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Der Übersetzungsprozess des chinesischen zaju-Stückes Der Kreidekreis in Deutschland

  • Rao Beilei

    Dr. Beilei Rao ist Assistant Professor für Germanistik an der Tongji-Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Weltliteratur, vergleichende Literaturwissenschaft, neue deutsche Literaturwissenschaft.

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Published/Copyright: July 26, 2023

Zusammenfassung

Die Adaption des chinesischen zaju-Stückes Der Kreidekreis erreicht im 20. Jahrhundert in Deutschland ihren Höhepunkt. Allerdings wird der Übersetzungsprozess als entscheidende Voraussetzung für die weltweite Zirkulation dieses Stückes in früheren Untersuchungen wenig berücksichtigt. In diesem Zusammenhang liegt das Ziel des vorliegenden Beitrags darin, den Übersetzungsprozess des Kreidekreis-Stückes in Deutschland mithilfe des Begriffs des ‚dritten Raums‘ von Homi Bhabha zu rekonstruieren, damit die unterschiedlichen Übersetzungsstrategien der Übersetzer und die Interpretationsmöglichkeiten der kulturspezifischen Elemente im chinesischen Original dargestellt werden können. Außerdem ist zu betrachten, wie der Sinologe Alfred Forke auf der Grundlage vorangegangener Übersetzungsversionen das Kreidekreis-Stück inhaltlich wortgetreu wie auch strukturell metrisch ins Deutsche überträgt, wobei die kulturellen Differenzen des chinesischen Originals weitgehend beibehalten werden.

Abstract

The adaptation of the Chinese zaju play The Chalk Circle reached its peak in Germany in the 20th century. Despite of being the crucial prerequisite for the worldwide circulation of this play, the translation process of this play received little attention in previous studies. Therefore, the current study aims at reconstructing the translation process of the play in Germany by adapting Homi Bhabha’s Third Space Theory, in order to present the various translation strategies of different translators as well as the interpretation possibilities of the culture-specific elements in the Chinese original. In addition, this piece of research also examined how the sinologist Alfred Forke translated the play both literally in terms of content and metrically in terms of structure, while retaining the cultural differences of the Chinese original.

1 Einleitung

Betrachten wir die transkulturellen Begegnungen zwischen der chinesischen und deutschen Literatur, sind zahlreiche Beispiele in den einzelnen literarischen Gattungen unübersehbar. Insbesondere vor dem Hintergrund der China-Begeisterung Anfang des 20. Jahrhunderts wendet sich eine Reihe deutscher Schriftsteller der chinesischen Kultur zu, die ihnen aus zahlreichen Übersetzungen, Nachdichtungen, erzählenden Werken und dramatischen Entwürfen bekannt ist.

Unter allen von chinesischen Originalen inspirierten literarischen Schöpfungen gilt der Rezeptions- und Adaptionsprozess des chinesischen zaju-Stückes[1] Der Kreidekreis[2] als prominentes Beispiel der Weltliteratur: Nicht nur Brechts repräsentatives Stück des epischen Theaters – Der kaukasische Kreidekreis (1944/45) –, sondern auch eine seiner bedeutendsten Vorlagen – Klabunds[3] Der Kreidekreis (1925) – erzielten großen Bühnenerfolg in Deutschland. Darin liegt wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum sich die meisten Forscher hauptsächlich auf die Brecht’schen und Klabund’schen Bearbeitungen konzentriert haben. Im Vergleich dazu wurde der Übersetzungsprozess des Kreidekreis-Stückes in den vorangegangenen Untersuchungen am Rande gestreift und die meisten Übersetzer dieses Stückes wurden nur namentlich erwähnt (Schuster 1977; Tatlow 1977; Berg-Pan 1979; Chen 1991). Allerdings spielt die literarische Übersetzung im ganzen Zirkulationsprozess des Kreidekreis-Stückes eine entscheidende Rolle. Ohne diese wären die erfolgreichen Bearbeitungen von Klabund und Brecht nicht möglich gewesen. Davon ausgehend stellen sich im vorliegenden Beitrag vor allem die Fragen: Wie wird das Kreidekreis-Stück übersetzt und rezipiert? Welche Übersetzungsstrategien werden von verschiedenen Sinologen und Übersetzern verwendet? Ziel des Beitrags ist es, den Übersetzungsprozess als eine wesentliche Station der gesamten Zirkulation des Kreidekreis-Stückes darstellen zu können.

Um den Übersetzungsprozess bzw. die verschiedenen Strategien in den Übersetzungsversionen des Kreidekreis-Stückes darzustellen, soll zuerst erklärt werden, wie der Übersetzungsbegriff verstanden wird und nach welchen Kriterien die verschiedenen Übersetzungsversionen des Kreidekreis-Stückes behandelt und bewertet werden. Da der Übersetzungsprozess als entscheidende Übergangsphase für die beiderseitige Kommunikation zwischen der chinesischen Vorlage und den deutschen Kreidekreis-Bearbeitungen gilt, soll die literarische Übersetzung nicht als eine statische Wiedergabe des Originaltextes betrachtet werden, sondern einen Zwischenraum mit verflüssigter Grenzzone darstellen, in dem sich ein literarisches Werk mit verschiedenen gesellschaftlich-kulturellen Kontexten intensiv austauschen kann. Daran anschließend wird besonders betrachtet, wie die kulturspezifischen Elemente in der chinesischen Vorlage von verschiedenen Übersetzern behandelt werden. In diesem Sinne ist der Begriff des dritten Raums von Homi Bhabha besonders geeignet (Bhabha 1994), den Übersetzungs- bzw. Veränderungsprozess des Kreidekreis-Textes zu beleuchten, wobei die Hybridität und Offenheit des Textes beim Übersetzungsprozess in den Vordergrund gerückt und die kulturellen Differenzen des Originals stark hervorgehoben werden. Mithilfe des Begriffs des dritten Raums werden die französischen und deutschen Kreidekreis-Übersetzungen jeweils von Stanislas Julien, J. L. Klein, Rudolf von Gottschall, Anton Eduard Wollheim da Fonseca und Alfred Forke analysiert, damit sowohl die einzelnen unterschiedlichen Übersetzungsstrategien als auch das kontinuierliche Streben aller Übersetzer nach einer Darstellung der kulturellen Differenzen im chinesischen zaju-Stück freigelegt werden können.

2 Literarische Übersetzung als dritter Raum

In seinem Beitrag The Location of Culture stellt Homi Bhabha zunächst die theoretische Kritik bzw. das Postulat eines unversöhnlichen Gegensatzes aus der eurozentrischen Perspektive infrage. Seiner Meinung nach reproduzierten die Interessen der westlichen Theorien ausschließlich die hegemoniale Machtposition westlicher Diskurse. Dabei sei die Sprache der Theorie nichts als ein weiteres Machtinstrument der kulturell privilegierten westlichen Elite, um einen Diskurs des Anderen hervorzubringen, der ihre eigene Gleichung von Macht und Wissen zementiere (Bhabha 1994: 20). Als Gegenmodell dazu wendet sich Homi Bhabha von allen einfachen Gegensätzen ab und legt den Fokus auf die Randgebiete kultureller Deplatzierung. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Verhandlung der widersprüchlichen und antagonistischen Momente ausschließlich in der Grenzzone zwischen verschiedenen Kulturen stattfinde und sich die Produktivität der Bedeutung nicht aus den entgegengesetzten Polaritäten (Bhabha 1994: 25), sondern nur aus der beiderseitigen Verhandlung dieser beiden Orte herauskristallisiere. Auf dieser Basis entwickelt Homi Bhabha aus einer kulturliterarischen Perspektive den Begriff des dritten Raums:

The pact of interpretation is never simply an act of communication between the I and the You designated in the statement. The production of meaning requires that these two places be mobilized in the passage through a Third Space, which represents both the general conditions of language and the specific implication of the utterance in a performative and institutional strategy of which it cannot in itself be conscious (Bhabha 1994: 36).

