Home Johannes Frimmel: Das Geschäft mit der Unzucht. Die Verlage und der Kampf gegen Pornographie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. (Buchwissenschaftliche Beiträge; Band 99). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag. VIII, 366 Seiten: 18 Abbildungen, fest gebunden. ISSN 0724-7001; ISBN 978-3-447-11269-7. 78,– €
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Johannes Frimmel: Das Geschäft mit der Unzucht. Die Verlage und der Kampf gegen Pornographie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. (Buchwissenschaftliche Beiträge; Band 99). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag. VIII, 366 Seiten: 18 Abbildungen, fest gebunden. ISSN 0724-7001; ISBN 978-3-447-11269-7. 78,– €

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Published/Copyright: August 14, 2020

Rezensierte Publikation:

Johannes Frimmel: Das Geschäft mit der Unzucht. Die Verlage und der Kampf gegen Pornographie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. (Buchwissenschaftliche Beiträge; Band 99). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag; Band 99). VIII, 366 Seiten: 18 Abbildungen, fest gebunden. ISSN 0724-7001; ISBN 978-3-447-11269-7. 78,- €


Die Rezension des von Johannes Frimmel, Christine Haug und Helga Meise herausgegebenen Sammelbandes „in Wollust betäubt“ – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert bot die Gelegenheit, auf die Germanistik an der Ludwig-Maximilian-Universität München und das Center für Advanced Studies (CAS) als ein Forschungszentrum für erotisch-pornografische Lesestoffe hinzuweisen.[1] Johannes Frimmel, der 2015/2016 Mitarbeiter der Forschungsgruppe am CAS war, ist auch der Verfasser der vorliegenden Monografie, die als Habilitationsschrift entstanden und nunmehr in leicht überarbeiteter Form erschienen ist. Wenn sie auch schwerpunktmäßig auf die Distribution dieser Literatur fokusiert ist, schließt sie zumindest chronologisch an den erwähnten Sammelband an. Hatte der Rezensent seinerzeit die Erwartung gehegt, dass die bisher vorliegenden Arbeiten neue Forschungsperspektiven eröffnen würden, war dies gewissermaßen eine „self-fulfilling prophecy“.

Frimmel setzt bei der Entstehung eines Massenbuchmarktes im 19. Jahrhundert an. Erst damals verband man die Klassifizierung obszöner Literatur mit der politischen Zielsetzung, sie zu unterdrücken, zu reglementieren und justiziabel zu machen. Parallel entwickelte sich der Handel zu einem gesamteuropäischen Markt. Die Debatte um die Pornografie kulminierte in den Jahrzehnten um 1900. Nach diesen ersten einleitenden Feststellungen erläutert Frimmel seinen methodischen Ansatz, beschreibt den Forschungsstand und die Quellenlage. Als Ziel seiner Arbeit nennt er: Sie strebt „erstmals einen umfassenden Überblick über die Geschichte der erotisch-pornographischen Lesestoffe im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik an“ und will „Charakteristika und Wandlungen des speziellen Marktsegments“ nachzeichnen. Sie soll zugleich ein „Beitrag zu eine noch ausstehenden modernen Bibliographie der deutschsprachigen erotischen Literatur leisten“.

