Home Spuren der chinesischen Literatur und Perspektive der Weltliteratur in Goethes Helena-Akt in Faust II
Article Open Access

Spuren der chinesischen Literatur und Perspektive der Weltliteratur in Goethes Helena-Akt in Faust II

  • Si Yuan

    Dr. Si Yuan ist Dozentin an der Nankai-Universität in Tianjin, China. Sie hat in deutscher Literaturwissenschaft promoviert und ihre Forschungsschwerpunkte sind momentan die deutsche Literatur der Goethezeit und deutsch-chinesische Literatur- und Kulturbeziehungen.

    ORCID logo
Published/Copyright: June 27, 2023

Zusammenfassung

Goethe hat 1827 in seiner Überarbeitung des Originalmanuskripts vom Helena-Akt in Faust II das Leben, das Schicksal und die Persönlichkeit von Helena erweitert und ihr Würde und Menschlichkeit verliehen. Inzwischen befasste sich Goethe mit der Lektüre der klassischen chinesischen Literatur, was zur Schaffung von seinem Werk Chinesisches führte. Goethe stattete die klassischen Schönheiten mit einem vergleichbaren Schicksal und ähnlichen ästhetischen Eigenschaften aus wie die Helena. In seiner Rekonstruktion von Helena und den chinesischen klassischen Schönheiten schwächte Goethe deren nationale literarische Identität und betont die Universalität der Menschheit. Die Tatsache, dass der Helena-Akt schließlich zu einer ästhetischen Tragödie wird, die die allgemeine menschliche Situation widerspiegelt, ist im Wesentlichen auf die Perspektive der Weltliteratur zurückzuführen, die Goethe in seinen späteren Jahren im Zuge der Aufarbeitung des klassischen Ideals entwickelte.

Abstract

In 1827, Goethe reworked the original manuscript of Faust’s Helena-Akt and created an enriched version of Helena’s life, fate and personality, endowing her with dignity and humanity. In the same period, Goethe wrote Chinesisches after reading classical Chinese literature and gave the beauties from ancient China the similar aesthetic tragic connotation with Helena. In his reconstruction of Helena and the Chinese beauties, Goethe undermines their national literary identity and emphasizes the universality of humanity. The fact that Helena-Akt eventually becomes an aesthetic tragedy reflecting the universal condition of human beings is fundamentally due to Goethe’s broadened vision of world literature, which was formed in the process at his later years of renouncing the classical ideal.

1 Einleitung

Als Goethe in seinen späteren Jahren am dritten Akt von Faust II, „Helena – Eine klassisch-romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust“ (im Folgenden kurz als Helena-Akt bezeichnet) arbeitete, interessierte er sich gleichzeitig für die klassische chinesische Literatur Chinese Courtship (‌《花笺记》) und die Geschichten der chinesischen Schönheiten in deren Anhängen. Ende Januar 1827 leihte sich Goethe aus der Weimarer Bibliothek die englische Übersetzung dieser chinesischen Literatur von Peter Perring Thoms aus und entdeckte die Geschichten über die chinesischen Schönheiten im Anhang zu The Songs of a Hundred Beautiful Women (‌《百美新咏图传》), die von dem Literaten Yan Xiyuan (‌颜希源) aus der Qing-Dynastie zusammengestellt wurden, und wählte vier chinesische Frauen als Dichtungsobjekte für seine Gedichte Chinesisches aus. Prof. Dr. Tan Yuan (‌谭渊) und Prof. Dr. Detering wiesen in dem Buch Goethe und die chinesischen Fräulein darauf hin, dass Goethe in dem Manuskriptband des Faust, der sich heute im Goethe-Schiller-Archiv befindet, auf der Rückseite des Manuskripts der Zeilen 9939–9940 im Helena-Akt, im Konkreten der Abschiedsszene zwischen Helena und Faust, zwei Gedichte aus dem Chinesischen geschrieben wurden. Diese wurden im Anhang zu Peter Perring Thoms’ Chinese Courtship als Adaption der Geschichte einer Hofdame aus der Kaiyuan-Periode (‌开元年间) der Tang-Dynastie (‌唐代) und als Adaption des Kommentars zur Heldin Yao Xian (‌瑶仙) in Chinese Courtship identifiziert. Ist es ein Zufall, dass die wichtigsten Zeilen von Helenas Abschied mit Faust im Helena-Akt auf derselben Seite von Goethes Manuskript stehen wie die Gedichte der chinesischen Schönheiten? Welche universellen ästhetischen Implikationen haben die Geschichten von den chinesischen Schönheiten und der antiken griechischen Schönheit Helena gemeinsam? Welche literarischen Ideen von Goethe spiegeln sich in seinem Helena-Akt wider? Diese Fragen sind sowohl für die Forschung über Faust als auch für die Forschung der deutsch-chinesischen literarischen Beziehung von großer Bedeutung.

In diesem Artikel wird zunächst in einer Kombination aus empirischer Forschung und Textanalyse die Veröffentlichung vom Helena-Akt 1827 mit dem Paralipomena von Faust II verglichen, um zu untersuchen, wie Goethe das Bild von Helena um 1827 neu gestaltet hat, dann wird das Bild von Helena mit den Frauenbildern in Chinese Courtship verglichen, die Goethe gelesen und umgestaltet hat, um ihre gemeinsame ästhetische Bedeutung und die universelle ästhetische Tragödie zu untersuchen. Schließlich wird Goethes Konzept der Weltliteratur hinter der universellen ästhetischen Tragödie aufgezeigt.

2 Helena in Faust II: Ein lebendiges Phantom

Goethes Auseinandersetzung mit dem Helena-Akt in Faust II begann um 1800 mit einem 265 Verse umfassenden Fragment (vgl. Ziegler 1919: 16), das den Auftritt der Helena im dritten Akt, Szene I in Faust II und ihren Dialog mit der von Mephistopheles verkleideten Phorkyas enthält (vgl. Goethe 2010: 662). 1825 nahm Goethe das alte Manuskript wieder in den Blick, ergänzte und überarbeitete es gründlich und veröffentlichte es 1827 als Einzelwerk unter dem Titel Helena – Eine klassisch-romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust (kurz als Helena-Akt genannt). Der Helena-Akt ist mit 1551 Verszeilen der am frühesten vollendete Akt und zugleich der längste Akt von Faust II. In einem seiner Briefe verwies Goethe auf seine seelische Wanderung beim Schreiben des Helena-Aktes, indem er sagte, er sei sechzig Jahre lang schweigend durch die dreitausend Jahre alte Geschichte der „Helena“ gegangen und habe irgendwie etwas Neues daraus gewonnen (vgl. Goethe 2010: 453). Goethes Auseinandersetzung mit dem Helena-Akt war ein offener Prozess, der sich ständig erneuerte. Goethe schöpfte aus seinem Werk stets neue Erkenntnisse, die es ihm ermöglichten, neue literarische Überlegungen zu entwickeln, während er die klassischen literarischen Ideale der Vergangenheit erneut betrachtete.

