Qiao-Yi-Phänomen der chinesischen Legende Weiße Schlange in der deutschen Literatur
-
Yanan Duan
Yanan Duan ist Doktorandin an der Germanistischen Fakultät der Shanghai International Studies University. Publikationen u. a. „Literatur als Waffe“ – Zur Rezeption und Imagebildung Elfriede Jelineks in China (2022) und Zur Untersuchung der metaphorischen Darstellungen der Sexualität und der Liebe inFaust (2021). Forschungsschwerpunkte: Deutsch-Chinesische Literaturbeziehungen, deutsche Gegenwartsliteratur.and Fan Zhang
Prof. Dr. Fan Zhang lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Germanistischen Fakultät der Shanghai International Studies University und Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies. Publikationen u. a. Ausgewählte Meisterwerke der deutschsprachigen Frauenliteratur (2020) und Deutsche Literatur in China (2019). Forschungsschwerpunkte: Deutsch-Chinesische Literaturbeziehung, interkulturelle Gegenwartsliteratur.
Zusammenfassung
Die Legende Weiße Schlange zählt zu den vier berühmtesten Legenden des chinesischen Altertums, die im chinesischen Volksmund seit mehr als tausend Jahren tradiert sowie literarisch gestaltet wurden und daher bis heute lebendig sind. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über ihre Verbreitung und Variation in Deutschland in den letzten zwei Jahrhunderten. Dabei wird das Qiao-Yi-Phänomen besonders in den beiden deutschen Versionen, Die Schlange von Herman Grimm und Im Zauber der weißen Schlange von Helmut Matt, im Vergleich mit der chinesischen Originallegende analysiert. Darüber hinaus wird einerseits die dualistische Interaktion der Legende Weiße Schlange zwischen China und Deutschland in der Literatur aus der Perspektive der Qiao-Yiologie aufgezeigt und andererseits werden die dahinterstehenden sozio-historischen Gründe für das Qiao-Yi-Phänomen und die Motive der Autoren näher erforscht.
Abstract
One of the four most famous legends of ancient China, the legend of the White Snake has been passed down in Chinese folklore for over a thousand years and has also been portrayed in literature, and as such is still alive today. This paper gives an overview of its spread and variation in Germany over the last two centuries. Specifically, the Qiao-Yi-phenomenon is analysed in the two German versions, The Snake by Herman Grimm and The Magic of the White Snake by Helmut Matt, in comparison with the original Chinese legend. Further, the dualistic interaction of the White Snake between China and Germany in literature is presented from the perspective of Qiao-Yiology. Finally, the underlying socio-historical reasons for the Qiao-Yi-phenomenon as well as the detailed motives of the authors are discussed.
1 Einleitung
Laut Ye Jun, dem Begründer der Qiao-Yiologie, sei das Qiao-Yi-Phänomen ein Prozess, geistige Veränderung (Yi) durch geografische Bewegung (Qiao) hervorzurufen. Der Schwerpunkt des Prozesses liegt in den zwei folgenden Aspekten: geografische Änderung und geistige Veränderung. Von außen betrachtet bedeutet es, dass sich das Qiao-Yi-Subjekt in der Distanz verändert. Diese Distanzänderung bezieht sich im Allgemeinen auf die Veränderung zwischen heterogenen kulturellen Körpern, insbesondere auf die Distanzänderung zwischen Ländern. Von innen betrachtet kann es so verstanden werden, dass sich die geistige Welt des Qiao-Yi-Subjekts in großem Maße verändert (vgl. Ye 2014a: 20–21). Nach der Auffassung von Ye sollte das Qiao-Yi-Subjekt nicht auf das menschliche Wesen beschränkt werden. Abstrakte Dinge, die vom Menschen geschaffen wurden, könnten auch als Qiao-Yi-Subjekt angesehen werden (vgl. Ye 2014b: 262; Ye 2016: 48–49). In diesem Sinn kann die Volksliteratur als Qiao-Yi-Subjekt definiert werden (vgl. Ye 2016: 49). Folglich können die Spuren der Veränderung einer ursprünglichen Idee in der Volksliteratur unter dem Einfluss von Geschichte, Geografie und anderen Faktoren beobachtet werden.
Die Legende Weiße Schlange ist eine orientalische Liebesgeschichte, die aus dem chinesischen Volksglauben entsprungen und seit Jahrtausenden überliefert wurde, wobei sie sich auch mit anderen Strömungen mischte und allmählich in das kollektive Gedächtnis eindrang. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Legende von der Erzählung eines menschenfressenden Dämons[1] zu einer Liebesode, die nach und nach die Grenzen von Zeit und Raum überschritt, indem sie die Barrieren der Sprache, des kulturell bedingten Denkens und der kulturellen Ästhetik überwand sowie weltweite Anerkennung und Wertschätzung erlangte. Auf diese Weise zeigte sich einerseits die Dynamik und andererseits die vielfältige Adaptierbarkeit der Volksliteratur. Sie existierte nicht isoliert, sondern ist ein Abbild der Realität, die von kulturellen Hintergründen und historischen Ursprüngen geprägt und mit bestimmten ideologischen Konnotationen versehen ist. Ihre Bearbeitungen und Interpretationen in den letzten fast zwei Jahrhunderten in Deutschland brachten „eine Kombination aus dem Phänomen der Substanzveränderungen und auch dem Phänomen der Geistveränderungen“ zum Ausdruck, was typisch für das Qiao-Yi-Phänomen ist (Ye 2014a: 90–91). In diesem Zusammenhang wird im folgenden Beitrag der Versuch unternommen, das Qiao-Yi-Phänomen der Legende Weiße Schlange in der chinesischen und deutschen Kultur in Erfahrung zu bringen, zu analysieren und vorhandene Unterschiede herauszuarbeiten. Auf dieser Grundlage soll sich eine Möglichkeit zeigen, die Verbreitung und Rezeption dieser chinesischen Legende in der Weltliteratur aus der Perspektive der Qiao-Yiologie zu verstehen.