Vier der insgesamt zehn Kapitel bzw. Abschnitte behandeln die zentralen Punkte: den Pornographie-Diskurs (II.), die Verlage im Überblick (III.), die Verlagsprodukte (IV.) und den Vertrieb (V.). Der Höhepunkt des Schmutzkampfes um 1900 wurde bereits angesprochen. In II. werden nun auch die rechtlichen und polizeilichen Voraussetzungen für die Bekämpfung beschrieben. An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass zu den Vorzügen des Buches zählt, dass der Text durch zahlreiche Quellenzitate angereichert wird, wie zum Beispiel eine nationalistische, insbesondere antifranzösische Sottise belegt, die heutzutage leider an die Expektorationen gewisser Politiker erinnert: „Ueberlassen wir doch die Bezeichnung der Herrenabenddichter und der Zotensängerinnen als >Künstler< unseren westlichen Nachbarn, überlassen wir ihnen das Feiern rückenmarkskranker Decadence! Denken wir lieber an unser Deutschthum und an das was ihm immer eigenthümlich war: herbe Reinheit und ernste Strenge“ (S. 47). In III. wird hinsichtlich der Verbote auch für führende deutschsprachige Verlage auf den sogenannten Polunbi-Katalog als wichtige Quelle eingegangen. Es handelt sich um das Verzeichnis der auf Grund des § 184 des Reichsstrafgesetzbuchs eingezogenen und unbrauchbar zu machenden sowie der als unzüchtig verdächtigen Schriften. Es wurde erstmals 1926 öffentlich gemacht. Im Anhang (IX.) findet sich eine Liste der im Katalog verzeichneten Verlage. Nach einem Überblick über die Anzahl der Verbote im Deutschen Reich wird auch der internationale Markt mit Brüssel und Amsterdam, London und Paris, Wien, Preßburg, Budapest sowie Prag als Zentren untersucht.

Mit 144 Seiten ist das Kapitel IV das mit Abstand umfangreichste. Es ist untergliedert in Massenprodukte (1), Privatdrucke und bibliophile Drucke (2) sowie Sachbuch und Ratgeber (3). An erster Stelle der Massenprodukte stehen die Romane, getoppt von den „Schweinischen Bücheln“, die, um mit einem konkreten Beispiel zu dienen, mit Werbetexten wie dem folgenden angekündigt werden: „Hochpikantes und hocherotisches Werk, welches auch der verwöhnteste Leser hochbefriedigt aus der Hand legen wird. Jede Zeile ist durchhaucht von innerstem Wollustschauer“. Nicht immer entspricht bei solchen Ankündigungen der Inhalt den Erwartungen. Teilweise imaginieren die Texte ein „pornographisches Utopia“, dem Frimmel unter der Überschrift „Pornotopia“ einen eigenen Abschnitt widmet. Zu den Massenprodukten werden neben den Romanen Hefte und Kolportageliteratur, Lieferungswerke und Broschüren sowie Fotografien gezählt. Was die Fotografien anbelangt reicht der Bogen von Bildern bis zu Abbildungen in Zeitschriften, Witzblättern, Magazinen und speziellen Nacktkulturzeitschriften.

Unter (2) beschäftigt sich Frimmel mit den Privat- und bibliophilen Drucken, vor allem mit den bibliophilen Erotica der Weimarer Republik. Gerade dieser Bereich ist interessant, weil hier der Vorwurf der Unzüchtigkeit mit dem Kunstvorbehalt kollidiert. Billige Ware obskurer Unternehmen findet sich neben künstlerisch anspruchsvollen Erzeugnissen des Insel Verlages oder des Verlages von Julius Zeitler, Drucke von Drugulin mit Zeichnungen von Gustav Klimt und mit von den Wiener Werkstätten gestaltetem Einband. Selbst solche Publikationen waren vor Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Prozessen nicht sicher. Es waren aber nicht immer nur die Behörden, die wegen Unzuchtsverdachtes tätig wurden. Schon 1906 griff das Börsenblatt das verlegerische Prinzip des „erotischen Privatdrucks“ an.

Der Komplex Sachbuch und Ratgeber (3) geht insbesondere auf die Sexualratgeber ein. Von der Ratgeberliteratur, die als Gattung ihre Wurzeln in der Volksaufklärung des 18. Jahrhunderts hat und damals noch nicht in erster Linie sexuell motiviert war, erhofft sich die buchwissenschaftliche Forschung Aufschluss über die Alltagskultur. „Nachdem für die Geschichte des Ratgebers und insbesondere des Sexualratgebers bisher größere Überblicksdarstellungen und bibliographische Vorarbeiten fehlen“ (S. 200), behandelt Frimmel exemplarisch einige herausragenden Beispiele ausführlicher. Auch bei diesen Publikationen bestand stets die Gefahr einer Indizierung, selbst wenn sich in einzelnen Fällen selbst Ärzte für eine Freigabe aussprachen.