Helena ist angeblich die schönste Frau in Homers Odyssee, die zahlreiche griechische Helden anzog und als die Ursache der Auslösung des Trojanischen Kriegs galt (vgl. Reichel 1994: 264). In der traditionellen Faustschen Folklore und im Puppenspiel begehrt Faust die Schönheit Helenas und beauftragt Mephistopheles, sie zu seinem eigenen Vergnügen in sein Arbeitszimmer herbeizuzaubern. Der dritte Akt des Faust II, in dem Faust und Helena eine klassisch-romantische Verbindung schließen, wurde von diesem traditionellen deutschen Puppenspiel inspiriert (vgl. Goethe 1987: 202), unterscheidet sich aber dadurch, dass Fausts Bestrebung nach Helena auf dem klassischen Boden Griechenlands in der Nähe von Sparta stattfindet. Nach dem 1831 geschaffenen zweiten Akt, die klassische Walpurgisnacht (vgl. Gu 2016: 71) begegnete Faust Helena, die vor der Verfolgung durch ihren Mann Menelas floh, in einer mittelalterlichen Burg auf dem Piloponnes in der Nähe von Sparta und bot ihr Zuflucht. Sie gingen zusammen nach Arkadien, wo sie heirateten und das Kind Euphorion zur Welt brachten. Euphorion strebte nach dichterischer Leidenschaft und seine strebende Natur führte zu seinem Tod, als er versuchte, in den Himmel zu fliegen. Die desillusionierte Helena verabschiedet sich von Faust und verschwand. Ihr Gewand verwandelte sich in eine Wolke und wickelte sich um Faust in den Himmel und nahm ihn mit. Die gesamte Szene ist sprachlich kompliziert, reich an Konnotationen, voller Anspielungen und gilt daher jeher als einer der schwierigsten Teile bei der Studie von Faust (vgl. Höffgen 2022: 204–276).

Nach heutiger Auffassung ist Helena sowohl eine antike griechische Schönheit als auch eine Verkörperung antiker griechischer kultureller und ästhetischer Konzepte. Die Tragödie von Helena wird vielmehr als eine ästhetische Tragödie des klassischen Ideals betrachtet (vgl. Springsteed 2010: 5–8). Die Interpretationen dieser Tragödie wurden hauptsächlich auf die allegorische Ebene bezogen, d. h. die Vereinigung von Faust und Helena symbolisiert die poetische Vereinigung der Romantik (der germanischen mittelalterlichen Kultur) mit der Klassik (der antiken griechischen Kultur), während der Tod von Euphorion und das Verschwinden von Helena die ästhetische Tragödie von Goethes klassischem Ideal im Prozess der Integration in die germanische Kultur verkörpern. Es ist nicht zu leugnen, dass das Bild von Helena reich an symbolischer Bedeutung ist und hauptsächlich als ein Phantom behandelt worden ist (vgl. Mommsen 2022: 378–395). Gleichzeitig verwendete Goethe jedoch auch viele dichterische Mittel, um die illusionäre Heldin zu einer lebendigen und würdigen Figur zu gestalten. Im Bezug auf ihr menschliches Bild scheint Fausts Streben nach Helena und seine spätere Enttäuschung umso tragischer zu sein.

Das Originalmanuskript von Goethes Helena-Akt um 1800 ist heute in den Paralipomena (vgl. Schöne 2022: 59) der Faust-Ausgabe von Albrecht Schöne enthalten, wobei es sich um einen Text handelt, den Goethe entweder vorübergehend verworfen hat oder erst später vorhatte ihn in den Text einzufügen. Wird Goethes Paralipomena mit dem 1827 veröffentlichten Helena-Akt verglichen, so lässt sich feststellen, dass Goethe in der Zeit, in der er sich um 1827 intensiv mit dem Helena-Akt beschäftigte, Helena ein neues Leben bescherte, das sich von dem, das Goethe mehr als 20 Jahre zuvor konzipiert hatte, stark unterschied, indem er Helenas Leben, ihr Schicksal und ihre Persönlichkeit in hohem Maße erweiterte und verfeinerte sowie ihr mehr Würde und Menschlichkeit verlieh. Goethe vollendete in seinem Manuskript um 1800 nur den Hauptteil der ersten Szene, die davon handelt, dass Helena aus dem besiegten Troja in ihre Heimat zurückgebracht wird. Ihr Mann, Menelas, weist sie an, die Instrumente für das Opfer vorzubereiten, erwähnt aber nicht, was geopfert werden soll. An der Tür der inneren Halle des Palastes begegnet Helena der von Mephistopheles verkleideten hässlichen Phorkyas und unterhält sich mit ihr über Schönheit. Darüber hinaus hat Goethe in seinem Manuskript des Helena-Aktes das Schicksal von Helena skizziert: Helena wurde als Kind von Theseus weggenommen, von ihrem Bruder Patroklus gerettet, mit Menelas verheiratet und von Paris geraubt. Nachdem Paris in der Schlacht gefallen war, wurde Helena zur Witwe und heiratete dann Deiphobus, den Bruder von Paris. Nach seinem Tod war Helena nochmal verwitwet und wurde von Menelas gefangen genommen. Als Menelas sich rächte, suchte Helena aus Angst vor der Opferung Zuflucht bei der Rückkehr von Menelas, bis sie Faust begegnete und sich ihr tragisches Schicksal vollendete. Am Ende der Skizze setzte Goethe das Wort „Sympathie“ in Klammern (vgl. Goethe 2017: 681). In der ersten Szene der Ausgabe von 1827 wurde ein Dialog zwischen dem Chor und Helena hinzugefügt (vgl. Goethe 2017: 337–338) (ff. 8560–8567, ff. 8591–8637)[1] und Phorkyas machte Helena darauf aufmerksam, dass es Helena selbst ist, die Menelas opfern und töten will. Nach einem kurzen inneren Konflikt willigte Helena ein, in Fausts mittelalterlichem Schloss Zuflucht zu suchen. Die Darstellung dieser Szene hält sich streng an das ästhetische Muster der antiken griechischen Tragödie – sechshebige jambische Pentameter und lyrische Chorverse, die für das antike Griechenland charakteristisch sind – und spiegelt damit Goethes Intention wider, Helena als eine edle, erhabene und würdige Heldin der griechischen Tragödie darzustellen.