2 Die frühe Verbreitung der Legende Weiße Schlange
Die Weiße Schlange wurde zunächst mündlich überliefert. Dabei entwickelten sich verschiedene regionale Ausprägungen. Die Handlung ging im Kern auf den legendären Text Die drei Pagoden des Westsees aus der südlichen Song-Dynastie (1127–1279) zurück: Während des Totengedenkfestes macht der Held Xi Xuanzan einen Ausflug, auf dem er von einem weißen Schlangendämon verführt wird, wobei ihm beinahe sein Herz und seine Leber entrissen werden. Glücklicherweise entkommt der Held mithilfe eines anderen Dämons. Schließlich bezwingt ein daoistischer Priester den Schlangendämon mit magischen Kräften und baut eine heilige Pagode, um ihn in die Tiefen des Westsees zu verbannen (vgl. Hong 2018: 17–25). Seitdem war die Legende Weiße Schlange zwar innerhalb des chinesischen Volkes überliefert, aber nur selten in einer kohärenten und vollständigen Form dargestellt. Erst mit der Veröffentlichung der populären Volkserzählung Die weiße Schlangenfrau wird auf ewig unter die Leifeng-Pagode gebannt, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Feng Menglong in die Sammlung Jing-Shi-Tong-Yan (Verständliche Worte zur Ermahnung der Welt) (Feng 2010[1624]: 248–265) aufgenommen wurde, änderte sich das Wesen der Legende grundlegend. Es entstanden typische Figuren wie der Apothekerlehrling Xu Xuan[2], die Schlangenfrau (Frau Bai[3]) und der buddhistische Mönch Fahai. Feng fügte der Geschichte das Element der romantischen Liebe hinzu, indem er der Schlangenfrau einen persönlichen Charakter verlieh und das Hauptmotiv der Legende von der Verführung hin zum Liebestod variierte. Später entwickelte sich die Geschichte der Liebesbeziehung zwischen der Schlangenfrau und dem Mann allmählich zu einem glücklichen Ende. Dadurch wurde auch das Bild der Schlangenfrau immer weiter verschönert. Nach Fang Chengpeis Stück Die Legende von der Leifeng-Pagode und Chen Yuqians Tan-ci[4] Die Legende des rechtschaffenen Dämons in der Qing-Dynastie (1636–1912) galt die Schlangenfrau schließlich als das Ideal einer guten Ehefrau und Mutter. Mit der Zeit wurde die Weiße Schlange immer wieder überarbeitet und inhaltlich neu ausgerichtet. Aufgrund der verschiedenen literarischen Umformungen hat sich diese Legende von der Masse der chinesischen Volksliteratur deutlich abgehoben und ist somit zum häufig rezipierten Klassiker geworden. Im Jahr 2006 wurde die Legende Weiße Schlange vom chinesischen Staatsrat in die erste nationale Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Alle Bearbeitungen dieser Legende werden unter dem Begriff Weiße Schlange zusammengefasst.
In Deutschland ging ihre Verbreitung auf das Jahr 1833 zurück. In diesem Jahr wurde das erste Kapitel dieser Legende unter dem Titel Der Apotheker und die Natter im Magazin für die Literatur des Auslands veröffentlicht (Anonym 1833: 593–594). Diese deutsche Fassung basierte auf der Übersetzung des französischen Sinologen Stanislas Julien, der die vollständige französische Übersetzung der Legende Weiße Schlange im Jahr 1834 schuf.[5] Diesbezüglich stellte Wilhelm Grube fest, dass dank Stanislas Juliens französischer Übersetzung die Weiße Schlange in Europa bekannter sei als das Feng-shen yen-i und Si-yu-ki, auf welche ebenfalls mehrere beliebte Zauberdramen zurückgehen (vgl. Grube 1902: 438–439). Im Jahr 1902 skizzierte Wilhelm Grube diese Legende in seiner Geschichte der chinesischen Literatur. Grube zufolge sei die Kenntnis und Interpretation der chinesischen Folklore ein wirksames Mittel, um China und die Chinesen zu verstehen. Jedoch wurde die Weiße Schlange erst fast ein halbes Jahrhundert später vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht, als Johanna Boshamer-Koob zusammen mit Kurt Boshamer im Jahr 1967 die Legende auf der Grundlage dieser französischen Übersetzung bearbeitete und unter dem Titel Die wundersame Geschichte der weißen Schlange veröffentlichte (Boshamer-Koob/Boshamer 1967).
Sowohl die französische Übersetzung von Julien als auch Die wundersame Geschichte der weißen Schlange von Johanna Boshamer-Koob und Kurt Boshamer beruhen auf dem Originaltext Die Legende der Leifeng-Pagode (1806) vom Herrn vom Jadeberg, die ein erzählerischer Text im Genre des Kapitelromans ist und aus fünf Bänden mit dreizehn Episoden besteht. Im Vergleich zu den frühen chinesischen Versionen besteht der Hauptunterschied darin, dass die Idee des Karmas und des Schicksals verstärkt wird und ein starker Sinn für das Religiöse vorherrscht (vgl. Fan 2003: 137). Außerdem ist es auffällig, dass die Schlangenfrau in dieser Version ihre dämonische Natur beibehält, aber dennoch über Menschlichkeit verfügt. Von ihrer Begegnung mit Xu Xian, ihrem Kampf mit dem Mönch Fahai bis hin zu ihrer Gefangennahme ist das Thema der Schicksalsbestimmung stets präsent.
Dies entspricht zweifellos der europäischen Fantasie und der Erwartung eines exotischen Bildes vom alten China. Stanislas Julien hält es für sehr nützlich, derartige Volksliteratur in ihrer Tradition genau zu untersuchen, um die Sitten und Charakterzüge der Völker, mit denen wir in Zukunft zusammenleben und umgehen müssen, gründlich zu verstehen (vgl. Julien 1860: 1). Deswegen ist seine Übersetzung weitestgehend wortgetreu. Aufgrund dieser Gegebenheit nimmt die deutsche Bearbeitung „Rücksicht auf stilistische Glätte und Schönheit“ (Boshamer-Koob/Boshamer 1967: 9) und konzentriert sich auch auf die Beschreibung der dahinterstehenden Sitten und Gebräuche sowie auf die Eigenarten von Land und Leuten. Es ist auch erwähnenswert, dass die beiden Übersetzer von Die wundersame Geschichte der weißen Schlange keine Literaturwissenschaftler oder Sinologen, sondern Ärzte waren. Aus diesem Phänomen geht auch hervor, dass die Legende sich nicht nur im kleinen Kreis von Fachgelehrten verbreitete, sondern auch allmählich in die Öffentlichkeit vordrang.
Im Jahr 1991 übersetzte der deutsche Sinologe Rainer Schwarz die Legende direkt aus dem Originaltext ins Deutsche. Er ist sehr innovativ, indem er den chinesischen Comic Weiße Schlange von Yan Meihua und Yan Zhiqiang (Yan/Yan 1981) in die Übersetzung einfügt. Der Meinung des Übersetzers nach ist es „ein lesenswertes Buch“ (Schwarz 1991: 161). Des Weiteren stellt Schwarz fest, dass „die Überlieferung von der Weißen Schlange eine der populärsten Sagen“ ist und die Aufmerksamkeit der westlichen Leser verdient (Schwarz 1991: 161). Ferner ist Schwarz der Ansicht, dass der Roman bei aller Fantastik einen Einblick in altchinesische Lebensformen und Verhaltensweisen vermittle und so zum poetischen Zeugnis der Menschheitsentwicklung werde (vgl. Schwarz 1991: 161).
3 Die tragische Schlangenbraut in Herman Grimms Ballade Die Schlange
1856 veröffentlichte Herman Grimm einen Novellenband. Unter seinen Novellen befindet sich eine Ballade mit dem Titel Die Schlange, die weitestgehend auf einer chinesischen Quelle basiert (vgl. Grube 1902: 446; Schuster 1982: 45). Da Herman Grimm jedoch die chinesische Sprache nicht beherrschte, bezog er sich mit aller Wahrscheinlichkeit auf die bereits veröffentlichte französische Übersetzung von Stanislas Julien (vgl. Wei 1996: 219).