It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew (Bhabha 1994: 37).

Dann lässt sich an dieser Stelle fragen, inwiefern der Begriff des dritten Raums zu einem neuen Verständnis der literarischen Übersetzung beitragen kann. Obwohl sich Homi Bhabhas Übersetzungsbegriff nicht nur auf die literarische Übersetzung begrenzt, weist seine Wortwahl, z. B. „interpretation“, „communication between the I and the You“ und „translated“, auf einen potenziellen Zusammenhang zwischen dem dritten Raum und der literarischen Übersetzung hin. Noch offensichtlicher betont Homi Bhabha an früherer Stelle, dass sich dieser dritte Raum, dem das Merkmal der Hybridität eigen ist, auf einen Raum der Übersetzung („a space of translation“) beziehe:

The language of critique is effective not because it keeps forever separate the terms of the master and the slave, the mercantilist and the Marxist, but to the extent to which it overcomes the given grounds of opposition and opens up a space of translation: a place of hybridity (Bhabha 1994: 25).

Im Folgenden geht es genau um die literarische Übersetzung, die im ganzen Zirkulationsprozess des Kreidekreis-Stückes als dritter Raum adressiert werden soll. Genauer betrachtet wird dieser Begriff in zweierlei Hinsicht für die Analyse der Kreidekreis-Übersetzungen in Deutschland nutzbar gemacht: Erstens wird keine klare Trennungslinie zwischen der Ausgangs- und Zielsprache bzw. -literatur gezogen. Viel stärker werden die Hybridität und Offenheit der literarischen Übersetzungen und der Texte betont. Da die literarische Übersetzung nicht mehr als einfache Nachbildung des Originals, sondern als hybrider Zwischenraum verschiedener Kulturen gilt, geht es weniger um die Richtigkeit der Übersetzung im Vergleich zum Original als um den ganzen Prozess der Verhandlungen, in dem die Bedeutungen und Werte missrepräsentiert (wie bei Julien), weggelassen (wie bei Klein und Gottschall), falsch angeeignet (wie bei Wollheim da Fonseca) oder in starkem Maße beibehalten (wie bei Forke) werden. Genau die Deplatzierung von Differenzbereichen in den einzelnen deutschen Übersetzungen, die früher als Missverständnis bezeichnet und deswegen kaum beachtet wurde, soll vor dem Hintergrund der aufgezeigten theoretischen Prämissen in den literarischen Übersetzungen neu interpretiert werden. Im Unterschied zu den vorangegangenen Untersuchungen, die sich hauptsächlich nur auf die Abweichungen zwischen der Zielsprache und der Ausgangskultur konzentrierten, werden im Folgenden die kulturellen Differenzen der beiden Orte (Ausgangs- und Zielkultur) in den Übersetzungen berücksichtigt. Das Ziel der Übersetzungsanalyse ist, die unterschiedlichen Übersetzungsstrategien angesichts der sprachlichen und kulturellen Differenzen offenzulegen.

Daran anschließend wird zweitens der Blick stärker darauf gerichtet, wie das kulturelle Andere/Fremde bzw. die kulturspezifischen Elemente des chinesischen zaju-Stückes sowohl inhaltlich als auch formal in verschiedenen Übersetzungsversionen behandelt werden. Benjamins Übersetzungstheorie („Fremdheit der Sprachen“) bildet einen bedeutenden Ausgangspunkt für Bhabhas Theorieentwicklung über den Begriff des dritten Raums und seine kulturelle Übersetzung (Benjamin 1991: 14). Beispielsweise wird der Übersetzungsprozess im Essay Die Aufgabe des Übersetzers als ein unabgeschlossener Prozess der Sprachergänzung und -erweiterung betrachtet, was Bhabha heranzieht und von der sprachlichen Ebene auf die kulturelle Ebene überträgt (Bhabha 1994: 163). In diesem Sinne sei Bhabhas kulturelle Übersetzung durch volle fruchtbare Verfremdungen und Überlagerungen von Bedeutungen gekennzeichnet (Bachmann-Medick 1998: 19). Genau diese Sperrigkeit der Übersetzungsdynamik bietet eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass das Unübersetzbare aufgrund der sich aufeinander zubewegenden Verhandlungen zwischen kulturellen Texten oder Praktiken erst zur Sprache gebracht und dann immer geeigneter übertragen werden könne (Bachmann-Medick 1998: 19–20). In diesem Zusammenhang sollen die Übersetzungsversionen des Kreidekreis-Stückes nicht nur parallel verglichen, sondern auch als ein kontinuierlicher Prozess der Übersetzungsversuche betrachtet werden, wobei die kulturspezifischen Elemente des chinesischen Originals in der deutschen Sprache allmählich in Erscheinung treten.

3 Der Übersetzungsprozess des Kreidekreis-Stückes in Deutschland

Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden etwa 24 zaju-Stücke vollständig ins Deutsche übersetzt. Unter allen zeichnet sich das Kreidekreis-Stück durch zahlreiche Übersetzungs- und Bearbeitungsversuche von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Nachdem der französische Sinologe Stanislas Julien im Jahr 1832 das Stück zum ersten Mal aus dem Chinesischen ins Französische übersetzt hatte, wurde diese Übersetzungsversion zunächst auszugsweise von J. L. Klein (1866) und Rudolf von Gottschall (1887) und wenige Jahre später von Anton Eduard Wollheim da Fonseca (1876) vollständig ins Deutsche übertragen. Anfang des 20. Jahrhunderts fand sich ein Auszug vom dritten Akt des Kreidekreis-Stückes in der Geschichte der chinesischen Literatur (1902) von Wilhelm Grube, der eine mögliche Vorlage für die erfolgreiche Kreidekreis-Adaption von Klabund gewesen sein könnte (Chen 1936: 54). Aufgrund des Klabund’schen Bühnenerfolgs entstand 1926 eine direkt aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzte Version von Alfred Forke. Aus den darauffolgenden Jahren sind neben dem weltberühmten Kaukasischen Kreidekreis von Bertolt Brecht noch zwei weitere Adaptionen des Kreidekreis-Stoffes erwähnenswert: Der Kreidekreis: ein Spiel in sechs Bildern nach dem Chinesischen (1942) des deutschen Schriftstellers und Übersetzers Johannes von Guenther (1886–1973) und Der Kreidekreis: ein Laienspiel nach Li Hsing-tao (1955) von Heinz Schlötermann.

Zur Analyse werden folgende Übersetzungen ausgewählt: die erste französische Übersetzung Hoei-Lan-Ki, ou L’histoire du Cercle de Craie (1832) von Julien, Auszüge des Kreidekreis-Stückes in Geschichte des aussereuropäischen Dramas und der lateinischen Schauspiele nach Christus bis Ende des X. Jahrhunderts (1866) von Klein und in Theater und Drama der Chinesen (1887) von Gottschall, Hoei-lan-ki. Der Kreidekreis (1876) von Wollheim da Fonseca und Hui-lan ki. Der Kreidekreis. Schauspiel in vier Aufzügen und einem Vorspiel (1926) von Forke. Da die französische Übersetzung von Julien die erste Übersetzung in Europa ist und die erste vollständige deutsche Übersetzung zudem auf dieser Version beruht, lohnt es sich insbesondere, einen genauen Blick auf den Ausgangspunkt des Übersetzungsprozesses zu werfen. Anschließend werden die übersetzten Auszüge aus den beiden Werken Geschichte des aussereuropäischen Dramas und der lateinischen Schauspiele nach Christus bis Ende des X. Jahrhunderts (1866) und Theater und Drama der Chinesen (1887) diskutiert. Obwohl die erste vollständige deutsche Übersetzung von Wollheim da Fonseca nicht direkt aus dem Chinesischen übersetzt, sondern aus dem Französischen übertragen wurde, kennzeichnet diese Version den Anfang der Kreidekreis-Adaption in Deutschland. Deswegen wird diese Version im Folgenden mit Berücksichtigung der französischen Übersetzung von Julien analysiert. Nicht zuletzt ist anerkannt, dass die Übersetzung von Forke unter allen die relativ wortgetreueste Version ist. In diesem Sinne ist zu untersuchen, wie sich die Übersetzung Forkes von den vorherigen Versionen unterscheidet und wie die kulturspezifischen Elemente des Kreidekreis-Stückes bei Forke in starkem Maße beibehalten werden (Rao 2022: 131).