Im Vergleich zum Manuskript um 1800 wurden in der veröffentlichten Ausgabe von 1827 die unglücklichen Erlebnisse Helenas, vor allem in ihrer eigenen Schilderung und in den Erzählungen der anderen, um den Chor und Phorkyas, auf drei Ebenen ergänzt: Erstens wurde die Beschreibung des historischen Hintergrunds des Trojanischen Krieges bereichert, um Helenas Flucht aus den brennenden Ruinen zurück in ihre Heimat (ff. 8597–8598, ff. 8628–8632) (vgl. Goethe 2017: 339) und ihre Gefangenschaft bei ihrem Mann Menelas (ff. 8610–8614) (vgl. Goethe 2017: 339) zu zeigen. Zweitens wurde die Darstellung von Helenas Gedanken betont: Der Dialog zwischen Helena und dem Chor zeigt, dass sie über ihre Zukunft im Ungewissen ist und daher nicht weiß, was für ein Schicksal sie in ihrer Heimat erwartet.

„Was geschehen werde sinnst du nicht aus, / Königin schreite dahin / Guten Muts. / Gutes und Böses kommt / Unerwartet dem Menschen“ (ff. 8591–8595);

„Sei’s wie es sei! Was auch bevorsteht, mir geziemt / Hinaufzusteigen ungesäumt in das Königshaus, / Das lang entbehrt, und viel ersehnt, und fast verscherzt, / Mir abermals vor Augen steht, ich weiß nicht wie. Die Füße tragen mich so mutig nicht empor / Die hohen Stufen die ich kindisch übersprang.“ (ff. 8604–8609)

Drittens wurde Helenas Verteidigung ihres Rufs und ihr Geständnis des inneren Begehrens nach Liebe (ff. 8862–8863) hinzugefügt, aber auch ihre Traurigkeit über den Streit zwischen den Helden und ihre Schwermut über ihr eigenes unglückliches Schicksal (ff. 8870–8871). Es ist bemerkenswert, dass Helena keine Schuld oder Scham empfindet, wenn sie über die ihretwegen entstandene heroische Streitigkeit spricht. Selbst wenn sie von Mephistopheles sarkastisch getadelt wird, kümmert sie sich nicht um das von anderen auferlegte moralische Urteil, sondern konzentrierte sich nur auf das Geständnis ihrer Lust und erklärte, dass sie das wahre Glück nicht erlangt hat.

„Warum gedenkst du jener halben Witwenschaft?/

Und welch Verderben gräßlich mir daraus erwuchs?“ (ff.8862–8863)

„Gedenke nicht der Freuden! Allzuherben Leid’s /

Unendlichkeit ergoß sich über Brust und Haupt.“ (ff. 8870–8871)

Bemerkenswert ist auch, dass die erste Zeile der ersten Szene vom Helena-Akt, in der Helena sagt, dass sie „bewundert viel und viel gescholten“ wurde (f. 8488), nicht in Goethes Manuskriptbeilage erscheint, sondern erst in der Ausgabe von 1827. Dies lässt darauf schließen, dass es sich um Goethes Zusammenfassung von Helenas Leben vor seiner endgültigen Veröffentlichung handelt. Diese Ergänzungen weisen darauf hin, dass Goethe Helena während seiner Arbeit von 1825 bis 1827 erstmals als eine komplexe Person aus Fleisch und Blut und nicht als reine symbolische, allegorische Figur sah. Helena sehnt sich danach, zu lieben und geliebt zu werden (ff. 8862–8863, ff. 8870–8871), denkt bewusst über ihr Schicksal nach (ff. 8838–8842), herrscht majestätisch wie eine Königin über ihren Harem (ff. 8784–8799, ff. 8826–8833) und zögert auch, wenn sie vor die Entscheidung gestellt wird – eine vielschichtige Person mit menschlichen Eigenschaften. Die Vermenschlichung von Goethes Helena-Darstellung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Faust II zu einem Weltklassiker werden konnte und dass ein interkultureller Vergleich mit Goethes Chinesisches möglich ist.

3 Helena-Akt und Chinese Courtship: Eine Tragödie der Conditio humana

Im Januar 1827 las Goethe, während er an der Überarbeitung seines Helena-Aktes arbeitete, eine Vielzahl literarischer Werke aus aller Welt, darunter auch die englische Übersetzung Chinese Courtship von Peter Perring Thoms von 1824 (vgl. Thoms 1824: 29). Angeregt durch The Songs of A Hundred Beautiful Women aus dem Anhang zu Chinese Courtship veröffentlichte Goethe in seinem Aufsatz Chinesisches im Jahr 1827 Nachdichtungen zu einigen der Gedichte, in denen er den klassischen chinesischen Schönheiten eine ähnliche ästhetische Tragödie auferlegt wie der Helena (vgl. Tan/Detering 2020: 156). Nach dem Lesen der klassischen chinesischen Literatur fand Goethe neue Inspiration für die Gestaltung des Helena-Aktes und nahm eine letzte Änderung des Stücks vor, indem er Helenas Eigenheiten und nationale Identität schwächte und die Universalität der Figur betonte. Dieses Stück wurde zu einer universellen ästhetischen Tragödie der Conditio humana entwickelt.