Die Ballade handelt von der tragischen Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einem Mann und der Schlangenfrau. Bereits in dieser Grundkonstellation wird der märchenhaft-symbolische Tenor der Handlung impliziert, der sich in der Ballade entfaltet: Ein junger Mann reitet seiner Heimat entgegen und sieht währenddessen ein schönes Mädchen am Wegrand sitzen. Er fühlt sich zu diesem schönen Mädchen hingezogen und gesteht ihm seine Liebe. Das Mädchen lehnt höflich ab und spricht mahnend auf ihn ein, dass es eine Schlange sei. Dabei warnt die Schlangenfrau den Mann, sich nicht von ihrer Schönheit bezaubern zu lassen. Aber der Mann gibt nicht auf. Unter seinem Zwang und seinen Versprechungen folgte die Schlangenfrau dem jungen Mann zurück in seine Heimat, und sie heirateten. Dort sind es Jahre des Glücks und der Liebe für das Paar. Erst als ein Fremder auftaucht, wird das glückliche und friedliche Leben der beiden Ehepartner erschüttert.
Eines Tages kommt ein Fremder ins Haus und erklärt dem Ehemann, dass seine Frau eine Schlange sei und sie sein Blut aussaugen werde, wenn sie sieben Jahre lang zusammenleben. Daraufhin wird der Mann wütend und verlangt von dem Fremden Beweise, die die Richtigkeit seiner schwerwiegenden Behauptungen belegen. Der Fremde rät dem Mann, seiner Frau am Abend mehr Salz ins Essen zu geben, alles Trinkwasser aus dem Haus zu entfernen sowie Türen und Fenster geschlossen zu halten. Der junge Mann tut, was ihm gesagt wurde, und muss mitansehen, wie sich seine Frau langsam in eine Schlange verwandelt, die sich schließlich zum Bad schlängelt, um dort zu trinken. Vor Angst eilt der junge Mann zum Fremden und bittet ihn um Hilfe. Dieser rät ihm, seine Frau in den Ofen zu schieben, während sie das Brot backt und sich währenddessen von ihrem liebevollen Flehen nicht erweichen oder täuschen zu lassen. Ohne zu zögern, befolgt der junge Mann den Rat. Die Frau ruft erstaunt aus, dass ihr Mann lieber einem Fremden vertraut, den er nur wenige Stunden kennt, als seiner Frau, mit der er schon mehrere Jahre lang zusammenlebt. Schließlich wütet die Frau gegen den Verrat ihres Mannes und bekennt:
„Ja, eine Schlange bin ich!
Doch ich sagt es! Eine Yukha bin ich!
Doch du wußtest’s! Hab ich dich belogen?
Wolltest du mich dennoch nicht zum Weibe?
Zwangst mein Schicksal, da ich widerstrebte,
Hättst du nicht die Treue mir gebrochen,
Still an deiner Seite lebend wär ich
Da zu dem geworden, das du liebtest;“ (Grimm 1856: 273)
Auch von solchen Worten lässt sich der Ehemann nicht erweichen und beharrt auf seiner Meinung, seine Frau führe Böses im Schilde. Erst als die Frau zu Asche verbrannt ist, erinnert sich der Mann an die schönen Momente mit seiner Frau in der Vergangenheit. Doch zu diesem Zeitpunkt ist die Asche seiner Frau bereits von dem Fremden in den Wind verstreut worden, womit sich jede Spur der Frau verliert.
Als deutscher realistischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts war Herman Grimms realistischer Ansatz auch in seiner Behandlung chinesischer literarischer Themen erkennbar. Diese Ballade enthält nur den zentralen Handlungsstrang, die Liebesbeziehung zwischen der Schlangenfrau und dem Mann, der im Originaltext eigentlich erzählerische Funktion hat (vgl. Zhao/Ye 2018: 61). Die drei Hauptfiguren der Ballade sind der chinesischen Legende Weiße Schlange entnommen. Allerdings erfährt die Charakterisierung der Hauptfiguren im Vergleich zur chinesischen Legende eine erhebliche Transformation.
Das Aussehen der Schlangenfrau wird nicht im Detail geschildert, aber aus den Reaktionen des Mannes und seiner Verwandten lässt sich erahnen, dass die Schlangenfrau eine schöne, attraktive Frau ist. Grimms Schlangenfrau gesteht ihrem Mann ehrlich ihr Schlangenwesen, bevor sie seinem Heiratsantrag zustimmt, während Frau Bai in der chinesischen Legende ihre wahre Herkunft geheim hält und ihrem Mann ihr Schlangenwesen nur als einzigen Ausweg verrät. Nach der Heirat kümmert sich die Schlangenfrau um den Haushalt und ist ihrem Mann treu ergeben. Sie scheint ihre dämonische Natur abgelegt zu haben und besitzt gute Eigenschaften einer traditionellen Frau wie Tugendhaftigkeit, Rücksichtnahme und Loyalität. Doch ihr Ehemann, der von ihrer Schönheit besessen ist, hört in dieser Ballade nicht auf ihre ehrlichen Geständnisse. Als der Fremde dem jungen Mann das Schlangenwesen der Frau offenbart, erinnert er sich nicht einmal, dass sie ihm dies bei ihrer ersten Begegnung bereits gestanden hat. Er konfrontiert sie auch nicht mit der Anklage, sondern er hört nur auf den Fremden und verbrennt auf sein Geheiß hin seine Frau im Ofen. In der chinesischen Legende erfährt der Ehemann Xu Xian erst nach der Heirat vom Schlangenwesen seiner Frau und ist sogar zu Tode erschrocken, als er sie in Schlangengestalt sieht. Frau Bai gesteht Xu Xian ihre Herkunft, nachdem er wieder ins Leben zurückgekommen ist. Die Ehepartner versöhnen sich und bringen ein Kind zur Welt. Im Gegensatz zur Enthüllung des Mönchs Fahai setzt sich Xu Xian für seine Frau ein. Selbst wenn sie eine dämonische Seite hat, ist es für ihn entscheidend, dass sie ihm noch kein Leid angetan und sich vielmehr in jeder Beziehung tugendhaft und ehrbar gezeigt hat (vgl. Grube 1902: 442).
