigen Welt des Protagonisten zum Tragen kommen.
Goldmund erlebt wahrscheinlich das, was Martin Heidegger den Moment des Übergangs vom „Sein zum Tode“ (Heidegger 2006: 252) nennt. In der Qiao-Yiologie ist ein solcher Übergang vom Tod zum Leben das Ergebnis der Begegnung zwischen dem Menschen und seiner (quasi radikalisierten) Umwelt: „Die Begegnung ist ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt im Prozess der Variation, der Veränderung der Natur der Dinge durch unterschiedliche und heterogenere Kontexte.“ (Ye 2011: 4) Die Welt der Seuche ist ein heterogener Raum, der sich von der Ordnung des Alltags unterscheidet und in dem daher nicht alle Phänomene und Handlungen im Lichte des Selbstverständlichen gesehen werden können. Goldmunds Erfahrung mit der Pest bezieht sich nicht auf seine früheren Erfahrungen mit Liebe und Kunst während seiner Wanderungen, sondern befindet sich in einem Zustand der passiven Konfrontation mit der Katastrophe, in dem die Frage des Überlebens das Primäre ist, dem er sich stellen muss. So wie sich das Leben im Tod verbirgt, kann der Protagonist die Wahrheit des Lebens stattdessen in einem stagnierenden Raum erfahren. Seine Reifung ist das Ergebnis einer Art des Qiao-Yi.
4 Bambusgehölz: Raum der Symbolisierung
Das Glasperlenspiel ist Hesses Meisterwerk hinsichtlich der literarischen Gestaltung. Einerseits ist der Roman reich an kulturübergreifender Bildsprache, tiefgründigen politisch-historischen Metaphern, die „das parodische Element, die Fiktion und Persiflage einer mit gelehrten Konjekturen arbeitenden Biographie“ (Mann 2016[1947]: 276) einbeziehen. Andererseits ist das Werk, wie eingangs erwähnt, in idealisierten Bildungsräumen strukturiert; die verschiedenen Räume haben hier entsprechende erzählerische und pädagogische Funktionen in der Persönlichkeitsentwicklung des Protagonisten Knecht sowie auf dem Weg zu dessen Beförderung zum Magister Ludi.
Unter den vielfältigen räumlichen Formen im Glasperlenspiel ist das Bambusgehölz die geheimnisvollste und ausdrucksstärkste Form der taoistischen und der I Ging-Kultur: es ist der Wohnort des Älteren Bruders, einem selbstbewussten Einsiedler, der, wie andere Kastalier, „dem Wirrwarr des Lebens sowie den weltlichen Genüssen in asketischem Bestreben nach einer echten Geistigkeit willensstark den Rücken kehrt“ (Cast 1951: 212). Wenn Kastalien als einzigartige Bildungsprovinz von der Außenwelt isoliert liegt, so ist das Bambusgehölz, das sich darin verbirgt, ein abgelegener und rein spiritueller Raum. Dieser in aller Abgeschiedenheit vom Besitzer angelegte chinesische Garten, durch den er sich von der Denkweise und den geistigen Beschäftigungen der breiten Masse Kastiliens bewusst absetzt, wird aufgrund seiner Verbindung zum I Ging zur wichtigsten Station auf dem Bildungsweg des Protagonisten:
[Knecht] trat ein und sah mit Erstaunen ein chinesisches Gartenhaus inmitten eines wunderlichen Gartens stehen, ein Brunnen plätscherte aus hölzerner Röhre, das in einem Kieselbett abfließende Wasser füllte nahebei ein gemauertes Becken, in dessen Ritzen vielerlei Grün wucherte und in dessen stillklarem Wasser ein paar Goldkarpfen schwammen. (Hesse 2012a: 113)