Nachdem Goethe das Buch Chinese Courtship gelesen hat, stellte er fest, dass bei den Frauen in diesem Roman nicht mehr die Moral und Sittlichkeit betont und die Menschlichkeit unterdrückt werden, wie im früheren von ihm gelesenen Werk Die angenehme Geschichte des Haoh Kjöh (‌《好逑传》), in dem alles mit der Vernunft verstanden wird, ohne starke Leidenschaften und stürmische poetische Erregung (vgl. Eckermann 1978: 117). Die chinesischen Frauen in Chinese Courtship zeigen auch eine ungezügelte Leidenschaft für Liebe, die außerhalb der konfuzianischen Moral steht. Dies ist vergleichbar mit der Spannung zwischen Liebe und Moral in Goethes Überarbeitung des Helena-Aktes in Faust II. Der Anhang zu Thoms’ Chinese Courtship, Der neue Gesang der hundert Schönheiten enthält eine Auswahl von zweiunddreißig chinesischen Frauen in der alten Zeit, die ebenso wie Helena dafür bekannt waren, ihre Schönheit zur Schau zu stellen und sich auf Kosten moralischer Zurückhaltung der Lust hinzugeben (Thoms 1824: 254–280). Dazu zählen Lady Hwa-Juy (‌花蕊夫人), eine schöne Frau während der Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche (‌五代十国), in die sich sowohl der Herrscher von Shu (‌蜀) als auch der von Song (‌宋) verliebt haben; Lady Hea (‌夏姬) in der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (‌春秋时期), die mit mehreren Männern im Hof eine sexuelle Beziehung hatte und die schöne Paou-Sze (‌褒姒), für deren Gemüt sich der König Yu (‌周幽王) einen Spaß daraus machte, indem er seine Hauptstadtgarnison ohne feindliche Informationen mobilisierte und sie damit amüsierte. Darüber hinaus wählte Goethe noch unter den vielen chinesischen Schönheiten das Gedicht über die kaiserliche Gemahlin Fung-Sean-Ling (‌冯小怜) aus der nördlichen Qi Dynastie (‌北齐) aus und gestaltete es in seinem Gedicht um. Goethe wies darauf hin, dass Fung-Sean-Ling nach der Niederlage von dem Kaiser, der sie vorher begleitet hatte, gefangen wurde und sich zu den Frauen des neuen Herrschers gesellte. In seiner Umgestaltung des Gedichtes hieß es:

Wie betrübte mich Seline! / Als sie, sich begleitend, sang, / Und ihr eine Saite sprang, / Fuhr sie fort mit edler Miene: / Haltet mich nicht froh und frei; / Ob mein Herz gesprungen sei-- / Schaut nur auf die Mandoline (vgl. Tan/Detering 2020: 156).

Helena und Fung-Sean-Ling erregten zur gleichen Zeit Goethes Aufmerksamkeit, weil sie ähnliche ästhetische Konnotationen der Tragödie verkörperten. Beide waren wegen ihrer Schönheit beliebt und fielen nach der Kriegsniederlage in die Hände der neuen Herrscher. Sie wurden wegen ihrer Schönheit und der fehlenden Keuschheit kritisiert. Anstatt ihre Tugendlosigkeit zu bezichtigen, stellte Goethe sie in sympathischen Texten als Heldinnen voller Würde und Menschlichkeit dar, indem er Fung-Sean-Ling und Helena in Chinesisches bzw. Faust II humanistische Aufmerksamkeit schenkte. Fung-Sean-Ling drückt in ihrem Gedicht den Satz „Haltet mich nicht froh und frei; / Ob mein Herz gesprungen sei-- / Schaut nur auf die Mandoline“ aus, während Helena die Verse „Gedenke nicht der Freuden! Allzuherben Leid’s / Unendlichkeit ergoß sich über Brust und Haupt“ (ff. 8870–8871) sagt, als sie wegen ihrer leidenschaftlichen Liebe von Mephistopheles getadelt wird. Diese Darstellungen aus weiblicher Perspektive spiegeln umfassend die unglückliche Situation der beiden vom Schicksal benachteiligten Frauen wider, die sich nach Liebe sehnen, sie aber nicht erlangen können. Goethes mitfühlende und tolerierende Haltung ihnen gegenüber wird auch zur Schau gestellt.

Goethe hat nicht nur die Ähnlichkeit der ästhetischen Tragödien der Figuren in der antiken griechischen und chinesischen Literatur gespürt. Er hat sie auch universalisiert und ihre nationale literarische Identität zugunsten der Betonung der universellen Eigenschaften der Figuren geschwächt. In seinem Gedicht über Fung-Sean-Ling wird der Name in „Selina“ und das chinesische Instrument in „Mandoline“ umgeschrieben, um ihre chinesischen Eigenschaften abzuschwächen oder gar zu eliminieren und ihr einen universellen Charakter zu verleihen. Eine ähnliche Bemühung wird in Goethes Überarbeitung vom Helena-Akt 1827 gezeigt. Ein Vergleich des veröffentlichten Helena-Aktes 1827 mit dem ursprünglichen Manuskript ergibt, dass auch Goethes Überarbeitung des Helena-Akts von 1827 dazu tendierte, das Bild der Helena zu universalisieren und zu allegorisieren, indem er ihre individuelle Tragödie zur universellen Tragödie des antiken griechischen Schönheitsideals sublimierte. Dies spiegelt sich vor allem in Goethes Überarbeitung zweier wichtiger Verszeilen vor der Veröffentlichung des Stücks im Jahr 1827 wider. Die erste Verszeile ist Mephistopheles Kommentar zu Helena: „Daß Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand / Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad“ (ff. 8755–8756) (Goethe 2017: 677) und die zweite ist Helenas Kommentar zu ihrem eigenen Schicksal: „Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint“ (f. 9940) (Goethe 2017: 384). In einem Gespräch mit Eckermann erzählte Goethe, dass einige der Änderungen, die er vor der Veröffentlichung des Helena-Aktes vornahm, durch das Lesen von Chinese Courtship angeregt wurden. Diese beiden Verszeilen zählten zu den wichtigsten Änderungen, die Goethe vorgenommen hatte.