In der chinesischen Legende verwandelt Frau Bai ihren Körper nach dem Trinken beim Drachenbootfest in die Gestalt einer Schlange. Sie weiß genau, welche Gefahren für sie durch das Trinken bestehen, denn dadurch kann sie ihre ursprüngliche Gestalt verlieren. Dennoch leert sie ihren Becher, weil sie den schönen Wunsch ihres Mannes nicht ablehnen will. In Grimms Ballade hingegen wird das chinesische Element des Brauchs beim Drachenbootfest getilgt. Um die wahre Natur seiner Frau zu testen, schüttet der junge Mann mehr Salz ins Essen, womit er ihr Verlangen nach Wasser anregt. Anstelle des Reisweins spielt in dieser Version folglich das Wasser eine zentrale Rolle für ihre Verwandlung zur Schlange. „In den griechischen Mythen wohnen die Schlange und Drachen fast ohne Ausnahme im Wasser“ (Egli 1982: 78). Selbst im „Volksglauben und im Märchen in Deutschland wird die Schlange gewöhnlich den Wassertieren zugeordnet und das Wasser ist das ihnen eigene Element“ (Schuster 1982: 51). Hier ist das Wasser eindeutig ein Symbol für die Quelle des Lebens. Daher ist das Ende, die Verbrennung der Schlangenfrau, schließlich auch ein Symbol für die Unvereinbarkeit von Wasser und Feuer. Darüber hinaus ist es auch wichtig zu beachten, dass die Verwandlung der Schlangenfrau in der Ballade nur dazu dient, sich selbst zu retten, nicht um anderen zu schaden. Wegen des Verrates des Mannes verwandelt sie sich erst in die Gestalt einer Schlange.
Außerdem unterscheiden sich die männlichen Protagonisten stark in ihren Gefühlen und Einstellungen gegenüber der Schlangenfrauen. Sowohl der junge Mann als auch Xu Xian fühlen sich zunächst zwar von der Schönheit der Schlangenfrauen angezogen, verlieben sich auf den ersten Blick in sie und haben später Angst vor ihrer anderen Seite. Während Xu Xian Frau Bai nach vielen Irrungen und Wirrungen treu bleibt, verrät Grimms Held seine Schlangenfrau und tötet sie mit seinen eigenen Händen. Andererseits bekämpft der buddhistische Mönch Fahai die weiße Schlange in der Originallegende auf den Befehl Buddhas hin, denn es ist seine Aufgabe, böse Dämonen zu bekämpfen. Er teilt den Eheleuten mit, dass Frau Bai aus der Pagode entlassen werde, wenn ihr Sohn an der Pagode ein Totenopfer darbringt. Im Unterschied dazu wird der Fremde in Grimms Ballade eindimensional dargestellt. Der Fremde ist ein gebildeter Mann, der wie Fahai über magische Waffen verfügt und Dämonen erkennen kann. Er führt nicht einmal ein direktes Gespräch mit der Schlangenfrau, spielt aber eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen der Schlangenfrau und ihrem Mann. Er sieht in der Schlangenfrau pauschal eine Katastrophe, die auf den Ehemann zukommen wird, und will dieses Problem so schnell wie möglich lösen. Einen anderen Weg der Befreiung des Ehemannes gibt es für ihn nicht. Wie bereits erwähnt, ist das zentrale chinesische Element in der Ballade das Motiv der Liebesbeziehung zwischen der Schlangenfrau und dem Mann. Allerdings hat diese Liebesgeschichte in diesem Fall ein konträres Ende.
Aus dieser Analyse geht hervor, dass die Handlung und die Figuren erhebliche Veränderungen erfahren, die durch geografische Änderung und die Veränderung der kulturellen Räume hervorgerufen werden. Das zeigt insbesondere den Prozess der „Bewegung und Überschneidung“ (Ye 2021: 51) dieser Legende im bikulturellen Kontext von China und Deutschland auf. Wie bereits erwähnt, liegt der Kern des Qiao-Yi-Phänomens in der geografischen Änderung und der geistigen Veränderung, während sich die „Bewegung und Überschneidung“ vor allem auf den Kontakt zwischen kulturellen Körpern und auf die Begegnung zwischen heterogenen Kulturen konzentriert (vgl. Ye 2021: 51). Ye Jun stellt eindeutig fest, dass jede Art von Bewegung die Aktivität eines Individuums zu sein scheint, aber im Wesentlichen verfügt sie immer über verhältnismäßig komplizierte symbolische Versinnbildlichung, und eine solche Bewegung kann auch eine Auswirkung auf die äußere Umgebung haben, d. h. auf den diasporischen Eingangs- und Ausgangskontext (vgl. Ye 2021: 51). Demgemäß kann die Neubearbeitung von Herman Grimm auch als ein Prozess angesehen werden, in dem sich dieses Qiao-Yi-Subjekt und der deutsche historische und kulturelle Kontext begegnen, vermischen und erneut entwickeln.
Beeinflusst von seinem Onkel Jacob Grimm, ist Herman Grimm besonders gegen aller Art unberechtigter Prärogative (vgl. Schlink 2001: 76). Mit „sprunghafter und assoziativer Denkensweise“ (Schlink 2001: 78) ist Grimm „in seinem Thema, in seinen gesellschaftskritischen Beobachtungen und in seiner behutsamen Charakterisierung von Nationalcharakteren ebenso modern wie sensibel.“ (Schlink 2001: 77) Dies spiegelt sich anschaulich in der Ballade wider. Im Westen ist die Schlange als tierischer Bräutigam oder als Braut ein weitverbreitetes Märchenmotiv (vgl. Schuster 1982: 50) und sie steht in der westlichen Kultur seit jeher für das Böse oder auch für die Sexualität. So nimmt die Schlange als Verführerin im biblischen Garten Eden eine exponierte Position ein. Im literarischen Konstruktionsprinzip dient normalerweise „die Schlange als Erkennungszeichen der bösen, sexuell aggressiven Frau, die nur durch den Tod eliminiert werden kann.“ (Schilling 1984: 145) Bei Grimm ist zu beobachten, dass die Schlangenfrau ihre unschöne äußere Form bereits zu Beginn der Ballade abgelegt hat und „auch im Wesen ‚menschlich‘ geworden ist, ehe sie dem Mann begegnet“ (Schuster 1982: 51). Im Gegensatz zur Schlangenfrau in der chinesischen Legende ist die Schlangenfrau bei Grimm in ihrer Liebesbeziehung immer passiv. Sowohl ihr Schicksal über Leben und Tod als auch ihre Entscheidung über Gut und Böse scheinen in den Händen ihres Mannes zu liegen. Der Verrat ihres Mannes hat die dämonische Natur der Schlangenfrau entfacht und sie verfluchte ihn im Sterben. Auf diese Weise wird die Schlangenfrau als passive, gütige, treue und sympathische Frau dargestellt, während der junge Mann, der sie betrügt, und der Fremde, der ihren Tod herbeiführt, als feige, dogmatisch und gleichgültig geschildert werden. Darüber hinaus verfolgt die Zielsetzung, Humanismus zu betonen, religiöse Politik zu verabscheuen und die Übel des Feudalsystems und der irrationalen Politik aufzudecken. Weiterhin spiegelt das tragische Ende den tiefgreifenden Einfluss des Gedankens der Enthaltsamkeit wider, der vom Christentum ausgeht und die Menschen prägt.