3.1 Der Kreidekreis von Stanislas Julien

Die französische Übersetzung des Originaltextes durch Julien gliedert sich in drei Teile: Vorwort, Übersetzung des Originaltexts und Anmerkungen. Aus dem ausführlichen Vorwort ergeben sich bereits die wichtigsten Übersetzungsstrategien von Julien, die sich in der Übersetzung und in den Anmerkungen wiederfinden lassen. Am Anfang des Vorwortes weist Julien mit Nachdruck darauf hin, dass sich die Theaterform yuan zaju durch eine Mischung aus Gesang und Dialogen auszeichnet. Anschließend bringt er das Hauptziel seiner Übersetzung zum Ausdruck, nämlich nicht nur den Prosatext der Dialoge wiederzugeben, sondern auch alle Verse der lyrischen Arien vollständig zu übersetzen (Julien 1832: ix). Diese Aussage bezieht sich unmittelbar auf seine beiden Vorläufer Prémare und Davis, die vor Julien die zaju-Stücke Le petit Orphelin de la Maison de Tchao (Zhaoshi gu’er, 1735), An Heir in his Old Age (Lao sheng’er, 1817) und The Sorrow of Han (Hangong qiu, 1829) zwar übertragen, aber aufgrund der Übersetzungsschwierigkeiten der chinesischen Verse die lyrischen Arien weggelassen hatten (Li 2013: 76). Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich Julien um eine vollständige Übersetzung des Kreidekreis-Stückes bemühte. Im Zentrum dieses Übersetzungsversuches steht die Frage, wie die Schwierigkeiten bei der Übersetzung der chinesischen Verse überwunden werden könnten.

Julien zufolge müsste zunächst ein Wörterbuch für den besonderen Wortschatz der chinesischen Lyrik zusammengestellt werden, um die Verse decodieren zu können:

Il serait intéressant de montrer au public en quoi consistent les obstacles multipliés qui entourent la poésie chinoise, et en font pour ainsi dire une langue distincte de la prose, qui a sa construction, ses locutions propres, sa syntaxe, et, si je puis parler ainsi, son vocabulaire particulier. […] La poésie chinoise abonde de mots polysyllabes, qui ne se trouvent point dans nos dictionnaires, et dont les parties composantes, traduites littéralement, ne sauraient donner le sens. [Es wäre interessant, dem Publikum zu zeigen, worin die vielfältigen Hindernisse bestehen, die die chinesische Lyrik umgeben und sie sozusagen zu einer von der Prosa getrennten Sprache machen, die ihren eigenen Aufbau, ihre eigenen Redewendungen, ihre eigene Syntax und, wenn ich so sagen darf, ihr eigenes Vokabular hat. … Die chinesische Lyrik ist reich an mehrsilbigen Wörtern, die nicht in unseren Wörterbüchern zu finden sind und deren Bestandteile bei wörtlicher Übersetzung keine Bedeutung haben.] (Julien 1832: Xii)

In diesem Zusammenhang nennt Julien anschließend im Vorwort einige konkrete Beispiele aus seinem Wörterbuch. Vor allem wird das Wort Jade von Chinesen häufig und manchmal metaphorisch verwendet, um die ausgezeichnete Qualität von etwas oder den erlesenen Geschmack einer Person zu beschreiben: Das Jadekaninchen bedeutet Mond; das Jadebuch steht für das genealogische Buch der kaiserlichen Familie. Außerdem finden sich im Chinesischen manche Ausdrücke, die einen Farb-, Vogel-, Saison- oder Elementnamen enthalten. In diesem Sinne beziehen sich solche Ausdrücke manchmal weniger auf die eigentlichen als auf die symbolischen Bedeutungen, um dem literarischen Text einen poetischen Stil zu verleihen: So beschreibt der rote Staub die Welt im Gegensatz zum religiösen Leben, die Stadt der Schafe ist ein Spitzname der chinesischen Stadt Guangzhou; das Brunnenwasser steht für den Spiegel (Julien 1832: Xiii–xxiii). Weitere Beispiele finden sich in der 15-seitigen Liste im Vorwort der Kreidekreis-Übersetzung. Bemerkenswert ist allerdings, dass dieses unvollständige Wörterbuch im Vorwort bei der Übersetzung des Kreidekreis-Stückes nur geringe Verwendung findet und eher als ein Zugang zu grundlegenden Kenntnissen der chinesischen Kultur dient. Der Grund liegt wahrscheinlich darin, dass die sprachlichen Codes, die komplexe kulturelle Bedeutungen tragen, stark vom Textzusammenhang abhängig sind und deswegen nicht systematisch und eineindeutig erfasst werden können. Als prominentes Beispiel dient die folgende lyrische Arie im ersten Akt des Kreidekreis-Stückes. Daraus ist zu schließen, dass die kulturellen Informationen hinter den sprachlichen Ausdrücken trotz der Zusammenstellung des sogenannten Wörterbuches in der Übersetzung verloren gehen können:

【仙吕点绛唇】月户云窗,绣帏罗帐,谁承望,我如今弃贱从良,拜辞了这鸣珂巷。 (Zang 1958: 1109)。

De ma fenêtre, où pendent des rideaux de soie, ornés de riches broderies, je puis contempler l’éclat de la lune et les formes variées des nuages. Aurois-je espéré d’abandonner un jour cette avilissante profession, pour prendre un parti honorable, et dire adieu à cette rue qui est le séjour du vice? [Von meinem Fenster aus, an dem seidene Vorhänge mit reichen Stickereien hängen, kann ich den Glanz des Mondes und die verschiedenen Formen der Wolken betrachten. Hätte ich gehofft, dass ich eines Tages diesen erniedrigenden Beruf aufgeben, eine ehrenhafte Entscheidung treffen und mich von dieser Straße verabschieden würde, die der Aufenthaltsort des Lasters ist?] (Julien 1832: 12)

Der erste Satz im chinesischen Original ist auf ein Dichterwort aus der Song-Zeit zurückzuführen. Obwohl verschiedene lyrische Motive wie „Mond“, „Wolke“ und „Fenster“ in der Dichtung auftauchen, bezieht sich dieser Vers nicht auf die konkreten Objekte, sondern nur auf den schönen Wohnort und das Bett der Protagonistin Haitang. In der Übersetzung Juliens werden alle lyrischen Symbole nicht nur Wort für Wort, sondern auch als Verhalten der Protagonistin ins Französische übertragen. Außerdem wird das „Bett“ aus dem chinesischen Original von Julien als „Vorhänge“ verstanden. Hier erscheint es mir nicht nötig, Juliens Übersetzung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Viel wichtiger ist zu zeigen, dass manche kulturellen Informationen im Übersetzungsprozess unvermeidlich verloren gehen, obwohl der Übersetzer Julien auf eine wortgetreue Übertragung zielt und zu diesem Zweck ein Wörterbuch zusammenstellt.