Im Paralipomena zum Faust steht in den Zeilen 8755 und 8756 der ursprünglichen Fassung Folgendes: „Alt ist das Wort, doch bleibt wahr und hoch der Sinn: / Daß Scham und Schönheit, nie zusammen, Hand in Hand, / Den Weg verfolgen, auf des Menschen Lebenspfad“ (Goethe 2017: 677). Aber in dem 1827 veröffentlichten Helena-Akt wird die letzte Zeile zu „Den Weg verfolgen über die Erde grünen Pfad“ (Goethe 2017: 343) geändert. Der Weg „des Menschen Lebenspfad“ wurde zum „grünen Pfad über die Erde“. Dies zeigt eine Tendenz bei der Überarbeitung Goethes im Jahr 1827 mit seinem Manuskript, dass die Probleme von Helenas individuellem Leben in universelle Probleme der Menschheit sublimiert werden und die ästhetische Tragödie des antiken Griechenlands als Ganzes aus der individuellen Tragödie der Schönheit herausgehoben wird. Ähnlich ist der Fall mit den Verszeilen 9939–9940, deren Manuskript mit dem Manuskript von Goethes Chinesisches auf demselben Blatt Papier steht. Diese Verszeile wurde insgesamt 9-mal von Goethe überarbeitet (vgl. Goethe 2017: 703–704), was darauf hindeutet, dass Goethe viel Wert auf diese Verszeile legte. Generell lässt sich in Goethes Überarbeitungen drei Tendenzen erkennen: Erstens wurde die Formulierung „das alte Sprichwort“ in „ein altes Sprichwort“ geändert, so dass sie sich nicht mehr spezifisch auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum der griechisch-römischen Zeit bezieht, sondern zu einem allgemeinen Verweis auf die allgemeine Situation der Menschen wird. Zweitens wird das Verhältnis zwischen Glück und Schönheit nicht in zu extremen oder absoluten Äußerungen ausgedrückt, sondern es wird versucht, die Spannungen zwischen beiden zu versöhnen und zu einer eklektischen Schlussfolgerung zu gelangen. Drittens wird die „schönste Frau“ in den allgemeinen Begriff „Schönheit“ umgewandelt, der sich nicht mehr auf das Individuum von Helena bezog, sondern auf das allgemeine Schönheitsideal der Antike, was sich schließlich als unrealistisch und unhaltbar erwies. Diese Veränderungen verstärken den abstrakten, illusorischen und universellen Charakter von Helenas Bild und machen sie, wie Euphorion, zu dem, was Goethe als eine allegorische Figur bezeichnete (vgl. Eckermann 1978: 157).

Im Großen und Ganzen verlieh Goethe den schönen Frauen des antiken Griechenlands und Chinas in seinen literarischen Werken eine allgemeine Bedeutung, indem er ihre Tragödien als Conditio humana, das heißt als universelle ästhetische Tragödien darstellte. Er betonte die universelle menschliche Lebenssituation, während er die individuellen und nationalen Charaktereigenschaften der Figuren reduzierte.

4 Blickwendung vom antiken Griechenland zur Weltliteratur im Helena-Akt

In Goethes Bearbeitung von Helena in dem Helena-Akt von 1827 wird das Bild von Helena allegorisiert, wobei es die universelle ästhetische Tragödie der Menschheit widerspiegeln soll. Es mag ein Zufall sein, dass die endgültige Überarbeitung der Schlüsselzeilen im Helena-Akt und Goethes Gedichte Chinesisches auf demselben Manuskript erschienen. Aber es ist nicht zufällig, dass Goethes literarische Neugestaltungen der antiken griechischen Helena und der chinesischen Schönheiten viele Gemeinsamkeiten aufweisen, die Goethes umfassende Kenntnis der Weltliteratur in seinen späteren Jahren widerspiegeln und das literarische Idealbild Goethes reflektieren, das sich von der Antike zur Weltliteratur wandelte. Anschließend orientierte sich Goethe in der Abfassung vom Helena-Akt nicht nur an klassische Literatur und Ästhetik, sondern wendete sich zur literarischen Inspiration auch einer breiteren Vision der Weltliteratur zu.

Wird die Entstehungsgeschichte vom Helena-Akt betrachtet, kann festgestellt werden, dass Goethe zu Beginn seiner Niederschrift des Helena-Aktes im Jahr 1800 eine enge kulturelle Verbindung zur griechischen Kultur hatte. Seit den 1770er Jahren hat das Studium der antiken griechischen Kultur in der deutschen Literatur eine Tradition und Kulturwissenschaftler wie Winckelmann haben sich der Entdeckung des literarischen Wertes der antiken griechischen Kunst und der Epen Homers gewidmet, um in Griechenland, dem Ursprungsort der europäischen Zivilisation, Bezüge und Vorbilder für die Gestaltung der deutschen Kultur zu finden (vgl. Wohlleben 1990: 197). Ende der 1780er Jahre lebte Goethe ein Jahr lang in Rom und war voll und ganz damit beschäftigt, sich das antike Griechenland vorzustellen und zu rekonstruieren. Zu jener Zeit befand sich diese Beschäftigung in einer intensiven Phase (vgl. Battafarano 1999: 22). 25 Jahre später gewann Goethe auf der Grundlage neuer historischer Fakten und archäologischer Funde jedoch viele neue Erkenntnisse über die antiken griechischen Kulturideale. Diese neuen Erkenntnisse beeinflussten auch Goethes Bearbeitung von Faust II und seine Neugestaltung von Helena. Mit der Veröffentlichung neuer archäologischer Entdeckungen im 19. Jahrhundert kamen deutsche Kulturwissenschaftler und Intellektuelle zur Erkenntnis, dass die altgriechische bildende Kunst vielfarbig war und eine starke sinnliche Wirkung ausübte, was von der idealisierten Vorstellung der Antike, die von den deutschen Literaten konstruiert wurde, weit entfernt war. Seit 1816, als Goethe die Zeitschrift Kunst und Altertum gründete und herausgab, setzte er sich stets mit den neuen Entdeckungen der antiken Forschung auseinander. Die neuen archäologischen Entdeckungen, die die Vorstellung der deutschen Literaten veränderten, führten auch Goethe dazu, das klassische Ideal gründlich zu überdenken (vgl. Gu 2016: 79). Das ehemals reine und stark idealisierte Bild des antiken Griechenlands zerfiel in Goethes Vorstellungen und wurde durch ein vielseitiges, menschlicheres und realistischeres Bild der Antike ersetzt. In Faust II wurden Helena lebhafte Begierden und Emotionen verliehen und diese als sehr menschlich dargestellt. Das galt sowohl als Goethes Reaktion auf die Idealisierung des antiken Griechenlands in der deutschen Wissenschaft um 1800 als auch als Ausdruck des Überdenkens der Antike und der durch den Schriftsteller konstruierten ästhetischen Paradigmen.