4 Die glückliche Schlangengöttin in Helmut Matts Roman Im Zauber der weißen Schlange
Im Jahr 2009 erschien der Roman Im Zauber der weißen Schlange – Magische Einblicke in ein geheimnisvolles Land von Helmut Matt in Deutschland. Bereits in den 1990er Jahren veröffentlichte Matt einen Artikel in der Zeitschrift Hefte für ostasiatische Literatur, in dem er die Übersetzung von Weiße Schlange durch Rainer Schwarz besprach (Matt 1993: 137–138). Er lobte Weiße Schlange als „große Geschichte von Ewigkeit und Zeit, von Liebe und Leidenschaft, von Sein und Vergehen“ (Matt 2009: 10). Ferner wies der Autor darauf hin, dass die Landschaften und Naturschönheiten Chinas immer in einem engen Zusammenhang mit kulturellen Werten stehen (vgl. Matt 2009: 7). Infolgedessen bilden Landschaft und Legende lediglich den Rahmen in seinem Roman.
Der Hauptteil des Romans gliedert sich in 16 Kapitel, von denen jedes eine Unterüberschrift hat, die die Haupthandlung zusammenfasst. Matt greift in seiner Bearbeitung wichtige Szenen wie unter anderem das Trinken des Reisweins beim Drachenbootfest, die Suche nach unsterblichen Kräutern zur Wiederbelebung von Xu Xian und die Geburt des Sohnes der Schlangenfrau auf, nimmt aber eine Reihe von Änderungen am Inhalt der Erzählung vor, indem er der gesamten Geschichte eine neue innere Logik verleiht und eine reichhaltige Landschaftserzählung integriert.
Die Handlung beginnt mit der Feindschaft zwischen der Schlangenfrau und Fahai[6]. Unter dem Westsee lebt eine weiße Schlange, die zwar göttlicher Natur ist, jedoch eine tiefe Sehnsucht nach allem Menschlichen im Herzen trägt. Nicht weit von ihr lebt eine alte Schildkröte namens Fahai. Nachdem Fahai das Gespräch der Schlangenfrau mit ihrer besten Freundin Xiao Qing, einer grünen Schlange, belauscht hat, empfindet er Hass und Abscheu. Sie schwärmen vom Leben der Sterblichen. Durch einen Kampf mit Fahai gelangt die weiße Schlange schließlich an ein magisches Jiaozi. Mithilfe von Magie lebt die weiße Schlange fortan in Gestalt einer schönen Frau. An einem regnerischen Tag trifft sie Xu Xian und verliebt sich auf den ersten Blick in ihn. Auch Xu Xian fühlt sich ihr stark zugeneigt. Bald darauf heiraten sie und die Ehegatten eröffnen eine Apotheke für chinesische traditionelle Medizin. Binnen kurzer Zeit erlangen ihre Medikamente und Heilmethoden große Bekanntheit im ganzen Land. Aber Fahai lebt weiterhin im Westsee und sinnt auf eine Möglichkeit, wie er sich an Frau Bai rächen kann. Als sich die Gelegenheit bietet, stiehlt er Mantel, Stab und Almosenschale des höchsten Buddhas. Mithilfe der Kräfte dieser buddhistischen Insignien kann er sich in einen Menschen verwandeln und auch die Kontrolle über das Goldene-Berg-Kloster übernehmen. Es freut ihn, mithilfe seiner bösen Magie Krankheit, Not und Unglück unter den Menschen zu verursachen. Demzufolge ist ihm Frau Bai, die ihrem Wesen nach gute Taten vollbringt und das Leiden der Menschen lindert, noch mehr verhasst. Am Abend des Drachenbootfests warnt er Xu Xian, dass seine Frau eine böse, giftige Schlange sei. Er erzählt ihm auch von einem Test, durch den er sie in ihrer ursprünglichen Gestalt erscheinen lassen kann. Xu Xian verspottet ihn allerdings und vertraut seiner Frau völlig. Schließlich spricht Fahai einen Zauber aus und dadurch überredet Xu Xian seine Frau, Reiswein zu trinken. Er erschrickt zu Tode, als er Frau Bai nach dem Trinken dann in Form einer Schlange sieht.
An einer späteren Stelle der Handlung bekommt Xu Xian sein Leben durch einen Tee, den seine Frau aus einem Gebirgskraut zubereitet und mit einem mächtigen Zauber belegt, zurück. Frau Bai erzählt ihm über ihre Herkunft, aber er wird mit einem Zauber von Fahai belegt. Dieser entführt Xu Xian in das Goldene-Berg-Kloster, wodurch die Ehepartner voneinander getrennt werden. Doch mithilfe eines gütigen alten Mönchs entkommt Xu Xian anlässlich des Mittherbstfestes und kann zu seiner Frau zurückkehren. Bald darauf kommt ihr Sohn zur Welt. Aber beim Laternenfest wendet Fahai erneut einen Trick an, um Frau Bai in der Almosenschale zu fangen und unter der Leifeng-Pagode einzusperren. Ihre Freundin, die auch anwesend ist, hat zu wenig Kraft, um die weiße Schlange zu retten. Sie geht zum Emei-Berg, um im dortigen Kloster alle bekannten Techniken des Kampfes zu erlernen. Fünf Jahre später kommt sie zur Leifeng-Pagode zurück und kämpft mit Fahai. Der Lärm des Kampfes stört allerdings den höchsten Buddha im Himmel. Erst jetzt bemerkt er, dass seine Heiligtümer von Fahai gestohlen worden sind. Dieser wird schließlich vom höchsten Buddha in einen kleinen Krebs verwandelt. Frau Bai wird befreit und lebt am Ende wieder mit Xu Xian und ihrem Sohn sowie ihrer Freundin am Westsee. Zum Schluss nimmt der Roman einen guten Ausgang.
Werden die beiden Geschichten miteinander verglichen, wird deutlich, dass Helmut Matts Adaptation eine „Nachahmung und Veränderung“ (Ye 2021: 52) aus der Perspektive der Qiao-Yiologie darstellt. Laut Ye kann „Nachahmung und Veränderung“ als „eine wechselnde Nachahmung interpretiert werden, im Sinne einer geliehenen Schöpfung, die eine Veränderung der ‚Verkleidung‘ aufzeigt“ (Ye 2021: 52). Im weitesten Sinne ist damit das paradigmatische Festhalten am originalen oder klassischen Text gemeint, das häufig bei der Adaption eines Textes auftritt (vgl. Ye 2021: 52).
Im Gegensatz zur Komplexität und Dramatik der verschiedenen Charaktere in der chinesischen Originallegende scheint Matt eine magische Welt in Schwarz und Weiß konstruiert zu haben. Einerseits streicht er viele Nebenhandlungen und vereinfacht die Beziehungen zwischen den Figuren. Andererseits entfernt der Autor die Elemente, die das positive Bild der weißen Schlange trüben. Dadurch wird das Image der weißen Schlange deutlich positiver geschildert. Sie ist viel freundlicher, großzügiger und hilfsbereiter, deswegen gewinnt sie auch mehr Zuneigung und Sympathie. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass sie göttlichen Ursprungs und damit vollends gut ist. Damit ist die grundlegende Umwandlung der Frau Bai von einer Schlangendämonin zur Göttin abgeschlossen.