Aus Juliens Übersetzung lassen sich die zuvor genannten zwei Aspekte des Übersetzungsprozesses als dritten Raum beobachten: Vor allem gilt diese Übersetzungsversion nicht als eine schon fertiggestellte oder abgeschlossene Einheit im ganzen Zirkulationsprozess des Kreidekreis-Stückes, sondern eher als ein offener hybrider Zwischenraum, in dem richtige und falsch angeeignete Informationen über das Original sowie das Land China zu finden sind und in danach folgenden Übersetzungen verbessert werden sollen. Genau wie Julien selbst nach der Fertigstellung der Übersetzung erkannt hat, kann seine Kreidekreis-Übersetzung aufgrund der mangelnden Forschungsmaterialien nicht fehlerfrei sein. Er bringt am Ende seines Vorworts explizit zum Ausdruck, dass es noch Stellen gibt, an deren richtiger Übersetzung er zweifelt. Deswegen hegte er den großen Wunsch nach einer China-Reise, wohl auch, um ein vollständiges Wörterbuch für chinesische Literatur zusammenzustellen. Auf diese Weise sucht Julien das Gespräch mit anderen nachfolgenden Übersetzern und betrachtet seine eigene Übersetzung als ein unvollendetes Werk, das kontinuierlich durch andere Übersetzungsversuche ergänzt und korrigiert werden soll.

Zudem schenkt Julien, wie auch andere Sinologen seiner Generation, einer wortgetreuen Übertragung der kulturspezifischen Elemente im chinesischen Original große Aufmerksamkeit und strebt bei der Übersetzung nach Genauigkeit. Das lässt sich außer seiner Zusammenstellung des Wörterbuches auch anhand der insgesamt 305 Anmerkungen im Anhang nachweisen, in denen er nicht nur seine Zweifel während des Übersetzungsprozesses zum Ausdruck bringt, sondern auch umfassende Kenntnisse über die chinesische Kultur vermittelt (Julien 1832: 97–149). Auch aufgrund seines Strebens nach einer vollständigen Übersetzung werden die lyrischen Arien des Kreidekreis-Stückes, auf die Julien viel Wert legt, zum ersten Mal und zwar in Form eines Prosatextes übersetzt. Dieses Problem taucht bei der Übersetzung des yuan zaju immer erneut auf: Sollen die lyrischen Arien in rhythmisch gereimten Versen oder in wörtlicher Prosaübersetzung wiedergegeben werden? In der folgenden Analyse wird gezeigt, wie die deutschen Übersetzer mit diesem Dilemma umgehen.

3.2 Der Kreidekreis bei J. L. Klein und Rudolf von Gottschall

Die Rezeption der Theaterform yuan zaju sowie des Kreidekreis-Stückes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde nachhaltig vom negativen Chinabild der Hegelzeit geprägt. Exemplarisch werden solche Vorurteile und Missverständnisse bei der Begegnung mit der chinesischen Kultur an den beiden Werken aus dem 19. Jahrhundert – Geschichte des aussereuropäischen Dramas und der lateinischen Schauspiele nach Christus bis Ende des X. Jahrhunderts (1866) von Klein und Theater und Drama der Chinesen (1887) von Gottschall – deutlich. Allerdings bringen die beiden Literaturkritiker, insbesondere Klein, aufgrund der scharfen Gesellschaftskritik dem Kreidekreis-Stück großen Respekt entgegen. Da sich die beiden Werke inhaltlich in starkem Maße überschneiden, werden zunächst die Vorstellung und die Übersetzungsauszüge des Kreidekreis-Stückes in der Geschichte des Dramas analysiert. Der relevante Inhalt aus Theater und Drama der Chinesen dient als Ergänzung hierzu.

Auf insgesamt 17 Seiten wird das Kreidekreis-Stück in der Geschichte des Dramas vorgestellt, wobei die übersetzten Auszüge nicht wie bei Julien als ein einzelner Teil, sondern zusammen mit den Kommentaren des Autors zu diesem Stück angeführt werden. Außer der gesellschaftlichen Kritik nennt Klein noch einen weiteren Grund für seine Hochschätzung des Stückes, nämlich die realistische Bravour des chinesischen Verfassers Li Xingdao:

Denn in der Realistik, in dem Bestreben, die gemeine Wirklichkeit nachzuahmen, wie sie leibt und lebt, besteht eben das Chinesenthum in der Kunst. […] Uns wenigstens ist kein einziges Drama der europäischen Kunstchinesen, weder ein deutsch- noch ein französischrealistisches bekannt, das sich in Virtuosität mit dem Kreidezirkel des Li-king-tao messen dürfte; und kein Dramatiker dieser Richtung bekannt, weder bei uns, noch bei den Franzosen, der an diesem Kreidezirkel nicht die Quadratur des Zirkels der dramatischen Realistik zu bewundern und zu studiren hätte (Klein 1866: 474).

Um die lebendige Wiedergabe der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Kreidekreis-Stück darzustellen, hat J. L. Klein eine lyrische Arie aus dem vierten Akt ausgewählt. Hier werden der heftige Streit der zwei Frauen um das Kind und die rührende Mütterlichkeit der Protagonistin Haitang gleichzeitig geschildert. Basierend auf der französischen Übersetzung von Julien wird dieser Auszug von J. L. Klein auch in Prosaform ins Deutsche übersetzt.

孩儿也这臂膊似麻秸细(xi)。他是个无情分尧婆管甚的。你可怎生来参不透其中意(yi)。他使着侥幸心(xin)。咱受着腌臜气(qi)。不争俺俩硬相夺,使孩儿损骨伤肌(ji)。(Zang 1958: 1128)。

Les bras de cet enfant sont mous et fragiles comme la paille du chanvre, dépouillé de son écorce. Cette femme dure et inhumaine pourrait-elle comprendre mes craintes ? Et vous, Seigneur, comment se fait-il que vous ne découvriez pas la vérité ? Hélas ! combien notre position est différente ! Elle a du crédit et de la fortune, et moi, je suis humiliée et couverte de mépris ! Oui, si toutes deux nous tirions violemment ce tendre enfant, vous entendriez ses os se briser, vous verriez sa chair tomber en lambeaux! [Die Arme dieses Kindes sind weich und zerbrechlich wie das Stroh des Hanfs, der seiner Rinde beraubt wurde. Könnte diese harte, unmenschliche Frau meine Ängste verstehen? Und ihr, Herr, wie kommt es, dass ihr die Wahrheit nicht entdeckt? Ach, wie unterschiedlich ist doch unsere Lage! Sie lebt in Glück und Ansehen, und ich bin gedemütigt und mit Verachtung überhäuft! Ja, wenn wir beide dieses zarte Kind gewaltsam wegziehen würden, würdet ihr seine Knochen brechen hören und sein Fleisch in Fetzen fallen sehen!] (Julien 1832: 88)

Die Aermchen dieses Kindes sind wie Hanfstengel weich und gebrechlich. Kann dieses hartherzige, unmenschliche Weib meine Angst begreifen? Und ihr, Herr, wie mag es nur zugehen, dass ihr das wahre Sachverhältniss nicht entdeckt? Ach! Wie verschieden ist unsere Lage! Sie lebt in Glück und Ansehn; ich in Erniedrigung und mit Schmach bedeckt! Ja, zögen wir Beide gewaltsam dieses zarte Kind, ihr würdet seine kleinen Knochen brechen hören, und sein Fleisch sich lösen sehen vom Gebein! (Klein 1866: 468)

Da sich die Theaterform des yuan zaju im Vergleich mit anderen chinesischen literarischen Gattungen durch sprachliche Natürlichkeit bzw. Anwendung der Vernakularsprache auszeichnet, gestalten sich die lyrischen Arien in der Prosaübersetzung in diesem Sinne auch als lebensnahe Schilderung für das Publikum. Allerdings sind die Verse im chinesischen Original trotz aller Freiheit in Reimform. An dieser Stelle stellt sich wiederum die Frage, wie es möglich ist, die lyrischen Arien des yuan zaju in einem einheitlichen Metrum zu übersetzen? Im Morgenblatt für gebildete Leser (1844) findet sich eine unvollständige Kreidekreis-Übersetzung des Vorspiels und des vierten Aktes (einschließlich der oben erwähnten lyrischen Arie) im poetischen Stil, worauf Klein in einer Fußnote seines Beitrags hinweist. Interessanterweise findet man im Theater und Drama der Chinesen von Gottschall dieselbe lyrische Arie mit geringen Veränderungen in den Versen wieder:

Ich sollt’ es ziehen an den Armen,

Ich sollt’ es ziehen an den Armen,

Die wie Hanfstengel weich und zart?