Das ‚kleine Universum‘ im Bambusgehölz kann als ein System von Symbolen gesehen werden, weil es nicht nur eine Landschaft voller chinesischer Kultur bietet und sich damit von anderen Räumen unterscheidet, sondern weil es selbst ein Produkt des ‚Xiang-Denkens‘ ist, das sich gerade auf intuitive, grafische, sinnliche Bilder und Symbole bezieht. Im Gegensatz zum westlichen begrifflich-logischen Denken ist das traditionelle chinesische Xiang-Denken beweglich und wandelbar und ähnelt im Wesentlichen dem westlichen Mythosdenken: Es strebt nach dem „wahren Selbst“ und gelangt so zum „Tao“ (Ye 2021a: 88). Die Gartengestaltung, bei der die Häuser in die Landschaft eingefügt werden, ist ein Konzept, bei dem der Mensch in Harmonie mit der Natur lebt, auch wenn der Garten im Grunde ein Werk des Menschen ist. Die Einbeziehung von Wasser formt die Perzeption von Raum und suggeriert die Zeit der Bewegung, was die Essenz des Tao am besten zum Ausdruck bringt; es ist daher immer das am häufigsten verwendete Element in chinesischen Gärten. Der Kontrast zwischen der Bewegung der Goldkarpfen und dem ruhigen Wasser sowie den im Garten lokalisierten Gegenständen verweist nicht nur direkt auf die taoistische Denkweise von Yin und Yang, sondern im Sinne des Xiang-Denkens ebenso auf das taoistische Symbol, das sich im Taiji-Doppelfisch-Diagramm offenbart. Schließlich ist ein solcher kleiner Garten wegen des Reichtums seiner Symbole hermeneutisch bedeutsam: Das System des Tao läßt sich teilweise durch die Symbole des kleinen Gartens verstehen; und der Reichtum der Theorie des Tao oder des Xiang-Denkens selbst verleiht dem chinesischen Garten eine Vielzahl an Bedeutungen.
Die Ankunft Knechts in der Eremitage an der Peripherie, d. h. heraus aus dem rationalen konfuzianischen Umfeld in den romantischen, mystischen taoistischen Raum hinein, schafft im Rahmen der Qiao-Yiologie eine geographische Verschiebung und damit die Voraussetzungen für eine qualitative geistige Transformation. Die Qiao-Yi-Beziehung zwischen der Peripherie und dem Zentrum konstruiert Kommunikationen zwischen den Kulturen, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Formen angenommen hat (vgl. Ye 2021a: 90). Mittels einer metaphorischen Andeutung (nämlich in der Korrelation zwischen Literatur und Realität) stehen das Bambusgehölz und auch Kastalien in einer räumlichen Beziehung abseits des politischen Zentrums. Sie sind damit gleichsam ein Zufluchtsort für Intellektuelle, um während der Naziherrschaft zu überleben, sowie ein Ort der Freiheit für deren geistige Entwicklung: In diesem Sinne „konfiguriert Hesses Kastalien als humanistisch-geistiges Gegenbild zur Brutalität der Hitler-Barbarei“ (Solbach 2012: 238).
Aus einer räumlichen Bildungsperspektive ermöglicht die chinesische Gartenlandschaft dem Protagonisten, die Einzigartigkeit dieses Raumes und seines Erbauers wahrzunehmen; dies ist ein visueller Lehrprozess, der auch eine Wahrnehmungsvorbereitung für das spätere Studium des I Ging darstellt. Neben dem symbolischen System des Raumes liefert der Autor zudem eine detaillierte Beschreibung des Prozesses der Erlangung des Orakels durch die Verwendung der Schafgarbenstengel unter der Anleitung des I Ging. Nach einer Reihe von Kombinationen, Trennungen und Berechnungen dieser Stäbchen, woraus sich je nach Stellungskombinationen verschiedene Symbole bilden, kann die zukünftige Entwicklung der Dinge abgeleitet werden. Diese rätselhafte Herangehensweise verhilft Knecht nicht nur zu wichtigen Erkenntnissen beim Erlernen des Glasperlenspiels, sondern offenbart auch ein weiteres symbolisches System, das den ‚kosmischen Wandel‘ umfasst.
Hesses Lokalisierung und symbolische Behandlung chinesischer Kulturelemente in diesem Roman ist ebenfalls ein kulturelles Qiao-Yi. Obwohl die verschiedenen exotischen und mystischen Beschreibungen dem Leser den Eindruck vermitteln, dass es sich um einen Roman handelt, der auf dem chinesischen Klassiker I Ging fußt, handelt es sich doch im Wesentlichen um eine Integration und Verwendung von Symbolen. Durch die Verschmelzung verschiedener Kulturen und den Ausdruck unterschiedlicher räumlicher Symbole sind ein europäischer Pazifismus und eine Ablehnung des hegemonialen Zentrums der Welt in dem Werk präsent.