Die Herkunft der weißen Schlange als Göttin ist jedoch keine Neuerung von Helmut Matt, denn bereits in der Qing-Dynastie wird in Fang Chengpeis Stück Die Legende von der Leifeng-Pagode die weiße Schlange als weiße Wolkenfee festgelegt. Um die Überzeugungskraft ihrer göttlichen Herkunft zu stärken und ihr positives Image zu fördern, verzichtet Helmut Matt auf die Szenen, die das dämonische Wesen der weißen Schlange allzu direkt zeigen, und er schreibt einige Szenen um. Beispielsweise konzentriert er sich auf positive Seiten der Schlangenfrau und zeigt sie etwa in ihrer Schwangerschaft, wo sie unentwegt in ihrer Apotheke Gegenmittel für unzählige Krankheiten entwickelt. So zeigt sich gewissermaßen neben der kleinen Liebe zwischen Mann und Frau auch die große Liebe der Frau Bai zum Volk – sie erscheint dadurch als eine durchaus positive Figur (vgl. Lu 2021: 112–117). Der Autor hat darüber hinaus die ursprüngliche Handlung, in der Frau Bai ihr Leben riskiert hat, um Heil bringende Kräuter für die Rettung ihres Mannes zu stehlen, dahin gehend geändert, dass die Gottheit des Berges von ihrer wahren Liebe gerührt ist und anbietet, ihr die lebensspendenden Kräuter zu geben.
Als bedeutende Nebenfigur des Romans wird die grüne Schlange von ihrem langjährigen Image als Dienerin befreit und als Person mit einer eigenständigen Persönlichkeit dargestellt. Ihre Identität ändert sich von einer Dämonin zu einer Göttin, von der Dienerin der Frau Bai zu ihrer besten Freundin. Die grüne Schlange sehnt sich auch nach dem menschlichen Leben und träumt davon, die endlosen Reize der menschlichen Liebe zu erleben. Während die grüne Schlange in der alten chinesischen Legende Weiße Schlange als Loyalität dargestellt wird, zeichnet sich die Figur in Matts Roman durch ihre Freundschaft aus. Hierbei ist ihre Begleitung und Unterstützung von Frau Bai nicht auf die Klassenunterdrückung oder den Gehorsam zwischen Herrin und Dienerin zurückzuführen, sondern auf die Freundschaft zwischen den beiden. Dadurch wird nicht nur die Unabhängigkeit der grünen Schlange hervorgehoben, was diese Figur lebendiger macht, sondern auch das positive Image der Frau Bai aufgebaut.
Im Kontrast dazu wird der Charakter Fahai negativ gestaltet. Zwar variiert sein Bild in verschiedenen chinesischen Versionen der Legende erheblich, doch ist deutlich zu sehen, dass der Figurentypus Fahai einen großen Teil der buddhistischen Normen und feudalen Ordnungen repräsentiert. In Matts Roman scheint Fahai ein überzeugter Verfechter von Normen und Gesetzen zu sein. Am offensichtlichsten ist jedoch seine Eifersucht auf die menschliche Gestalt der Schlangenfrau. „Nichts schien ihm unerträglicher als der Anblick fröhlich lachender, gesunder und glücklicher Menschen“ (Matt 2009: 46). Ob es nun darum geht, die buddhistischen Insignien des großen Buddhas zu stehlen, Krankheit und Unglück in der Welt zu verbreiten, Xu Xian zu entführen oder mit den Ehegatten zu kämpfen, die Charakterzeichnung Fahais als Antagonist zieht sich durch die gesamten Handlungen. Er steht daher in einem scharfen Figuren-Kontrast zur Schlangenfrau.
Weiterhin lässt sich feststellen, dass Helmut Matts Roman reich an kulturellen Details und Bräuchen bezüglich der traditionellen chinesischen Feste ist, die sich von denen des Westens unterscheiden. Damit zusammenhängend wird den westlichen Lesern die Fremdheit der alten chinesischen Tradition genommen und die Entwicklung der Handlung erleichtert. In der Beschreibung der Liebesbeziehung bezieht der Autor chinesische Hochzeitsbräuche, die Teekultur, den Ursprung des Drachenbootfests, das Beisammensein beim Mondfest, das Laternenfest und andere charakteristische chinesische Kultursymbole ein. Zwar werden die religiösen Elemente wie der Konfuzianismus, der Buddhismus und der Taoismus im Roman auch aufgegriffen, doch schwächt der Autor den Einfluss dieser Religionen auf die ursprüngliche Handlung stark ab. So streicht er Elemente, die von der buddhistischen Ideologie der sexuellen Enthaltsamkeit und den seit Langem bestehenden chinesischen Feudalritualen beeinflusst sind, zu erkennen etwa an der Rezeption des traditionellen Heiratssystems, das auf der Ordnung der Eltern und dem Wort des Heiratsvermittlers beruht. Weiterhin gilt das Kind der Schlangenfrau und Xu Xians im Originaltext als Träger des traditionellen chinesischen Konfuzianismus. Nachdem ihr Kind später in der kaiserlichen Beamtenprüfung zum Grad von Zhuang-yuan[7] erhoben worden ist, kehrt er in seine Heimatstadt zurück, um seinen Vorfahren die Ehre zu erweisen und das Opfer in der Leifeng-Pagode darzubringen. Somit wird seine Mutter Frau Bai wieder freigelassen. Dies spiegelt die Idee der kindlichen Pietät im traditionellen konfuzianischen Denken wider. In Matts Roman hingegen ist ihr Sohn jedoch eine entbehrliche Figur. Diese religiöse Idee und ihre erbauliche Bedeutung wurden vollständig eliminiert.
Großen Wert legt der Autor demgegenüber offensichtlich auf eine freie und gleichrangige Liebesbeziehung zwischen der Schlangenfrau und dem Mann. Seiner Meinung nach ist die Weiße Schlange eine schöne Liebesgeschichte, die sich aus der Landschaft des Westsees und dem Leben der Menschen ableitet, und als solche ist die Liebesbeziehung zwischen der weißen Schlange und Xu Xian stets der Hauptfaden der Romanhandlung. Alle Handlungen im Roman sind so dargestellt, dass sie dieses zentrale Motiv hervorheben; er lässt die Schlangenfrau und Xu Xian sich sogar öffentlich umarmen und küssen, was im alten China ein provokativer Verstoß gegen die grundlegende Etikette gewesen wäre. Sowohl die weiße Schlange als Unsterbliche als auch Xu Xian als Sterblicher zeigen eine Sehnsucht nach menschlichen Sehnsüchten und ein Bekenntnis zu menschlichen Werten. Angesichts der göttlichen Macht und der Launen des Schicksals wagen es beide, sich mit weltlichen Vorurteilen auseinanderzusetzen, nach Freiheit zu streben und sich der feudalen göttlichen Macht mit Beharrlichkeit zu widersetzen.