Die wie Hanfstengel zart und fein?

Die Andre mag sich nicht erbarmen,

Die and’re Frau fühlt kein Erbarmen,

Die Frau, wie Stahl und Stein so hart …

Die Frau so hart wie Stahl und Stein.

Wie jetzt das Schicksal es gefügt,

So hoff’ ich, daß die Wahrheit siegt!

Ich fürcht’ zu brechen seine Glieder,

Ich schone seine zarten Glieder,

Und jene denkt nur auf Gewinn.

In dessen sie nach Schätzen geizt!

Mir sinken diese Hände nieder;

Mir sinken diese Hände nieder,

Ihr steht nach Selbstsucht nur der Sinn.

Doch sie greift zu, von Gier gereizt!

Ja rissen wir nur beide gleich geschwind,

O rissen beide wir mit gleicher Hast,

Verloren, ach verloren wär’ das Kind (Klein 1866: 468).

Verloren wär’ das Kind, das uns’re Wut erfaßt! (Gottschall 1887: 140)

Im Vergleich mit der lyrischen Arie in Prosaform bei Klein gehen in den beiden Gedichten tatsächlich manche Informationen verloren. Beispielsweise ist es schwierig, die Frage der Protagonistin an den Richter in die Verse zu übertragen: „Und ihr, Herr, wie mag es nur zugehen, dass ihr das wahre Sachverhältniss nicht entdeckt?“ Deswegen wird dieser Satz in der früheren Version (1844) weggelassen und in der späteren Version bei Gottschall nur angedeutet: „Wie jetzt das Schicksal es gefügt, / So hoff’ ich, daß die Wahrheit siegt!“ Die Verwendung des Knittelverses (vierhebiger Jambus mit Paarreim) in beiden Gedichten ist sowohl dem volkstümlichen als auch dem lyrischen Charakter der Arienpartien im yuan zaju angepasst. In Hinsicht auf die Wortwahl scheint die Gesellschaftskritik im Gedicht bei Gottschall offensichtlich schärfer zu sein. Vor allem verwendet Gottschall Verben wie „nach Schätzen geizen“ und „zugreifen“, um den habgierigen Charakter der Frau Ma zu verdeutlichen. Außerdem werden die eher deskriptiv wirkenden Substantive wie „Gewinn“ und „Selbstsucht“ aus dem Gedicht von 1844 durch negativ konnotierte Wörter wie „Gier“ und „Wut“ ersetzt, damit das Spannungsverhältnis zwischen der Protagonistin Haitang und der ersten Gattin Frau Ma explizit dargestellt und verstärkt wird. Nicht zuletzt unterteilt sich eine Verszeile bei Gottschall in zwei kürzere Aussagen und endet mit einem Ausrufezeichen, was im Vergleich zu dem älteren Gedicht ausdrucksstärker wirkt.

Zusammenfassend offenbaren sich die Merkmale des dritten Raums, beispielsweise die Hybridität, Offenheit und Widersprüche, wiederum aus den fragmentarischen Kreidekreis-Übersetzungen von Klein und Gottschall. Sowohl negative Beurteilungen des Chinabildes und der Theaterform yuan zaju als auch Hochschätzungen des Kreidekreis-Stückes finden sich im Übersetzungs- und Vorstellungsprozess. Hinsichtlich der stilisierten Besonderheit des yuan zaju – einer Mischung aus lyrischen Arien und Dialogen – geht es bereits seit Beginn der Rezeption des Kreidekreis-Stückes in Deutschland nicht darum, ob das Stück vollständig übersetzt werden soll oder die lyrischen Arien weniger wichtig als die Dialoge sind. Stattdessen wird die Besonderheit der lyrischen Arien, sowohl formal als auch inhaltlich, von den deutschen Übersetzern deutlich erkannt. In diesem Sinne geht es in den deutschen Übersetzungen eher darum, ob die lyrischen Arien besser in Prosaform oder im poetischen Stil übertragen werden können. Im Hinblick auf den sprachlichen Transfer ist es schwierig zu erschließen, wie weit sich die deutschen Übersetzungen vom chinesischen kulturellen Kontext entfernen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die oben erwähnten deutschen Übersetzungen des Kreidekreis-Stückes auf die einzige französische Vorlage von Julien zurückzuführen sind. Es kann lediglich festgestellt werden, dass die inhaltliche Vollständigkeit der Auszüge unter Berücksichtigung des poetischen Stils schwer zu erzielen ist.

3.3 Der Kreidekreis bei Anton Eduard Wollheim da Fonseca

Die erste vollständige deutsche Übersetzung des Kreidekreis-Stückes Hoei-lan-ki. Der Kreidekreis von Wollheim da Fonseca entstand im Jahr 1876. Über Leben und Werk des Übersetzers ist heute wenig bekannt. Die spärlichen Informationen geben jedoch Auskunft darüber, dass er ein allgemeines Interesse an Philosophie und orientalischer Philologie und Politik hatte und als Nachdichter und Dramatiker arbeitete (Schwarz 1985: 499–510). Obwohl Wollheim da Fonseca in seinem Beitrag nicht auf die Vorlagen seiner Übersetzung hinweist, kann man bereits aus den Anmerkungen seiner Übersetzung erschließen, dass seine Version hauptsächlich auf der französischen Übersetzung Juliens beruht (Forke 1926: 11). Im Vergleich mit den früheren Übersetzungsversuchen zeichnen sich in dieser Version zwei Tendenzen ab: Auf der formalen Ebene legt der Übersetzer mehr Wert auf die lyrischen Arien, die, so Forke, in „künstlich verschlungenen Verse“ übertragen werden (Forke 1926: 12). Inhaltlich gesehen gehen die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten bei Wollheim da Fonseca nach dem Übersetzungsprozess vom Französischen ins Deutsche nicht verloren. Stattdessen werden viele detaillierte Erklärungen zu Regieanweisungen und zum Inhalt der Übersetzung hinzugefügt, die weder im chinesischen Original noch in der französischen Übersetzung Juliens zu finden sind.

Auch die vorliegende Übersetzungsversion von Wollheim da Fonseca gliedert sich in drei Teile: Vorwort, Übersetzung und Anmerkungen. Bereits im Vorwort weist er darauf hin, dass seine Übersetzung eine freie Bearbeitung ist und den Lesern „keine strengphilologische Abhandlung, sondern eine leichte aber interessante Lektüre bieten soll“ (Wollheim da Fonseca 1876: 4). Die Übersetzung der lyrischen Arien im yuan zaju hält er für besonders wichtig, da er an derselben Stelle im Vorwort auch auf „die Eigenheiten der Sprache, die Sitten und Gebräuche“ des chinesischen Volkes aufmerksam macht (Wollheim da Fonseca 1876: 4). Infolgedessen ist zu beobachten, dass die lyrischen Arien des Kreidekreis-Stückes von Wollheim da Fonseca in einem komplizierteren Versmaß übertragen werden. Da nur die Auszüge aus dem Vorspiel und dem letzten Akt des Kreidekreis-Stückes in den vorherigen deutschen Übersetzungen zu finden sind, werden im Folgenden auch nur die von Wollheim da Fonseca übersetzten lyrischen Arien aus diesen beiden Akten als Beispiele angeführt, um die Unterschiede hinsichtlich des poetischen Stils zu verdeutlichen:

从此后不教人笑我做辱家门 (Zang 1958: 1108)。

Mit dem Spott der Menschen ist’s nun aus,

X x X x X x X x X

Jetzt werd’ ich vom Spott nicht der Leute geschreckt,

Denn niemand wird es mehr wagen,

Nicht zur Schmach gereich’ ich mehr dem Haus (Neumann 1844: 115).

X x X x X x X x X

Mich lästernd und höhnend, zu sagen,

Daß ich die Ehre des Hauses befleckt (Wollheim da Fonseca 1876: 12–13).