5 Erweiterung: Der Bildungsroman von Hermann Hesse in der binär-dimensionalen Qiao-Yi-Konstruktion
Um das Verständnis für die Wechselwirkung zwischen Hesses Bildungsromanen und der Qiao-Yiologie zu vertiefen, wird Ye Juns methodische Konstruktion der beiden Dimensionen von Qiao-Yi vorgestellt. In seiner Monografie Constructing Order and Taking Image: The Methodology of Qiao-Yiology unterscheidet und konstruiert Ye Jun die beiden Kernkonzepte Qiao (侨) und Yi (易) mit jeweils vier Bedeutungselementen. Erstens werden unter dem Qiao vier Arten von Elementen gebildet, die das räumliche Element betonen, nämlich ‚sich bewegen‘ (移), ‚nachahmen‘ (仿), ‚sich erhöhen‘ (高) und ‚Brücke bauen‘ (桥); zweitens werden unter dem chronologisch ausgerichteten Yi vier Arten von Elementen konstruiert, nämlich ‚sich verändern‘ (变), ‚sich stabilisieren‘(常), ‚vereinfachen‘ (简) und ‚kommunizieren‘ (交) (vgl. Ye 2021b: 45–48); schließlich werden diese jeweiligen vier Arten von Qiao- und Yi-Elementen horizontal und vertikal multipliziert, so dass sich 16 verwandte, aber auch unterschiedliche Bedeutungen ergeben, die weniger ein ‚Wortspiel‘ als vielmehr eine neue Weise darstellen, den alten Geist des I Ging in einem topologischen Sinne in der Gegenwart zu deuten.
Aus Platzgründen werden in diesem Beitrag nur jeweils vier Elemente aus Qiao und Yi vorgestellt, um die Analyse von Hesses Bildungsromanen zu erweitern. Jedes Element trifft in seiner Interpretation auf jedes Werk und erzeugt eine neue ‚dritte‘ Bedeutung, die wiederum das Qiao-Yi-Phänomen zwischen Theorie und literarischem Text impliziert. Nach Ye Jun „kann die binäre Beziehung als zentrales konzeptionelles Konstrukt niemals nur eine einfache statische Binärform von entweder Krieg, Wettbewerb oder Frieden sein, sondern eine dynamische Binärform, die sich in einem ständigen Zustand wechselnder Beziehungen befinden kann“. (Ye 2021b: 99)
Sich bewegen (移): Bei diesem Element der Qiao-Yiologie wird auf eine Veränderung des geografischen Raums verwiesen und eine Ortsveränderung im materiellen Sinne dargestellt. Als Grundvoraussetzung wird eine Umformung des menschlichen Geistes durch einen Wechsel der räumlichen Umgebung verstanden. Hesse knüpft an das Thema des Wanderns in Goethes Bildungsroman an, wobei das Wandern zu einer Reihe von räumlichen Überquerungen führt. Sowohl Siddharthas Reisen durch Wälder und Städte als auch Goldmunds Streifzüge durch die Welt jenseits des Klosters unterstreichen die Funktion dieses Elements.
Nachahmen (仿): Die Nachahmung ist nicht nur das Kopieren anderer, sondern sie umfasst auch das Lernen, die Weitergabe von Traditionen und die Schaffung von Grundlagen für Innovationen. Das Qiao-Yi-Subjekt (dies bezieht sich in der Regel auf Menschen, aber auch auf kulturelle Texte, Lebensstile usw.) lernt in einem neuen Raum von anderen und macht sich neue Kulturen zu eigen, um sich selbst auf eine höhere geistige Ebene heben zu können. Siddhartha lernt von Kamala die Kunst der Liebe und von Kamaswami, wie in der Stadt Geschäfte gemacht werden. So integriert er durch sein Verhalten heterogene kulturelle Räume. Siddhartha zeichnet sich zudem durch eine ‚losgelöste‘ Mentalität aus, durch die er nicht vollständig einem weltlichen Leben verpflichtet ist, was mit dem ‚Geist des Spiels‘ im Rahmen der Qiao-Yiologie in Zusammenhang steht.