In seinen späteren Jahren untersuchte Goethe nicht nur die antike griechische Kultur, als er den Faust schrieb, sondern blickte auch über die klassische Vision der griechischen Kultur hinaus auf einen breiteren kulturellen Horizont und ließ viele Inspirationen aus der Weltliteratur in den Helena-Akt mit einfließen. Im Januar 1827 las Goethe während der Überarbeitung und Verfeinerung seines Helena-Aktes die unterschiedlichsten Literaturen aus aller Welt und begann, sein Konzept der Weltliteratur zu entwickeln (vgl. Tan/Detering 2020: 176). Goethe ließ sich von den Überlegungen Johann Gottfried Herders (1744–1803) und der Gebrüder Schlegel (August W. Schlegel und Friedrich Schlegel) zur interkulturellen Literatur inspirieren, die der Meinung waren, dass die Weltliteratur ein Verhalten des interkulturellen Austauschs sei (vgl. Goßens 2011: 82–92). Goethe betrachtete die Weltliteratur als eine kreative Haltung, die Universalität und Menschlichkeit verkörpert (vgl. Lu 2019: 31–33), des Weiteren war er auch davon überzeugt, dass die Literatur anderer Nationen umfassend erkundet werden sollte und interkulturelle Freundschaften geschlossen werden mussten (vgl. Fang 2020: 23–25). Dadurch sollte ein literarisches Umfeld geschaffen werden, in dem die deutsche Literatur in anderen Literaturkreisen akzeptiert wird und gleichzeitig eine eigene Konstruktion und Identität gewinnt (vgl. Zhang 2020: 2). Goethes Konzept der Weltliteratur war von dem Wunsch motiviert, die Deutschen aus ihrem eigenen begrenzten Kulturkreis herauszuführen und ihren kulturellen Horizont zu erweitern (vgl. Eckermann 1999: 1199–1200). Die Umgestaltung und Überarbeitung vom Helena-Akt war seine unmittelbare Manifestation des Konzepts der Weltliteratur mit einer Weltperspektive in seinem eigenen literarischen Werk.

Goethes Überarbeitung und Konzeption des Helena-Aktes wurde nicht nur von der chinesischen Literatur, sondern auch von der Literatur anderer Länder der Welt angeregt. Fausts Reise durch Griechenland konzentriert sich nicht nur auf altgriechische kulturelle Errungenschaften, sondern präsentiert auch die Geschichte und Kultur Griechenlands vom Mittelalter bis in die erste Hälfte des modernen 19. Jahrhunderts. Der Helena-Akt spielt nicht nur in der literarischen Welt der griechischen Mythologie und der Epen Homers, sondern auch in demjenigen Griechenland, das sich im weltgeschichtlichen Bezugssystem befand und mit anderen Nationen interkulturellen Austausch hatte. Ein solches Griechenland beweist ebenfalls den umfangreichen Überblick des Schriftstellers über die Kulturen und die Literatur in aller Welt. So lässt Goethe die antike griechische mythologische Figur Lynceus die Schönheit von Helena in Form eines mittelalterlichen ritterlichen Minnesangs feiern. Diese vierzeilige, vierfüßige Gedichtform ist nicht nur europäisch-mittelalterlich geprägt, sondern enthält auch die erotische Ausprägung der alten persischen und arabischen Liebesdichtung (vgl. Goethe 2022: 379). Ein anderes Beispiel ist die Szene der ersten Begegnung zwischen Helena und Faust. Als Helena und Faust sich zum ersten Mal in der mittelalterlichen Burg trafen, flirteten die beiden mit gereimten Wortspielen und simulierten eine geistige und körperliche Vereinigung (ff. 9377–9384) (vgl. Goethe 2017: 365). Die gereimten Wortspiele, die ursprünglich aus der Tradition der persischen Poesie stammten, wurden von dem sassanidischen Kaiser Bahram und seiner Geliebten Diraram als eine Form der musikalischen Unterhaltung erfunden. Goethe wandte diese orientalische literarische Technik auf Helena und Faust an, indem er ihre Begegnung und ihr Werben in eine surreale und seltsame märchenhafte Atmosphäre versetzte, was durch die Lektüre von Tausendundeine Nacht im Jahr 1825 inspiriert wurde (vgl. Mommsen 2022: 380–381). Goethe verwendete in seinem Helena-Akt viele Motive und Metaphern aus den orientalischen Märchen und Liebesliedern, um Fausts Begehren nach Helena darzustellen und verlieh dem Helena-Akt eine ästhetische Komponente mit orientalischen Anklängen. Zusätzlich zu den beiden oben genannten Beispielen können in Helena und Fausts Sohn Euphorion die Charakterzüge und biografischen Andeutungen des englischen romantischen Dichters Byron erkannt werden. In dem Trauergesang vom Chor für Euphorion in der dritten Szene im dritten Akt von Faust II spielte Goethe auf Byrons Leben an, indem er Euphorions Aufstieg zum Himmel als Anspielung auf Byrons Streben nach Idealismus und seine Teilnahme am Griechisch-Türkischen Krieg abbildete sowie in der Episode von Euphorions Tod eine Anspielung auf Byrons Sterben an Fieber an der Front im Griechisch-Türkischen Krieg einbezog. Goethe beklagte in dem Trauergesang Euphorions, dass Byron in seinen frühen Jahren gestorben ist:

Ach! Zum Erdenglück geboren, / Hoher Ahnen, großer Kraft, / Leider! Früh dir selbst verloren, / Jugendblüte weggerafft. / Scharfer Blick die Welt zu schauen, / Mitsinn jedem Herzensdrang, / Liebesglut der besten Frauen / Und ein eigenster Gesang (Goethe 2017: 383–384).

Diese Beispiele zeigen, dass sich Goethes Interesse an Griechenland bei der Überarbeitung vom Helena-Akt um 1827 nicht auf die Welt der antiken griechischen Mythologie und Homers Epen beschränkte, sondern sich mit der historischen Entwicklung und den zeitgenössischen Problemen Griechenlands, seinem kulturellen Austausch mit anderen Ländern und Völkern der Welt sowie mit den literarischen Strömungen in anderen Ländern von der Antike bis zur Gegenwart befasste. Goethes Rekonstruktion im Helena-Akt um 1827 zeigt auch seine detaillierten Kenntnisse der Weltliteratur und seine Versuche, diese in sein eigenes literarisches Werk einzubeziehen.