Die oben zitierte lyrische Arie aus dem Vorspiel wird von der Protagonistin Haitang gesungen, nachdem sie sich für die Ehe mit Herrn Ma entschieden hat. Dieser einzige ungereimte Satz im chinesischen Original wird von Julien mit zwei Sätzen in Prosaform übertragen: „Je ne crains plus les railleries du public. Je ne crains plus qu’on dise que je ternis l’honneur de ma famille.“ (Julien 1832: 8) Im Morgenblatt (1844) wird der Prosatext mit zweizeiligen Versen ins Deutsche übertragen. In diesem fünfhebigen Trochäus mit Paarreim wirken die Verse feierlich und eindringlich, sodass der endgültige Abschied der Protagonistin von ihrer schändlichen Vergangenheit als Singmädchen und ihr dringender Wunsch nach einem normalen Familienleben zum Ausdruck gebracht werden. Auf dieser Basis verwandeln sich die zweizeiligen Verse bei Wollheim da Fonseca in einen Vierzeiler. Durch den dreihebigen und vierhebigen Daktylus mit umschließendem Reim wirken die Verse fröhlich und tänzerisch, was auch der ausgelassenen Stimmung der Protagonistin entspricht. Inhaltlich gesehen gibt es kaum Unterschiede zwischen den beiden deutschen Versionen. Allerdings scheinen die vierzeiligen Verse von Wollheim da Fonseca viel farbenprächtiger zu sein, insbesondere im Vergleich mit dem schlichten Prosatext im chinesischen Original. Daraus ist zu schließen, dass die Übersetzung der lyrischen Arien des Kreidekreis-Stückes in Deutschland nicht nur von Anfang an hochgeschätzt werden. Zudem sind die Übersetzungsversuche davon geprägt, die ästhetische Sprache bzw. den poetischen Stil zu übertragen. Ähnliche Beispiele finden sich auch bei anderen lyrischen Arien, in deren Übersetzung Wollheim da Fonseca versucht, den Liedertext in verschiedenen Verslängen und Reimen neu zu komponieren. Wie bereits erwähnt, zeichnet sich das yuan zaju durch die Verwendung der Vernakularsprache aus. Eine übermäßige Betonung des poetischen Stiles entspricht zwar dem singenden und tänzerischen Charakter der lyrischen Arien, weniger jedoch der Vernakularsprache. An dieser Stelle geht es wiederum um den Konflikt zwischen Form und Inhalt bei der Übersetzung der lyrischen Arien. Daran anschließend wird nun gezeigt, wie der Sinologe Forke eine bessere Lösung dieses Problems bietet.

Eine weitere Besonderheit dieser Übersetzung liegt darin, dass Wollheim da Fonseca aufgrund seiner eigenen Deutung oder Vermutung in den Anmerkungen detaillierte Erklärungen zur Regieanweisung hinzufügt, die in der französischen Übersetzung Juliens nicht zu finden sind. Im chinesischen Original gehört die Regieanweisung (‌科介 kejie) auch zum Text des yuan zaju und wird hier normalerweise in Klammern gesetzt. Bei Wollheim da Fonseca werden die im chinesischen Original schon bestehenden Regieanweisungen nicht nur übersetzt, sondern durch seine eigenen Erklärungen in Fußnoten ergänzt. Als Beispiel dient die Szene, in der die erste Gattin Frau Ma ihren Ehemann heimlich vergiftet. Hier gibt es im chinesischen Original nur einen einfachen Satz als Beschreibung ihres Verhaltens in Klammern: „Sie wirft das Gift hinein.“ (Wollheim da Fonseca 1876: 30) In den Anmerkungen Wollheim da Fonsecas findet sich dazu eine detaillierte Beschreibung des Verhaltens der Protagonistin Haitang, um ihre Unschuld zu zeigen: „In diesem Augenblick muß Haitang an der Thüre erschienen sein und Frau Ma’s Handlung bemerkt haben, ohne jedoch den Verdacht einer Vergiftung zu hegen, wie aus den ersten Worten der zwölften Scene hervorgeht.“ (Wollheim da Fonseca 1876: 30) Solche subjektiven Ergänzungen spielen zwar keine große Rolle bei der Handlungsentwicklung, helfen aber den Lesern im großen Maße dabei, den Text zu verstehen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass diese Übersetzungsversion vor allem leserorientiert ist und besonderen Wert auf eine verständliche und interessante Lektüre legt.

Im Vergleich zu den leserfreundlichen Erklärungen und Ergänzungen der originalen Regieanweisungen wirken die Erläuterungen zu fremdartigen Ausdrücken in der Vernakularsprache manchmal irreführend. Als prominentes Beispiel gilt die Ferse-Metapher im Kreidekreis-Stück, die schon bei Julien große Schwierigkeiten während des Übersetzungsprozesses auslöste. Nachdem die erste Gattin Frau Ma ihren Ehemann vergiftet hat, möchte sie nicht nur das ganze Eigentum der Familie, sondern auch das einzige Kind der Protagonistin Haitang besitzen. In diesem Zusammenhang sagt sie: „Ich – ich bin die wahre, die wirkliche Mutter des Kindes, ich, einzig und allein, und das Kind ist mein, mein wahres und wirkliches Kind. Es ist das Herz und das Herzblut der Frau, es ist der Mutterleib der Frau, es ist die Ferse der Frau; weiß das nicht jeder Mensch?“ (Wollheim da Fonseca 1876: 34) Diese Ferse-Metapher (‌脚后跟 jiao-hougen) ist eine direkte Übersetzung des chinesischen Originals. Allerdings hat Wollheim da Fonseca selbst nicht verstanden, warum das Kind hier die Ferse der Frau ist. Deswegen äußert er in den Anmerkungen folgende Vermutung: „Weil das Kind bei seiner Geburt neben die Füße der Mutter gelegt wird.“ (Wollheim da Fonseca 1876: 34) Der wirkliche Grund dafür liegt darin, dass es im Chinesischen neben 脚后跟 (jiao-hougen) noch ein anderes Wort für die Ferse gibt: 脚掌子 (jiao-zhangzi). Die letzten zwei Silben 掌子 (zhangzi) klingen im Chinesischen genauso wie 长子 (zhangzi, wörtlich: erster Sohn). Deswegen wird der Sohn auch als die Ferse der Mutter bezeichnet (Wang 1993: 602).

Die Vermutung von Wollheim da Fonseca scheint zwar absurd zu sein, ist aber keinesfalls unbegründet. An derselben Stelle in der französischen Übersetzung deutet Julien an, dass es hier wahrscheinlich um eine Redewendung im Chinesischen geht. In diesem Zusammenhang weist Julien in seinen Anmerkungen auf eine frühere Stelle des Kreidekreis-Textes hin, an der ein vermutlicher Zusammenhang zwischen einem anderen Ferse-Ausdruck und der Geburt des Kindes bestehen könnte: „L’expression ‚les talons de la dame,‘ se rattache peut-être à quelque usage particulier. Hai-t’ang dit plus haut: l’enfant que j’ai mis au monde devant les talons.“ [Der Ausdruck die Ferse der Dame hängt möglicherweise mit einer bestimmten Verwendung zusammen. Hai-t’ang sagte oben: Das Kind, das ich vor den Fersen zur Welt gebracht habe.] (Julien 1832: 119) Interessanterweise wird die chinesische Phrase 跟前 [in der Nähe, wörtlich: devant les talons/vor den Fersen] in der französischen Übersetzung Juliens nicht Wort für Wort, sondern frei als „auprès de moi“ [bei mir] und „à côté de Madame“ [bei Frau Ma] übertragen, was völlig zutreffend ist. Im Vergleich dazu geht Wollheim da Fonseca einen Schritt weiter, indem er die Ferse-Metapher (‌脚后跟 jiaohougen) mit dem anderen Ferse-Ausdruck (‌跟前 genqian) vertauscht und einen direkten Zusammenhang zwischen „der Ferse“ und der Geburt des Kindes herstellt.