5 Fazit
Trotz des vorherrschenden negativen Chinabildes im 19. Jahrhundert zog die klassische chinesische Volksliteratur wie Weiße Schlange aufgrund ihrer Lebendigkeit und ihres Reichtums weiterhin das Interesse der deutschen Gelehrten auf sich, was in gewisser Weise die unabhängige und selbstständige Subjektivität der Volksliteratur im Prozess ihrer Entwicklung demonstriert (vgl. Ye 2016: 48). Herman Grimm fügte westliche heterogene Elemente ein, wodurch das Hauptmotiv der chinesischen Legende in Wechselwirkung mit der westlichen Kultur und dem spirituellen Inhalt neu positioniert wurde. Mit der Globalisierung der chinesischen Kultur und den Übersetzungen chinesischer Texte im 21. Jahrhundert haben die Lebendigkeit, die Philosophie und die Komplexität der klassischen chinesischen Literatur die Aufmerksamkeit der Weltliteratur auf sich gezogen. Dies könnte für Leser aller Kulturkreise Inspiration und Motivation sein, besser aufeinander zu hören und sich mit mehr Interesse gegenüberzutreten (vgl. Matt 2009: 174). Somit hat Helmut Matt reiche traditionelle chinesische Elemente in den Liebesroman einfließen lassen. Darüber hinaus weist der Roman jedoch auch bestimmte Charakterisierungen und Werte auf, die eher den ästhetischen Gewohnheiten der westlichen Leser entsprechen.
Durch die Untersuchung des Qiao-Yi-Phänomens der chinesischen Legende Weiße Schlange in der deutschen Literatur lässt sich feststellen: Sowohl ihre Bewegung und Überschneidung in Herman Grimms Ballade als auch ihre Nachahmung und Veränderung in Helmut Matts Roman stellen eine Neuinterpretation dieser chinesischen Legende dar, zeigen den Willen des schöpferischen Subjekts und lassen in ihrem je eigenen literarischen Charakter neue Akzente kultureller Konnotation und gesellschaftlicher Werte im Spannungsfeld zwischen China und Deutschland erkennen. Dies veranschaulicht auch die Multidimensionalität des Qiao-Yi-Phänomens in der Volksliteratur. Zwar wurde diese Legende mehrmals umgeschrieben, gleich blieb dabei jedoch das zentrale Motiv eines sich in eine Schlangenfrau verliebenden Mannes. So zeigt sich die künstlerische Anziehungskraft über kulturelle Zeiten und Räume hinweg. Wie Ye betont, liegt der Kern der Idee der Qiao-Yiologie in der Behandlung der Beziehung zwischen „Veränderung“ und „Normalität“ (vgl. Ye 2021: 60), und er weist ferner darauf hin, dass die Idee der Qiao-Yiologie in der Entwicklung der Dinge eine gegensätzliche und komplementäre Funktion habe (vgl. Ye 2021: 60). Als Qiao-Yi-Subjekt bringt die Volksliteratur in der dualistischen Interaktion zwischen China und Deutschland ihre Systematisierungsleistung der Veränderung und Normalität in der Idee der Qiao-Yiologie zum Vorschein.
Article Note
Dieser Beitrag ist im Rahmen vom Kernforschungsprojekt der Philosophie und Sozialwissenschaften des Bildungsministeriums der Volksrepublik China „Studien über ‚Chinas Geschichten‘ in der Weltliteratur“ [2020年度教育部哲学社会科学研究重大课题攻关项目《“中国故事”在世界文学中的征引阐释及启示研究》(Projektnummer: 20JZD046)] entstanden.
About the authors
Yanan Duan ist Doktorandin an der Germanistischen Fakultät der Shanghai International Studies University. Publikationen u. a. „Literatur als Waffe“ – Zur Rezeption und Imagebildung Elfriede Jelineks in China (2022) und Zur Untersuchung der metaphorischen Darstellungen der Sexualität und der Liebe in Faust (2021). Forschungsschwerpunkte: Deutsch-Chinesische Literaturbeziehungen, deutsche Gegenwartsliteratur.
Prof. Dr. Fan Zhang lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Germanistischen Fakultät der Shanghai International Studies University und Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies. Publikationen u. a. Ausgewählte Meisterwerke der deutschsprachigen Frauenliteratur (2020) und Deutsche Literatur in China (2019). Forschungsschwerpunkte: Deutsch-Chinesische Literaturbeziehung, interkulturelle Gegenwartsliteratur.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Anonym. 1833. Der Apotheker und die Natter. Erstes Kapitel aus dem fantastischen Romane: Lui-pong-ta. In: Magazin für die Literatur des Auslandes, 149(4). 593–594.Search in Google Scholar
Boshamer-Koob, Johanna/Boshamer, Kurt. 1967. Die wundersame Geschichte der weißen Schlange. (Pai she k’i chuan). Chinesischer Geisterroman. Zürich: Werner Classen Verlag.Search in Google Scholar
Feng, Menglong (冯梦龙). 2010 [1624]. Die weiße Schlangenfrau wird auf ewig unter die Leifeng-Pagode gebannt (白娘子永镇雷峰塔). In: Feng, Menglong ( 冯梦龙) (Hrsg.). Verständliche Worte zur Ermahnung der Welt (《警世通言》). Hangzhou: Zhejiang Ancient Books Publishing House ( 浙江古籍出版社). 248–265.Search in Google Scholar
Grimm, Herman. 1856. Die Schlange. In: Grimm, Herman (Hrsg.): Novellen. Berlin: Wilhelm Hertz Verlag. 261–274.Search in Google Scholar
Grube, Wilhelm. 1902. Geschichte der chinesischen Literatur. Leipzig: C. F. Amelangs Verlag.Search in Google Scholar
Hong, Pian (洪楩) (Hrsg.). 2018 [1541–1551]. Die Geschichte von den drei Pagoden im Westsee (西湖三塔记). In: Hong, Pian (洪楩) (Hrsg.): Erzählvorlagen aus der Berghalle der Reinheit und des Friedens (《清平山堂话本》). Beijing: Sino-Culture Press (华文出版社). 17–25.Search in Google Scholar
Julien, Stanislas. 1833. Loui-Pong-Ta, ou l’Esprit de la Couleuvre blanche, roman fantastique. In: L’Europe littéraire 2(13). 214–218.Search in Google Scholar
Julien, Stanislas. 1834. Blanche et Bleue, ou les deux couleuvres fees. Paris: Gosselin.Search in Google Scholar
