Home Ein Dorf als Ressource
Article Publicly Available

Ein Dorf als Ressource

Morschenich und der Strukturwandel im rheinischen Braunkohlerevier
  • Fabian Kröning and Philipp F. Huntscha
Published/Copyright: July 8, 2022
Become an author with De Gruyter Brill

Mit dem klimapolitisch motivierten Beschluss zum beschleunigten Ausstieg aus der Braunkohleverstromung stehen die bisher vom Abbau und der Verwertung des Rohstoffs geprägten Regionen in Deutschland – erneut – vor einem gewaltigen Transformationsprozess. Dies stellt auch die Denkmalpflege vor große Herausforderungen. Hatte die großräumige Erschließung unterirdischer Braunkohlevorkommen im Tagebau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch den tiefgreifenden Umbau historisch gewachsener Kulturlandschaften bedeutet und war dieser mit dem unwiederbringlichen Verlust zahlreicher, zum

1 Der südwestliche Teil des rheinischen Braunkohlereviers mit den Tagebauen Inden (links) und Hambach (rechts), die Ortslage Merzenich-Morschenich rot umkreist, 2021
1

Der südwestliche Teil des rheinischen Braunkohlereviers mit den Tagebauen Inden (links) und Hambach (rechts), die Ortslage Merzenich-Morschenich rot umkreist, 2021

Teil jahrhundertealter Baudenkmale und ganzer Ortschaften einhergegangen, so geht es heute auch um einen verantwortungsvollen Umgang mit den baulichen Zeugnissen der Braunkohleindustrie, die inzwischen längst selbst zu einem Gegenstand denkmalpflegerischer Betrachtung geworden sind. Den gesetzlich begründeten Auftrag zum Schutz, zur Pflege sowie zur sinnvollen Nutzung besonders prägender Objekte und Elemente dieses zwiespältigen und in Teilen widersprüchlichen Erbes der Kohlereviere gilt es wiederum in Einklang zu bringen mit den politisch weitreichenden Forderungen nach einer Transformation der Gesellschaft hin zu einer »nachhaltigen« und »ressourcenschonenden« Lebensweise.

Diese schwierige Aufgabe stellt sich auch für die an die Tagebaue Hambach, Inden und Garzweiler angrenzenden Städte und Gemeinden im rheinischen Braunkohlerevier (Abb. 1), das nach dem Willen der nordrhein-westfälischen Landesregierung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten »zu einer innovativen, klimagerechten und nachhaltigen Region«[1] entwickelt werden soll. Vor diesem Hintergrund verschieben sich derzeit im Tagebauvorland die Prioritäten hinsichtlich der verfügbaren Ressourcen: Weg von der Ressource Braunkohle, deren Nutzbarmachung sich bisher alles untergeordnet hatte, hin zu den noch erhaltenen naturräumlichen Ressourcen wie Wälder und Gewässer, aber auch zu den Menschen der Region und ihrem Wohn- und Lebensraum. Denn trotz der politischen Kursänderung im Großen ist aktuell immer noch für fünf Ortschaften am Westrand des Tagebaus Garzweiler offen, ob sie für den Braunkohletagebau abgebrochen werden müssen. Mittlerweile jedoch mehren sich die Rufe nach einem Erhalt der verbliebenen Dörfer, die längst auch in den Blickpunkt der Klimaschutzbewegung geraten sind.[2] Selbst der neue Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst (CDU), hat unlängst die Absicht erklärt, »so viele Dörfer wie möglich«[3] zu erhalten.

Definitiv nicht mehr abgebrochen werden muss Morschenich (Abb. 2), ein kleines Straßendorf, nur wenige Hundert Meter entfernt gelegen vom Tagebau Hambach und jenem gleichnamigen Wald, der als »Hambi« zum überregionalen Symbol der Klimaprotestbewegung der vergangenen Jahre avancierte und dabei deutschlandweit Bekanntheit erreicht hat. Noch zu Beginn des Jahres 2020 war die Lage eine andere: Nachdem die Bewohner*innen bereits 2015 weitgehend umgesiedelt waren, stand der Abbruch des Dorfes für den heranrückenden Tagebau unmittelbar bevor. Doch mit dem Beschluss zum Erhalt der letzten Reste des benachbarten Waldes hat sich auch für Morschenich das Blatt in buchstäblich letzter Sekunde noch einmal gewendet – der Ort muss dem Tagebau nicht weichen und kann bestehen bleiben. In der Leitentscheidung der Landesregierung zum rheinischen Braunkohlerevier vom 23. März 2021 nimmt er eine herausgehobene Stellung ein: Er soll als »Ort der Zukunft« eine »nachhaltige und innovative Nutzung« erfahren.[4]