Sich erhöhen (高): Der Qiao-Yi-Prozess ist auf eine Art individueller kognitiver und spiritueller Erhöhung ausgerichtet, was dem Ziel des Wachstums der Protagonisten im Bildungsroman entspricht, auch wenn keine der beiden Formen einen endgültigen ‚Aufstieg‘ garantiert. Mit dem Studium von I Ging im Bambusgehölz erlebt Knecht den entscheidenden Durchbruch seiner akademischen Laufbahn, einen Aufstieg, der in erster Linie eine individuelle Bedeutung hat. Für das kollektive Erhebungsgefühl hingegen „modifiziert [der Ältere Bruder] die Tradition, indem er Einfluss auf den vielversprechendsten Erben Kastaliens ausübt – und sein chinesischer Garten sollte durch Knecht zum Organisationsprinzip des Spiels werden“ (Fan 2011: 115).
Brücke bauen (桥): Der Terminus ‚Brücke‘ hat in diesem Zusammenhang eine verbindende und kommunikative Funktion im Sinne einer metaphorischen Bedeutung. Durch die geografische Verschiebung des Qiao-Yi-Subjekts wird zwei unterschiedlichen Kulturen oder sozialen Systemen die Möglichkeit zur Kommunikation gegeben. Für Goldmund tragen seine Wanderungen dazu bei, das ursprüngliche klösterlich-theologische System mit der instabilen säkularen Welt zu verbinden, welche eine gewisse Wirkung auf ihn ausüben: Er ist der Verbindungspunkt zwischen den beiden Kulturen. Insbesondere die spirituellen Disziplinen, die er im Kloster erlernt, ermöglichen es ihm, nicht in der Komplexität der weltlichen Welt zu versinken, sondern eine neue Ebene der Erkenntnis zu erreichen.
Sich verändern (变): I Ging wird mit Buch der Wandlungen übersetzt, wobei das Prinzip des Wandels vordergründig ist und eine zeitliche Differenz betont wird. In Hesses Bildungsromanen stehen die Veränderung der räumlichen Umgebung und das Wachstum der geistigen Erkenntnis einer Figur meist parallel zueinander. Siddhartha, der Sohn eines Brahmanen, wird zum erleuchteten Fährmann, nachdem er verschiedene Situationen durchlebt hat. Knecht, der sich vom Schüler zum Meister des Glasperlenspiels entwickelt hat, verlässt Kastalien und versucht, der Menschheit zu dienen. Die Entfaltung der Persönlichkeit der Figur wird zum beherrschenden Merkmal der Erzählung, was ein universelles Prinzip des Bildungsromans ist.
Sich stabilisieren (常): Wenn der Wandel das am leichtesten wahrnehmbare Qiao-Yi-Phänomen ist, dann ist das, was konstant ist, dessen verborgenes Gesetz. Hesses Figuren besitzen immer eine ‚kontemplative‘ Eigenschaft: Ob mit Askese oder Reichtum konfrontiert, Siddhartha sieht sie nur als Erfahrungen und nicht als Wahrheiten. Goldmund ist neugierig auf die Welt und beschäftigt sich bei jedem seiner Abenteuer mit einem großen Maß an innerer Einsicht. Aufgrund dieser zurückhaltenden Charaktereigenschaften scheint die Entwicklung der Figuren vorherbestimmt zu sein und der Ausgang der Erzählung keine Rolle mehr zu spielen.
Vereinfachen (简): In der Qiao-Yiologie geht es beim Prinzip der Einfachheit nicht darum, alles zu vereinfachen, sondern darum, die unter der Oberfläche liegenden Gesetze zu erfassen und diese nicht allzu ausführlich zu erläutern. Für das Glasperlenspiel sind „Wissenschaft, Schönheit und stille Kontemplation die drei Prinzipien des Spiels, was im Wesentlichen die drei Substrate des menschlichen Geistes bedeutet, und insbesondere wird die stille Kontemplation im Roman immer wieder betont“ (Zhan 2013: 203). Es ist die Fähigkeit dieser einfachen Form, den Inhalt in sich aufzunehmen, die es dem Glasperlenspiel ermöglicht, alle kulturellen Paradigmen zu bewahren.