An diesem interessanten Beispiel wird erneut sichtbar, dass das von Julien angestrebte Ziel, mithilfe eines umfassenden und eineindeutigen Wörterbuches eine wortgetreue Übersetzung zu bieten, kaum möglich ist. Der Grund liegt darin, dass die sprachlichen Codes eng und vielschichtig mit dem kulturellen Kontext, einschließlich der Sitten, der Gebräuche, der Redewendungen u. a., verzahnt sind. Statt die Übersetzungen im Hinblick auf Decodierungsprozesse hin zu untersuchen, ist es für die Frage der interkulturellen Übersetzungsprozesse daher ergiebiger, die sprachlichen und kulturellen Ähnlichkeiten aus der bereits dargelegten Perspektive eines hybriden dritten Raums in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang kann die Übersetzung von Wollheim da Fonseca als eine gelungene Bearbeitung gelten, da er erstens Wert auf die sprachliche Ästhetik sowohl im Chinesischen als auch im Deutschen legt und zweitens das Interesse der Leser an der chinesischen Kultur durch seine zwar subjektiven, aber dennoch aufschlussreichen Anmerkungen zu wecken sucht.

3.4 Der Kreidekreis bei Alfred Forke

Der Klabund’sche Bühnenerfolg des Kreidekreis-Stückes (1925) bietet einen unmittelbaren Anlass für das Erscheinen dieser neuen Übersetzung im darauffolgenden Jahr, da sich Klabund, so Forke, in seiner Bearbeitung zu viele Freiheiten erlaubt und deswegen ein unchinesisches Spiel produziert habe. Um ein richtiges chinesisches Kreidekreis-Stück wiederzugeben, achtet der Übersetzer Forke nicht nur auf den sprachlichen Transfer, sondern auch auf die fremdartigen kulturellen Phänomene hinter den sprachlichen Codes, die bei Julien und Wollheim da Fonseca falsch verstanden wurden. Auch Forkes Übersetzung gliedert sich in drei Teile: Vorwort, Übersetzung und Anmerkungen. Im Vorwort weist Forke hinsichtlich Sprachebene und Kulturebene auf die zwei Schwerpunkte in seiner Übersetzungsversion hin: Erstens betont er, dass die Verwendung der Vernakularsprache im yuan zaju eine wichtige Rolle spiele, und bemängelt zudem, dass dies in den vorherigen Übersetzungen nicht stark genug herausgestellt worden sei. So werden beispielsweise die lyrischen Arien entweder reimlos in Prosaform (wie bei Julien) oder in künstlich verschlungene Verse (wie bei Wollheim da Fonseca) übertragen. Diese beiden Übersetzungsmethoden, so Forke, schadeten allerdings gleichermaßen der Eigenheit der Vernakularsprache im yuan zaju. In diesem Zusammenhang versucht Forke die gereimten Strophen in den chinesischen lyrischen Arien durch Knittelverse wiederzugeben, da der Rhythmus und der Reim im chinesischen Original sehr frei und einfach sind (Forke 1926: 12). Zweitens hält Forke die früheren Übersetzungen und Adaptionen des yuan zaju bzw. des Kreidekreis-Stückes in Hinsicht auf die Bearbeitung der Handlung und der Charakterisierung für unchinesisch. Als Beispiel nennt Forke die erste europäische Adaption des yuan zaju – L’orphelin de la Chine (1755) von Voltaire, in der die Helden wie Franzosen „in hochpathetischen Alexandrinern“ (Forke 1926: 7) fühlen und sprechen würden. Auf ähnliche Weise vermische Klabund, so Forke, in seiner Kreidekreis-Bearbeitung „echtes Chinesentum“ mit vielem und zum Teil ganz modernem Deutschen (Forke 1926: 11). Außerdem weist Forke darauf hin, dass manche Übersetzungsfehler oder kulturelle Missverständnisse bei Klabund eigentlich auf Wollheim da Fonsecas Übertragung zurückzuführen seien. Daher zielte Forke mit seiner Übersetzung sowohl auf eine Darstellung der chinesischen Vernakularsprache als auch auf eine Korrektur der Übersetzungsfehler und Unklarheiten bei Julien und Wollheim da Fonseca. Die oben genannten beiden Schwerpunkte lassen sich auch in der Übersetzung und den Anmerkungen dieser Version nachvollziehen.

Wie bereits erwähnt wurde, strebte Forke sowohl eine möglichst wortgetreue Übertragung des Originaltextes als auch einen poetischen Stil an. Infolgedessen wurden die lyrischen Arien des Kreidekreis-Stückes, die sich im chinesischen Original durch die Verwendung der gereimten Prosa in Vernakularsprache auszeichnen, von Forke in Form von Knittelversen übertragen. An dieser Stelle wird dieselbe lyrische Arie aus dem vierten Akt des Kreidekreis-Stückes wiederholt als Beispiel angeführt, um zu zeigen, wie sich die Übersetzungsstrategien von Wollheim da Fonseca und Forke voneinander unterscheiden.

Die Arme des Kindes sind ja so schwächlich

Die Ärmchen meines Kindes, ach,

Und gleich den Halmen des Hanfs zerbrechlich,

Sie sind wie Hanfstengel so schwach,

Die man ihrer Hülle beraubt.

Wie hätte die Frau dort mit grausamem Herzen

Doch das tückische Weib dort, ohne Herz,

Je einer Mutter Aengste und Schmerzen

Was kümmert sie des Kindes Schmerz?

Geahnt oder geglaubt?

Doch muß es hohe Verwundrung erwecken,

Allein wie kommt’s, daß auch du nicht hast

Daß Sie, o Herr, nicht die Wahrheit entdecken.

Des Vorgangs tieferen Sinn erfaßt?

Ach, wie ist unsre Lage doch so verschieden!

Ich werde verachtet, ich werde gemieden,

Sie wird behandelt mit Güte und Glimpf,

Sie aber ist hochgeehrt. –

Ich aber erdulde Schande und Schimpf.

Wenn sie aus dem Kreis es zu ziehen und heißen,

Wenn wir beide das Kind ergreifen wollten

So würden des Kindes Glieder zerreißen,

Und gewaltsam an uns reißen sollten,

So würde sein Fleisch versehrt (Wollheim da Fonseca 1876: 74).

So würden die Knochen ihm brechen müssen,

Und selbst das Fleisch, es würde zerrissen (Forke 1926: 85).

In Hinsicht auf die Wiedergabe des Originaltextes gilt die Übersetzung Forkes als eine wortgetreuere Version, da die Fragesätze und die Reihenfolge des Erzählens des chinesischen Originals unverändert bleiben. Formal gesehen versucht Wollheim da Fonseca die lyrische Arie in einem viel komplizierteren Metrum mit unterschiedlichen Verslängen und einem Zusammenspiel von Anfangs-, Binnen- und Schweifreimen sprachlich gediegen zu übertragen. Allerdings verliert die Vernakularsprache dabei stark an Lebendigkeit und Ausdruckskraft. Beispielsweise beinhaltet der zweite Vers bei Wollheim da Fonseca viele unnötige Wörter und wirkt deswegen weitschweifig. Darüber hinaus gibt es bei Wollheim da Fonseca unnötige Ergänzungen, die im chinesischen Original nicht zu finden sind: „Ach, wie ist unsre Lage doch so verschieden!“ Im Vergleich dazu verwendet Forke bei der Übersetzung eine schlichte Sprache mit einfachen Reimen. Dadurch werden sowohl die Eigenheit der Vernakularsprache als auch die rührende Mütterlichkeit der Protagonistin genauso kraftvoll und lebendig im Deutschen dargestellt. Beispielsweise überträgt Forke den zweiten Vers in einen einfachen Satz, der einerseits stark gekürzt ist und sich andererseits mit dem ersten Vers gut reimt („ach“/„schwach“). Außerdem bringt Forke im 5. und 6. Vers mit einer rhetorischen Frage die Klage der Protagonistin zum Ausdruck, was sich von der relativ komplizierten Formulierung bei Wollheim da Fonseca deutlich unterscheidet. Nicht zuletzt werden die Gegensätze zwischen den beiden Frauen – „Güte und Glimpf“/„Schande und Schimpf“ – bei Forke im einfachen und klaren Satzbau verschärft.