2 Merzenich-Morschenich, Blick in Richtung Tagebau Hambach und gleichnamigen Forst, 2021
2

Merzenich-Morschenich, Blick in Richtung Tagebau Hambach und gleichnamigen Forst, 2021

Schon jetzt beschäftigt zahlreiche Akteur*innen aus Wissenschaft und Politik die Frage, wie Morschenich neu erfunden und aus dem Ort ein »Reallabor« des Strukturwandels mit Vorbildcharakter für das gesamte rheinische Revier gemacht werden kann. Vorangetrieben wird das ambitionierte Projekt vor allem vom Bürgermeister der zuständigen Gemeinde Merzenich, der auch die Planungshoheit über den Ort obliegt. Eine zweite gewichtige Akteurin der Erneuerung Morschenichs ist die RWE Power AG, bergbautreibender Energiekonzern und Eigentümerin der meisten Grundstücke im Ort. Gemäß Leitentscheidung soll der Konzern die Kommune aktiv dabei unterstützen, den Ort zu reaktivieren.[5] Noch ist offen, mit welchen I deen sich RWE in den Prozess einbringen wird. Was Morschenich für seine Zukunft bislang noch fehlt, sind vor allem neue Bewohner*innen – denn seit ihrer Umsiedlung steht der Ort weitgehend leer. Für viele der Alt-Morschenicher*innen wiederum ist es eine traumatische Erfahrung, sich der Zwecklosigkeit ihrer Umsiedlung und einer möglichen Wiederbelebung der alten Heimat durch Dritte bewusst zu werden. Neben der Forderung nach einer Rückkaufoption wird dabei vereinzelt auch der Wunsch nach einem Schlussstrich unter dem schmerzhaften Umsiedlungsprozess durch einen Totalabriss laut.

Dass sich innerhalb dieser komplexen Gemengelage auch das LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland (LVR-ADR) engagiert und sich vor gut einem Jahr initiativ in den Prozess der Zukunftswerdung des Ortes eingebracht hat, bedarf einer gewissen Erklärung. Formal agiert das LVR-ADR hierbei in seiner gesetzlich begründeten Funktion als Beraterin der Gemeinde im Rahmen einer frühzeitigen Beteiligung an den Planungen zur Ortserneuerung. Inhaltlich aber geht sein Engagement an dieser Stelle über den klassischen Auftrag der Denkmalpflege hinaus: Im Fokus stehen nicht allein die (wenigen) eingetragenen Baudenkmale des Ortes, sondern sein bauliches Erbe als Ganzes sowie die Frage, welche Rolle dieses im »Ort der Zukunft« spielen kann. Wie lässt sich der historische Bestand erhalten und an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts anpassen? Und worin besteht eigentlich sein spezifischer Wert für das gesellschaftspolitische Ziel einer nachhaltigen Lebensweise? Gerade die Denkmalpflege mit der ihr ureigenen Expertise in Sachen Inwertsetzung und Werterhalt und ihrer Erfahrung auf den Gebieten des Bauens im Bestand, der Reparatur, der Um- und Weiternutzung kann einen substanziellen Beitrag dazu leisten. Zudem bietet sich für die Denkmalpflege hier die Gelegenheit, bei dem derzeit vielleicht drängendsten politischen Metathema konstruktiv und öffentlichkeitswirksam in Erscheinung zu treten.

Unter dem programmatischen Titel »Zurück in die Zukunft« hat das LVR-ADR in einem ersten Schritt eine umfängliche denkmalpflegerische Analyse des Ortes erarbeitet.[6] Neben einer denkmalfachlichen Bewertung des Baubestands im Einzelnen[7] ging es vor allem darum, die übergeordneten Strukturen und Typologien im historischen Ortsbild offenzulegen – vom Wegenetz und der Parzellenstruktur über die ortstypischen Haus- und Hofformen, die sozialen Funktionen des Dorfraums bis hin zu den vielfältigen Bezügen zwischen Siedlungsraum und umgebender Kulturlandschaft. Die Studie wirbt für ihren Erhalt und legt zugleich den Grund für ihre behutsame Anpassung und Weiterentwicklung im Rahmen der Erneuerung von Morschenich als einem »Ort der Zukunft«. Darüber hinaus versteht das LVR-ADR die Analyse als ein Pilotprojekt, mit dem exemplarisch aufgezeigt werden soll, ob und wie man auf der Grundlage denkmalpflegerischer Erfassung und Erfahrung zur Revitalisierung ländlicher Orte im Allgemeinen beitragen kann.