Ein verhältnismäßig kurzes Kapitel (V.) ist dem Vertrieb gewidmet. In vier Unterabschnitten werden Kolportage (1), Versand (2), stationäre Verkaufs- und Verleihorte (darunter auch die kommerziellen Leihbibliotheken) (3) sowie der Kampf gegen „anstößige Auslagen“ (4) angesprochen. Gerade bei Nacktdarstellungen zu Werbezwecken weist Frimmel noch einmal auf die „Ambivalenz der gesellschaftlichen Entwicklung in der Weimarer Republik zwischen Liberalisierung und Repression“ hin: Anfang der 1920er-Jahre stufte die Justiz die Darstellung von Nacktheit nicht mehr generell als unzüchtig ein, verstärkte aber wieder ab Anfang der 1930er-Jahre die repressiven Maßnahmen. Nicht ohne Schmunzeln liest man von der Polizeiverordnung vom 28. September 1932, dem viel verspotteten „Zwickelerlass“, demzufolge Badehosen und Badeanzüge mit „angeschnittenen Beinen und einem Zwickel“ zu versehen waren (S. 262). Man sieht, es fällt nicht immer leicht, ein streng wissenschaftliches Werk wie Frimmels Untersuchung mit einem dem Historiker anstehenden sittlichen Ernst zu lesen!

Resümee und Ausblick (VI.) heben noch einmal die zentralen Punkte der Untersuchung hervor. Erotisch-pornografische Lesestoffe und Abbildungen waren gewissermaßen janusköpfig: auf Seiten der Leser ein Markenbegriff, seitens des Staates und der Sittlichkeitsvereine eine Bedrohung von Moral und Sitte. Bei den Produkten sind Konjunkturwellen einzelner Medien vom Heftroman bis zur Fotografie zu beobachten. Der Breite der Produktpalette entspricht die Typologie der Verleger und Händler. Nicht weniger differenziert war auch der Verfolgungsapparat mit Kontrollen, polizeilichen und gerichtlichen Maßnahmen, wofür im Kaiserreich prototypisch die Lex Heinze steht. In der Weimarer Republik zeichnete sich ein mentalitäts- und mediengeschichtlicher Wandel ab. Das NS-Regime gab neue ideologische Richtlinien vor, doch die Einstellung der Nationalsozialisten blieb ambivalent: Sie reichte von der Verleumdung insbesondere der Juden als Sittlichkeitsverbrecher bis zur Billigung der Promiskuität aus Gründen der Arterhaltung und Germanen-Aufzucht, wie Frimmel treffend formuliert. Gerade hier eröffnet sich noch ein weites Feld für detailliertere Untersuchungen.

Auf das eigentliche Textkorpus folgt eine Anzahl von Addenda: Zunächst ein Abbildungsteil, zumeist mit der Wiedergabe aufreißerischer Titelblätter, dann ein 16 Seiten umfassendes Verzeichnis der Quellen, der Literatur und der Archivalien. Die Liste der Verlage im Polunbi-Katalog wertet die Daten der Ausgaben bzw. Ergänzungen von 1926 bis 1936 aus. Zuletzt findet sich ein Namensregister.

Das Ziel, erstmals einen Überblick über die Geschichte der erotisch-pornografischen Lesestoffe im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu erarbeiten, hat der Autor nicht nur erreicht, sondern übertroffen. Die Ergebnisse seiner Recherchen, ihre Analyse und Interpretation gehen ebenso in die Breite wie in die Tiefe. Die Methodik hat Frimmel vorgegeben, es ist an der Forschung, das vorgelegte Material zu erweitern und mit weiteren Erkenntnissen anzureichern.

Online erschienen: 2020-08-14
Erschienen im Druck: 2020-07-29

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  34. Annelen Ottermann: Die Mainzer Karmelitenbibliothek: Spurensuche – Spurensicherung – Spurendeutung. 2., überarb. Aufl. Berlin: Logos, 2018. 1020 S. (Berliner Arbeiten zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft: Band 27). Auch als E-Book: https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=5520804
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