Wird die zeitliche Abfolge von Goethes literarischer Tätigkeit im Jahr 1827 betrachtet, so wird deutlich, dass der Prozess des Schreibens und der Überarbeitung vom Helena-Akt, auf den er sich bis Februar 1827 konzentrierte, mit der Herausbildung von Goethes Idee der Weltliteratur verwoben ist. Am 12. Januar 1827 erwähnte Goethe in seinem Tagebuch, dass er letzte Überarbeitungen am Helena-Akt vorgenommen habe, am 25. Januar besprach er den Helena-Akt mit Eckermann und am 9. Februar notierte er in seinem Tagebuch, dass er Ergänzungen zum Helena-Akt hinzugefügt habe. Drei Monate später veröffentlichte Goethe in der Zeitschrift Über Kunst und Altertum einen kurzen Bericht über seine Arbeit am Helena-Akt (vgl. Eckermann 1999: 1199–1200). Der Januar 1827 war für Goethe auch eine wichtige Zeit, in der er ein breites Spektrum an Literatur aus der ganzen Welt las und über das Konzept der Weltliteratur nachdachte. In jenem Monat las Goethe Literatur aus aller Welt sowie Literaturkritiken, die sich auf die Literatur aller Länder bezogen. Er beschäftigte sich mit der Abhandlung Wars and Sports of the Mongols and Romans von dem britischen Gelehrten John Ranking (6. Januar), las die Gedichte von Victor Hugo (9. Januar), das Theaterstück Hamlet von William Shakespeare (14. Januar), las französische und englische Zeitungen (12. Januar) und widmete sich serbischen literarischen Texten (15. Januar). Außerdem lieh er sich die englische Übersetzung des chinesischen Romans Chinese Courtship aus der Weimarer Bibliothek aus (29. Januar), diskutierte mit Eckermann den chinesischen Roman Die angenehme Geschichte des Haoh Kjöh (‌《好逑传》) (31. Januar) und arbeitete an einem Gruppengedicht Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten (vgl. Wilhelm 2014: 183). Er sprach viermal den Begriff Weltliteratur an (vgl. Bollacher 2014: 308) und machte die wichtige Feststellung, dass das Zeitalter der Weltliteratur kommen wird (vgl. Eckermann 1978: 113). Goethe betrachtete zwar immer noch die antike griechische Kultur als Vorbild und hielt einen engen Kontakt mit ihr für notwendig, wenn die deutsche Literatur in der Weltliteratur ihren Platz einnehmen sollte (vgl. Wohlleben 1990: 197), doch sein wachsendes Interesse an der Literatur anderer Völker um 1827 minderte seine Begeisterung für die antike Kultur und führte dazu, dass er weniger geneigt war, sie als einziges Vorbild zu sehen, sondern eher bereit war, die Errungenschaften der Literatur vieler anderer Länder mit historischem Blick aufzunehmen und so viel Gutes wie möglich für seinen eigenen Gebrauch zu verwenden (vgl. Eckermann 1978: 113). Goethe untersuchte eine Vielzahl von Literaturen aus der ganzen Welt, interpretierte und reflektierte über sie und entwickelte eine konzeptionelle Idee der Weltliteratur. Dies ermöglichte es ihm, sich in seinen späteren Jahren erneut mit der griechischen Antike auseinanderzusetzen und die Welt der Mythologie und Literatur, die die Hälfte seines Lebenswerks ausgemacht hatte, erneut zu betrachten. Im Lichte einer umfassenderen Vision der Weltliteratur reduzierte Goethe in seiner Überarbeitung vom Helena-Akt die Individualität und die nationale Zugehörigkeit von Helena und machte sie zur Heldin einer zutiefst universellen ästhetischen Tragödie. Der Helena-Akt in Faust II ist somit ein Werk der Weltliteratur geworden, das die universelle Conditio humana verkörpert.

5 Fazit

Goethe hat sich Zeit seines Lebens mit den kulturellen Errungenschaften fremder Länder beschäftigt, von ihnen gelernt und sie in seinen eigenen literarischen Werken aufgenommen. Damit hat er den Stoff der deutschen Literatur bereichert und dazu beigetragen, die Identität der deutschen Literatur zu konstruieren. Das Zusammentreffen von Goethes Auseinandersetzung mit chinesischer Literatur in seinen späteren Jahren mit der Entstehung vom Helena-Akt ist ein Zufall im literarischen und kulturellen Austausch zwischen Deutschland und China, aber auch eine unvermeidliche Folge der Erweiterung von Goethes Blick und der Entwicklung seiner Vorstellungen von Weltliteratur in seinen späteren Jahren. Goethes Vorstellung der Weltliteratur ging über die klassische Perspektive hinaus und schöpfte aus den Quellen der Literatur vieler anderer Völker, um die deutschsprachige Literatur zu einer Weltliteratur zu gestalten, die nach universeller Wahrheit und Ewigkeit strebt sowie nach den Zeit und Raum übergreifenden Idealen und Paradigmen trachtet. Mit dieser umfassenden Perspektive erforschte Goethe die ästhetischen Konsequenzen der geistigen Verbindung zwischen dem Helena-Akt und der klassischen chinesischen Literatur und ließ den Helena-Akt mit Themen und literarischen Stilen aus anderen Nationalliteraturen der Welt zusammenwirken. Im Zuge der Überarbeitung des Helena-Aktes verlieh Goethe seinen Figuren eine Universalität und Menschlichkeit, die über Einzelschicksale und nationale Grenzen hinausgeht und formte den Helena-Akt in Faust II zu einem Werk der Weltliteratur, das die universelle Conditio humana verkörpert.


Article Note

Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen eines von dem National Social Science Fund of China geförderten Projekts namens „Italienreisen“ und Die Geistesverwandlung deutscher Schriftsteller (2022年度国家社科基金后期资助一般项目《“意大利之旅”与德意志作家精神气候的变迁》) (Projektnummer: 22FWWB004) entstanden.