Eine weitere wichtige Charakteristik der Übersetzung Forkes liegt darin, dass auch die sprachlichen Wiederholungen des chinesischen Originals wörtlich ins Deutsche übersetzt wurden. Die lyrischen Arien im yuan zaju zeichnen sich durch häufige Wiederholungen aus, womit der erzählende und expressive Charakter der mündlichen Rede verstärkt wird. Solche Stellen werden in den vorherigen Kreidekreis-Übersetzungen von Wollheim da Fonseca und Julien nur inhaltlich übertragen, ohne die wiederholenden Strukturen wiederzugeben. Forke versuchte mit der Übersetzungsstrategie der Worttreue, die originale sprachliche Besonderheit des yuan zaju zu bewahren. Hier geht es nicht um die Wiederholung eines einzigen Wortes, sondern um die Wiederholung des ganzen Satzes. Nachdem die erste Gattin Frau Ma der Protagonistin Haitang eine Falle gestellt hat, singt Haitang:

我当初自伤。

Dans l’origine, je m’affligeais en secret; je ne m’inquiétais point pour moi-même. Je ne me méfiais point de ses desseins. Je ne soupçonnais pas qu’elle pût me plonger dans cet abîme. [Am Anfang war ich heimlich betrübt; ich sorgte nicht für mich selbst. Ich hatte keine Ahnung von ihren Plänen. Ich ahnte nicht, dass sie mich in diesen Abgrund stürzen könnte.] (Julien 1832 : 27)

Zuerst nur grämt’ ich heimlich mich;

Ich glaubt’ es nicht, nicht ahnte ich,

Sie heg’ den Plan, den unheils-vollen: Ins Unglück stürzen mich zu wollen (Wollheim da Fonseca 1876: 28);

Es hat mir großen Kummer gebracht,

别无甚忖量。

Daß ich zuerst an nichts Böses gedacht,

别无甚忖量。

Daß ich zuerst an nichts Böses gedacht.

将他来不防。

Sie nahte mir feindlich, ich gab nicht acht,

将他来不防。

Sie nahte mir feindlich, ich gab nicht acht;

可送咱这场 (Zang 1958: 1113)。

Jetzt hat sie mich ins Unglück gebracht (Forke 1926: 36).

Bereits in der ersten französischen Übersetzung bemerkt Julien, dass die Verse dieser lyrischen Arie zweimal wiederholt werden: „Le vers suivant est également répété deux fois.“ (Julien 1832: 115) Auf ähnliche Weise schreibt auch Wollheim da Fonseca in den Anmerkungen: „Diese letzten zwei Zeilen sind eigentlich nur eine Wiederholung der beiden ersten.“ (Wollheim da Fonseca 1876: 42) Obwohl die beiden Übersetzer die Wiederholung als sprachliches Phänomen im yuan zaju entdeckt haben, halten sie diese Wiederholung für redundant und verzichten deswegen auf eine wortgetreue Übertragung. Im Gegensatz dazu sind die Wiederholungen der zwei Verse bei Forke genau dem chinesischen Original nachgebildet. Außerdem ergänzt er in den Anmerkungen, dass in den Gesangspartien öfter Verse wiederholt werden, „um die Erregung zum Ausdruck zu bringen“ (Forke 1926: 36). Es wird deutlich, dass Forke im Vergleich zu den anderen Übersetzern über ein tieferes Verständnis für die ästhetische Stilisierung des yuan zaju verfügt.

Darüber hinaus beschäftigt sich Forke mit der Korrektur der Übersetzungsfehler und Missverständnisse bei Julien und Wollheim da Fonseca. Infolgedessen dienen seine Anmerkungen nicht wie bei den anderen beiden Übersetzern als ausführliche Ergänzungen zum Übersetzungstext, sondern als prägnante Hinweise auf die Übersetzungslücken der vorangegangenen Versionen. Bereits im Vorwort betont Forke mit Nachdruck, wie bewundernswert es sei, dass Julien ausschließlich mithilfe eines unvollständigen Wörterbuches die erste europäische Übersetzung des Kreidekreis-Stückes zustande gebracht habe. Daher sei es auch nicht verwunderlich, dass Julien beim Übersetzungsprozess Fehler unterlaufen seien. Auf der Grundlage dieser französischen Übersetzung habe Wollheim da Fonseca sich demnach an manchen Stellen zu stark an Julien orientiert (Forke 1926: 19, 26, 38, 51). Allerdings gebe es auch viele Auszüge, die von Julien zwar bereits richtig übersetzt, aber von Wollheim da Fonseca zu fantasiereich interpretiert worden seien (Forke 1926: 22, 30, 34, 62). Daher gilt Forkes Kreidekreis-Übersetzung im Vergleich mit den anderen Versuchen von Klein, Wollheim da Fonseca und Gottschall als eine präzisere Version, da sowohl die inhaltliche Vermittlung als auch die sprachlichen Eigenheiten des yuan zaju in seiner Version in starkem Maße bewahrt worden sind.

4 Fazit

Aus dem Vergleich zwischen allen Übersetzungsversionen des Kreidekreis-Stückes ist zu schließen, dass der Übersetzungsprozess tatsächlich als ein dritter und supplementärer Raum für die Artikulation der kulturellen Differenzen des chinesischen Originals dient. Es lassen sich zwei unterschiedliche Übersetzungsstrategien feststellen: Sinologen wie Julien und Forke, die das chinesische Original als Vorlage für ihre Übersetzungen benutzen, haben gemeinsam, dass ein möglichst enger Anschluss an den Originaltext bei der Wiedergabe angestrebt wird. Für Nachdichter wie Klein, Gottschall und Wollheim da Fonseca, deren Bearbeitungen auf einer Übersetzung aus zweiter Hand beruhen, geht es weniger um eine getreue Übersetzung des Originaltextes als vielmehr um eine intuitive poetische Gestaltung. Infolgedessen werden die richtig oder falsch angeeigneten kulturellen Differenzen in diesem Prozess vermittelt hinzugefügt, missverstanden oder weggelassen. Trotzdem widmen alle Übersetzer der Darstellung des kulturellen Anderen/Fremden im chinesischen Original ihre Aufmerksamkeit. Wenn die Übersetzungsversionen nicht parallel, sondern als kontinuierlicher Prozess betrachtet werden, dann kristallisiert sich ein akkumulativer Charakter des dritten Raums heraus. Im Vergleich zur ersten französischen Übersetzung Juliens scheint es Forke gelungen zu sein, einerseits das Prinzip der möglichst wörtlichen Wiedergabe zu befolgen und andererseits seine Übersetzungen metrisch und mit Reimbindung zu gestalten. Die Voraussetzung für eine solche Übersetzungstätigkeit scheint in der Verbindung zwischen dichterischen ‚Nachahmungsfähigkeiten‘ und fundierten sinologischen Kenntnissen zu bestehen. Dank seiner Übersetzungsversion werden die kulturellen Erkenntnisse des chinesischen Kreidekreis-Stückes im starken Maße artikuliert, was eine entscheidende Voraussetzung für die weiteren Kreidekreis-Bearbeitungen im 20. Jahrhundert in Deutschland schafft.

About the author

Dr. Rao Beilei

Dr. Beilei Rao ist Assistant Professor für Germanistik an der Tongji-Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Weltliteratur, vergleichende Literaturwissenschaft, neue deutsche Literaturwissenschaft.

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Published Online: 2023-07-26
Published in Print: 2023-11-01

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/ifdck-2023-0001/html
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