Die Vereinbarkeit dieser erweiterten denkmalpflegerischen Zielsetzung mit dem politischen Ziel einer »nachhaltigen« Ortserneuerung ist zunächst eine Frage der Vermittlung. Denn dass mit dem Fortbestand des Dorfes und seiner überlieferten Bausubstanz auch die darin gebundene graue Energie erhalten bleibt und denkmalpflegerisches Handeln damit per se nachhaltig ist, ist zwar in der Fachwelt allgemein bekannt – in der Praxis jedoch muss für diese Sichtweise immer wieder aufs Neue geworben werden. Ressourcenschonend ist auch die Verwendung lang erprobter regionaler Materialien – vor allem Backstein, Holz oder Lehm –, die in einem Großteil der Objekte vor Ort verbaut sind. Ihr Lebenszyklus ließe sich durch Weiternutzung und Reparatur verlängern, ohne dass große Summen an Herstellungs- und Entsorgungskosten entstünden.

3 Merzenich-Morschenich, Oberstraße, ortstypische Bebauungsstruktur (farbig hervorgehoben), auf der Basis eines Fotos von 1957
3

Merzenich-Morschenich, Oberstraße, ortstypische Bebauungsstruktur (farbig hervorgehoben), auf der Basis eines Fotos von 1957

Vor allem aber versteht sich die Denkmalpflege als Anwältin einer historisch zu begründenden kulturellen Nachhaltigkeit: Die vor Ort erhaltenen Bauwerke geben Auskunft über die Geschichte des Dorfes, seiner Bewohner*innen und der Region, sie sind begehbare und begreifbare Speicher eines historischen Wissens, die sich als eine Ressource im kulturellen Sinne verstehen lassen. Auf den Wert dieser Ressource aufmerksam zu machen und das ihr inhärente Wissen und Nutzungspotenzial für den »Ort der Zukunft« zugänglich zu machen, ist eine Aufgabe, zu der gerade die Denkmalpflege in besonderer Weise befähigt ist.

Dass Morschenichs bauliche Substanz schon von jeher zukunftsfähig war, zeigt sich etwa an den ortstypisch kleinteiligen Haus- und Hofformen des 19. Jahrhunderts, die sich bereits in der Vergangenheit als flexibel zu nutzende und zu erweiternde Strukturen bewährt haben (Abb. 3). Insbesondere die rückwärtige Hofbebauung erfuhr im Laufe der Jahre einen stetigen Weiter-, Um- oder Rückbau und passte sich so den sich wandelnden Bedürfnissen ihrer Bewohnerschaft an: Ehemals landwirtschaftlich genutzte Gebäude wurden zu Wohn- oder Gewerbezwecken umgebaut, Nutzgärten wiederum zu privaten Wohngärten umfunktioniert. Warum sollten sich diese Strukturen nicht auch weiterhin bewähren und kommende Herausforderungen meistern, etwa den Wandel hin zu einer wieder stärkeren Verbindung von Wohnen und Arbeiten, wie er sich im Zuge der Corona-Pandemie derzeit verstärkt abzeichnet? Hier werden exempla risch ganz allgemeine Fragen des Lebens im ländlichen Raum berührt.

4 Merzenich-Morschenich, Unterstraße 56–68, Typenwohnhäuser der 1950er Jahre für Angestellte in der Braunkohleindustrie, 2021
4

Merzenich-Morschenich, Unterstraße 56–68, Typenwohnhäuser der 1950er Jahre für Angestellte in der Braunkohleindustrie, 2021

Für einen Erhalt und eine behutsame Weiterentwicklung des Ortes spricht nicht zuletzt die Geschichte des Ortes selbst. Sie steht beispielhaft für viele Dörfer im Rheinischen Revier und ihr gebrochenes, durch den Braunkohlebergbau geprägtes Erbe – und eignet sich genau deshalb als Identifikationsangebot für die erneut im Umbruch befindliche Region.