About the author

Dr. Si Yuan

Dr. Si Yuan ist Dozentin an der Nankai-Universität in Tianjin, China. Sie hat in deutscher Literaturwissenschaft promoviert und ihre Forschungsschwerpunkte sind momentan die deutsche Literatur der Goethezeit und deutsch-chinesische Literatur- und Kulturbeziehungen.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Eckermann, Johann Peter. 1978. Gespräche mit Goethe (‌《歌德谈话录》). Übersetzt von Guangqian Zhu (‌朱光潜). Beijing: People’s Literature Publishing House (‌人民文学出版社).Search in Google Scholar

Eckermann, Johann Peter. 1999. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag.Search in Google Scholar

Goethe, Johann Wolfgang. 2017. Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Berlin: Deutscher Klassiker Verlag.Search in Google Scholar

Goethe, Johann Wolfgang. 2010. Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Herausgegeben von Erich Trunz. München: Verlag C. H. Beck.Search in Google Scholar

Goethe, Johann Wolfgang. 1987. Werke, Weimar Ausgabe. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Teil 3. Bd. 14. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.Search in Google Scholar

Goethe, Johann Wolfgang. 2022. Faust II (‌《浮士德 第二部》). Übersetzt und kommentiert von Yu Gu (‌谷裕). Beijing: The Commercial Press (‌商务印书馆).Search in Google Scholar

Thoms, Peter Perring (Ed.). 1824. Chinese Courtship. In Verse. To Which Is Added, an Appendix, Treating of the Revenue of China. London/Macau: East India Company’s Press.Search in Google Scholar

Sekundärliteratur:

Battafarano, Italo Michele. 1999. Die im Chaos blühenden Zitronen: Identität und Alterität in Goethes Italienischer Reise. Bern: Peter Lang Verlag.Search in Google Scholar

Bollacher, Martin. 2014. Goethes Vorstellung von der Weltliteratur (‌歌德的世界文学设想). In: Ye, Jun (‌叶隽) (Hrsg.): Ausgewählte Beiträge der Goethe-Forschung (‌《歌德研究文集》). Übersetzt von Jin Fan (‌范劲) und Shixun Li (‌李士勋). Nanjing: Yilin Publishing House (‌译林出版社). 292–312.Search in Google Scholar

Fang, Weigui (‌方维规). 2020. The Historical Semantics of Goethe’s Concept of World Literature: Rectification of a Wrong Understanding of Its Genesis (‌起源误识与拨正歌德“世界文学”概念的历史语义). In: Literature and Art Studies (‌《文艺研究》) 342(8). 22–37.Search in Google Scholar

Gu, Yu (‌谷裕). 2016. Interpretation der „klassische Walpurgisnacht“ in Faust: Eine Auseinandersetzung mit Goethe in seinen späteren Jahren und der griechischen Antike (‌《浮士德》“古典的瓦尔普吉斯之夜”解读兼论老年歌德与古希腊). In: Foreign Literature Review (‌《外国文学评论》) 117(1). 70–82.Search in Google Scholar

Höffgen, Thomas. 2022. Interpretation der beiden „Walpurgisnächte“ im Faust (‌《浮士德》中两场“瓦尔普吉斯之夜”解读》). Übersetzt von Yi Xu (‌徐旖). In: Gu, Yu (‌谷裕) (Hrsg.): Einführung in Goethes Faust (‌《<浮士德>发微》). Beijing: Huaxia Publishing House (‌华夏出版社). 204–276.Search in Google Scholar

Lu, Mingjun (‌卢铭君). 2019. Goethe and „Weltliteratur“ (‌歌德与“世界文学”). In: Comparative Literature in Chinese (‌《中国比较文学》) 116(3). 26–42.Search in Google Scholar

Mommsen, Katharina. 2022. Homunculus und Helena (‌荷蒙库勒斯与海伦). Überstzt von Yuzhong Chen (‌陈郁忠). In: Gu, Yu (‌谷裕) (Hrsg.): Einführung in Goethes Faust (‌《<浮士德>发微》). Beijing: Huaxia Publishing House (‌华夏出版社). 378–395.Search in Google Scholar

Goßens, Peter. 2011. Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler.10.1007/978-3-476-05315-2_4Search in Google Scholar

Reichel, Michael. 1994. Fernbeziehungen in der Ilias. Tübingen: Günter Narr Verlag.Search in Google Scholar

Schöne, Albrecht. 2022. Ausgaben und Auflagen vom Faust (‌《浮士德》的版本及其编本). Übersetzt von Yu Gu (‌谷裕). In: Gu, Yu (‌谷裕) (Hrsg.): Einführung in Goethes Faust (‌《<浮士德>发微》). Beijing: Huaxia Publishing House (‌华夏出版社). 1–91.Search in Google Scholar

Springsteed, Clara Belle. 2010. The Helena Myth in Goethe’s Faust and Its Symbolism. Whitefish: Kessinger Publishing LLC.Search in Google Scholar

Tan, Yuan (‌谭渊)/Detering, Heinrich. 2020. Goethe und die chinesischen Fräulein (‌《歌德与中国才女》). Wuhan: Wuhan University Press (‌武汉大学出版社).Search in Google Scholar

Wilhelm, Richard. 2014. Goethe und chinesische Kultur (‌歌德与中国文化). Übersetzt von Rui Jiang (‌蒋锐). In: Ye, Jun (‌叶隽) (Hrsg.): Ausgewählte Beiträge der Goethe-Forschung (‌《歌德研究文集》). Nanjing: Yilin Publishing House (‌译林出版社). 170–183.Search in Google Scholar

Wohlleben, Joachim. 1990. Homer in German Classicism: Goethe, Friedrich Schlegel, Hölderlin and Schelling. In: Illinois Classical Studies 15(1). 197–211.Search in Google Scholar

Ziegler, Konrat. 1919. Gedanken über Faust II. Stuttgart: UB Metzlersche Verlagsbuchhandlung.Search in Google Scholar

Zhang, Ke (‌张珂). 2020. Rethinking Goethe’s Ideas of National Literature and Differences of World Literature (‌论歌德的民族文学观及其世界文学观中的“差异性”). In: Journal of Yanshan University (Philosophy and Social Science Edition) (‌《燕山大学学报(哲学社会科学版)》) 21(1). 1–6.Search in Google Scholar

Published Online: 2023-06-27
Published in Print: 2023-11-01

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/ifdck-2022-0011/html
Scroll to top button