Matt, Helmut. 2009. Im Zauber der weißen Schlange – Magische Einblicke in ein geheimnisvolles Land. Bad Schussenried: Gerhard Hess Verlag.Search in Google Scholar
Schwarz, Rainer. 1991. Die wundersame Geschichte von der Donnergipfelpagode. Leipzig: Reclam.Search in Google Scholar
Yan, Meihua/Yan, Zhiqiang (颜梅华/颜志强). 1981. Weiße Schlange (《白蛇传》). Hangzhou: Zhejiang People’s Art Publishing House (浙江人民美术出版社).Search in Google Scholar
Sekundärliteratur
Egli, Hans. 1982. Das Schlangensymbol. Geschichte, Märchen, Mythos. Switzerland: Walter-Verlag.Search in Google Scholar
Fan, Jinlan (范金兰). 2003. Studie über die Variationen der Legende von der weißen Schlange (《“白蛇传故事”型变研究》). Taibei: Wan-juan-lou (万卷楼).Search in Google Scholar
Julien, Stanislas. 1860. P’ING CHAN LING YEN ou, les deux jeunes filles lettrees, Roman Chinois. Paris: Didier et Cie.Search in Google Scholar
Lu, Yixia (鹿义霞). 2021. Tian Han und die Umschreibung der Legende von der Weißen Schlange (田汉与“白蛇”故事的改编及重塑). In: Drama (《戏剧文学》) 452(1). 112–117.10.26549/jxffcxysj.v3i13.5803Search in Google Scholar
Matt, Helmut. 1993. Rezensionen. Die wundersame Geschichte von der Donnergipfelpagode. In: Baus, Wolf/Klöpsch, Volker/Putz, Otto/Schamoni, Wolfgang (Hrsg.): Hefte für ostasiatische Literatur 14. 137–138.Search in Google Scholar
Schilling, Silke. 1984. Die Schlangenfrau. Über matriarchale Symbolik weiblicher Identität und ihre Aufhebung in Mythologie, Märchen, Sage und Literatur. Frankfurt am Main: Materialis Verlag.Search in Google Scholar
Schlink, Wilhelm. 2001. Hermann Grimm (1828–1901) Epigone und Vorläufer. In: Osinski, Jutta/Saure, Felix (Hrsg.): Aspekte der Romantik: zur Verleihung des „Brüder Grimm-Preises“ der Philipps-Universität Marburg im Dezember 1999. Kassel: Brüder-Grimm-Gesellschaft. 73–93.Search in Google Scholar
Schuster, Ingrid. 1982. Die Schlangenfrau: Variationen eines chinesischen Motives bei Herman Grimm und Gottfried Keller. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies 18(1). 44–62.10.3138/sem.v18.1.44Search in Google Scholar
Wei, Maoping (卫茂平). 1996. Geschichte der chinesischen Einflüsse in der deutschen Literatur (《中国对德国文学影响史述》). Shanghai: Shanghai Foreign Language Education Press (上海外语教育出版社).Search in Google Scholar
Ye, Jun (叶隽). 2014a. Veränderung und Normalität: Die Idee der Qiao-Yiologie (《变创与渐常——侨易学的观念》). Beijing: Beijing University Press (北京大学出版社).Search in Google Scholar
Ye, Jun (叶隽). 2014b. Traveling Theory oder Idee der Qiao-Yiologie – Eine Diskussion zwischen Said und Lukacs (“理论旅行”抑或“观念侨易”——以萨义德与卢卡奇为中心的讨论). In: Ye, Jun (Hrsg.). Qiao Yi (Teil 1) (《侨易(第一辑)》). Beijing: Social Sciences Academic Press (社会科学文献出版社). 258–280.Search in Google Scholar
Ye, Jun (叶隽). 2016. Die Welt des Volkes, die Welt der Liebe und der Freiheit – Die Volksliteratur aus der Sicht der Qiao-Yiologie (民间江湖, 那爱与自由的世界——侨易学视角下的民间文学). In: Folklore Studies (《民俗研究》) 128(4). 47–53.Search in Google Scholar
Ye, Jun (叶隽). 2021. Sequenzierung und Muster – Die Methode der Qiao-Yiologie (《构序与取象——侨易学的方法》). Hangzhou: Zhejiang Education Publishing House (浙江教育出版社).Search in Google Scholar
Zhao, Xiaoqi/Ye, Yuqi (赵小琪/叶雨其). 2018. Zur variablen Vorstellung von China in der deutschsprachigen Literatur von 1842–1919 (论1842–1919年德语文学对中国的变异式想象). In: Cultural Studies and Literary Theory (《中外文化与文论》) 38(1). 57–66.Search in Google Scholar
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Paradigmatisches Übersetzen Chinesisch-Deutsch: Wann übersetzerisches Handeln selbst übersetzt werden muss
- Der Übersetzungsprozess des chinesischen zaju-Stückes Der Kreidekreis in Deutschland
- Interkulturalität als eine diplomatische Diskursstrategie? Eine interkulturelle Diskursanalyse in der deutsch-chinesischen politischen Kommunikation
- Qiao-Yi-Phänomen der chinesischen Legende Weiße Schlange in der deutschen Literatur
- Vom Zeichen der Bewunderung zum Symbol der Position – Brecht mit der Legende von der Entstehung des Daodejing
- Spuren der chinesischen Literatur und Perspektive der Weltliteratur in Goethes Helena-Akt in Faust II
- Ying Ma (2022): Code-Switching und Script-Switching zwischen Deutsch und Chinesisch. Eine empirische Untersuchung von Postings im sozialen Netzwerk Renren. Berlin: Erich Schmidt Verlag. 454 S. (= Philologische Studien und Quellen 282) ISBN 978-3-503-20060-3 (gebundene Ausgabe, Hardcover), 978-3-503-20061-0 (E-Book). €99,95 (gebundene Ausgabe, Hardcover), € 91,40 (E-Book).
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Paradigmatisches Übersetzen Chinesisch-Deutsch: Wann übersetzerisches Handeln selbst übersetzt werden muss
- Der Übersetzungsprozess des chinesischen zaju-Stückes Der Kreidekreis in Deutschland
- Interkulturalität als eine diplomatische Diskursstrategie? Eine interkulturelle Diskursanalyse in der deutsch-chinesischen politischen Kommunikation
- Qiao-Yi-Phänomen der chinesischen Legende Weiße Schlange in der deutschen Literatur
- Vom Zeichen der Bewunderung zum Symbol der Position – Brecht mit der Legende von der Entstehung des Daodejing
- Spuren der chinesischen Literatur und Perspektive der Weltliteratur in Goethes Helena-Akt in Faust II
- Ying Ma (2022): Code-Switching und Script-Switching zwischen Deutsch und Chinesisch. Eine empirische Untersuchung von Postings im sozialen Netzwerk Renren. Berlin: Erich Schmidt Verlag. 454 S. (= Philologische Studien und Quellen 282) ISBN 978-3-503-20060-3 (gebundene Ausgabe, Hardcover), 978-3-503-20061-0 (E-Book). €99,95 (gebundene Ausgabe, Hardcover), € 91,40 (E-Book).