Nirgendwo wird dies deutlicher als am nördlichen, heute dem Tagebau zugewandten Ausgang des Dorfes. Dort entstanden um 1950 sieben Typenwohnhäuser für Bergarbeiter (Abb. 4), die als letzte Zeugen von einem fast vergessenen Kapitel in der Geschichte des rheinischen Braunkohlenbergbaus erzählen: von der experimentellen Förderung des Rohstoffs unter Tage. Noch während des Zweiten Weltkriegs hatte die »Rheinische Braunkohlentiefbaugesellschaft mbH« – Vorgängerin der heutigen RWE – mit dem Bau einer Schachtanlage in dem historischen Waldgebiet nördlich von Morschenich begonnen (Abb. 5). Mit dem Bau der Siedlungshäuser für die wachsende Belegschaft des Bergwerks wuchs im Ort zugleich die Hoffnung auf einen Entwicklungssprung vom bäuerlich geprägten Dorf zu einem steuerstarken Industriestandort. Mit der obertägigen Erschließung der Braunkohle in den 1970er Jahren änderte sich die Perspektive für den Ort dann allerdings schlagartig. Längst hatte sich die technisch aufwendige Förderung unter Tage als unrentabel erwiesen, die Versuchsschachtanlage war bereits 1955 eingestellt worden. Nun fand sich der Ort auf einmal im geplanten Abbaugebiet des Tagebaus wieder. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade in der Aussicht des eigenen Verschwindens der Grund dafür auszumachen ist, dass sich die vorindustrielle Struktur des Dorfes bis heute überdurchschnittlich gut erhalten hat: Zur selben Zeit, als viele andere Dörfer im Rheinland ihren ländlichen Charakter durch den Bau raumgreifender Einfamilienhaussiedlungen zusehends verloren, kam in Morschenich diese bauliche Entwicklung zum Erliegen.

5 Merzenich-Morschenich, Fördergerüst der zweiten Schachtanlage des Braunkohletiefbauwerks »Union 103«, 1953
5

Merzenich-Morschenich, Fördergerüst der zweiten Schachtanlage des Braunkohletiefbauwerks »Union 103«, 1953

Heute besteht die Chance, sich der Geschichte des Ortes und seiner brachliegenden Ressourcen erneut anzunehmen, sie sich in einem nachhaltigen Sinne zu eigen zu machen und damit einer neuen Zukunft zuzuführen. Mit der Analyse des LVR-ADR ist eine erste Grundlage geschaffen, die sich nicht allein an die planende Gemeinde Merzenich richtet, sondern an alle im Umfeld der Erneuerung von Morschenich beteiligten Akteur*innen. Maßgeblich durch das Engagement des Bürgermeisters der Gemeinde Merzenich motiviert, beginnt die Auseinandersetzung mit dem Ort aktuell aus verschiedenen Perspektiven: etwa durch Studierende der Fachhochschule Aachen, die im regelmäßigen Austausch mit dem LVR-ADR verschiedene städtebauliche Szenarien für den »Ort der Zukunft« ausloten; parallel dazu bespielt die Gemeinde temporär wieder einzelne Gebäude im Ort, wie den ehemaligen Kindergarten oder die Dorfkirche St. Lambertus. In jedem Fall hat der frühzeitige und öffentlichkeitswirk same Einstieg der Denkmalpflege in den Prozess der Ortserneuerung schon jetzt dazu geführt, dass künftig niemand mehr den »Ort der Zukunft« ohne seine Vergangenheit denken kann. Vor allem der Bürgermeister hat sich diese Losung auf die Fahnen geschrieben und tritt inzwischen grundsätzlich für eine Planung mit dem Bestand ein.

6 Erkelenz-Keyenberg (am Tagebau Garzweiler), Borschemicher Straße, Blick in Richtung der Kirche Heilig Kreuz, 2014
6

Erkelenz-Keyenberg (am Tagebau Garzweiler), Borschemicher Straße, Blick in Richtung der Kirche Heilig Kreuz, 2014

Gleichwohl ist die Zukunft von Morschenich noch längst nicht ausgemacht. Für die Denkmalpf lege liegt die besondere Herausforderung – und zugleich Chance – in der Beteiligung an einem längerfristigen Findungsprozess, in dem am Beispiel eines Dorfes das derzeit gesamtgesellschaftlich virulente Thema Nachhaltigkeit in seinen verschiedenen Facetten verhandelt wird. Wird dieser Weg weiterhin erfolgreich beschritten, so kann er ein Modell auch für die übrigen noch vom Tagebau bedrohten Dörfer im Rheinischen Braunkohlerevier sein (Abb. 6). Über ihr Schicksal soll bis Ende 2026 entschieden werden.[8]

  1. Abbildungsnachweis

    1: Geobasis NRW, 2021— 2: LVR-ADR, Anna Graff — 3: Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Merzenich e. V., Bearbeitung: LVRADR, Anna Graff — 4: LVR-ADR, Hans Brauer — 5: Historisches Konzernarchiv der RWE AG — 6: LVR-ADR, Silvia Margrit Wolf

Published Online: 2022-07-08
Published in Print: 2022-05-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany

Downloaded on 23.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/dkp-2022-1007/html
Scroll to top button