Kommunizieren (交): Zwei oder mehr Qiao-Yi-Subjekte verbinden sich zu einer neuen Beziehung, wodurch die grundlegende Natur der Ereignisse verändert wird. In Hesses Werk treffen die beiden Figuren aufeinander, entweder in Freund- oder Mentorschaft, was das Verständnis der Protagonisten für die Welt und die Wahrheit auslöst. Goldmund hätte sich ohne das von Narziss veranschaulichte rationale Denken nicht auf ein eigenständiges Abenteuer einlassen können. Aufgrund der Auseinandersetzungen mit seinem aus der weltlichen Welt stammenden Klassenkameraden Plinio Designori beginnt Knecht nach seiner Ernennung zum Magister Ludi die strukturelle Stagnation Kastaliens infrage zu stellen und geht schließlich in die reale Welt hinaus, um die Ideale einer verbesserten Gesellschaft zu praktizieren.
6 Fazit
Zusammengenommen haben die Räume in Hesses Bildungsromanen im Rahmen der Qiao-Yiologie einen Bildungswert, d. h. der junge Protagonist erreicht auf seinem Entwicklungsweg (Qiao) in einem bestimmten Raum bzw. in der Begegnung damit die Akkumulation von Kenntnissen sowie die geistige Erhebung (Yi); diese Räume sind wiederum der Ort des Übergangs in der Erzählung, an dem die relevante Reifung des Protagonisten stattfindet.
Der Fluss in Siddhartha dient sowohl als geografische Trennungslinie als auch als Ort des Gleichgewichts zwischen den beiden Arten des spirituellen Lebens. Der Held findet hier nicht nur den ultimativen Ort des Überlebens, sondern er erreicht auch das Erwachen durch die Anleitung der stillen ‚Erziehung‘ durch den Fluss. Dieses Erwachen ist nicht im buddhistischen Sinne erhaben, sondern entstammt den eher liberalen Werten des Taoismus mit seinem Yin- und Yang-Denken, das sich in der Bildsprache des Flusses offenbart. In Narziß und Goldmund werden bestimmte Szenen aus der Pestzone vom Protagonisten visuell und auditiv wahrgenommen, sie bieten ihm einen Raum der Kontemplation. Obwohl die Pestepidemie vorübergehend Stagnation und Tod in die Welt bringt, gibt es inmitten der extremen Verzweiflung auch Hoffnung auf neues Leben, was mit der Erscheinung des ‚Endes der Welt‘ in der Theorie von Yin und Yang zusammenhängt. Die räumliche Gestaltung des Bambusgehölzes in Das Glasperlenspiel hingegen steht in direktem Zusammenhang mit dem I Ging. Sie spiegelt das dialektische Verhältnis von Bewegung und Stille aus der Perspektive der Qiao-Yiologie am treffendsten wider. Der Protagonist Knecht entwickelt durch seine Beobachtung des chinesischen Gartens im Xiang-Denken ein bildhaftes und symbolisches Verständnis vom I Ging, das auch ein Ergebnis des Qiao-Yi (Rezeption, Transformation, Integration) der chinesischen Kultur in der deutschen Literatur ist.
Obwohl diese Räume ihre pädagogische Funktion in unterschiedlichen Formen erfüllen, haben sie dieselben kulturellen und anthropologischen Implikationen: Sie ermöglichen durch auditive oder visuelle Führungen in der inneren Welt der Figuren Veränderungen, die auf der inneren und äußeren Beleuchtung wie auch der harmonischen Resonanz von Menschen und Objekten beruhen. Sie streben im taoistischen Konzept von Yin und Yang nach einem Gleichgewicht der beiden Pole, die sich gegenseitig stützen, was Hesses Umgang mit der chinesischen Kultur in der Literatur darstellt. Der Qiao-Yi-Prozess, der sich im Raum abspielt, entzieht der Religion ihre Bedeutung, erzeugt einen Humanismus und bekräftigt den Wert der Bildung in der Welt oder in jeweiligen Umgebungen.
Article Note
Dieser Beitrag ist ein Zwischenergebnis des Forschungsprojekts „Die mittelhochdeutsche Literatur und ihre ethnisch-historischen Varianten“ (中古德语文学及其民族性流变研究, Projektnummer: 2021ZWY008) des ‚Shanghai Planning Office of Philosophy and Social Science‘.
Über den Autor / die Autorin
Dr. Guofeng Meng lehrt deutsche Literaturgeschichte und chinesische Kultur an der Deutschen Fakultät der Tongji University in Shanghai. Forschungsschwerpunkte: Hermann Hesse, Interkulturelle Hermeneutik, Deutsche Literatur des Mittelalters.
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