Abstract
Am 1. Februar 2019 feierte die ZBW - Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft ihren 100. Geburtstag und blickte zurück auf einhundert Jahre Bibliothekshistorie. 1919 gestartet als kleine Institutsbibliothek mit acht Angestellten als Abteilung des Instituts für Weltwirtschaft, ist die ZBW heute eine selbstständige Stiftung des öffentlichen Rechts und Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft mit rund 300 Beschäftigten, einer Forschungsabteilung und Kooperationspartnern aus aller Welt.
Abstract
On 1 February 2019, the ZBW - Leibniz-Information Centre for Economics celebrated its hundred-year anniversary looking back on one-hundred years of library history, too. Starting off in 1919 as small-size departmental library with eight employees as part of the Institute for Global Economy, the ZBW is now an independent foundation under public law and member of the Leibniz Association, with some 300 employees, its own research division and cooperation partners from around the globe.
Die Anfänge der nutzerorientierten wirtschaftswissenschaftlichen Spezialbibliothek
Die Geschichte der ZBW war zunächst königlich. Die Bibliothek war wesentlicher Bestandteil des 1914 gegründeten Königlichen Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Stellte in den Anfangsjahren noch jeder Forscher - es waren nur Männer - seine Bücher und Berichte in sein eigenes Büro oder in den Flur, war dies dem Institutsgründer Bernhard Harms schnell zu unprofessionell. 1919 wurde deshalb die Bibliothek als eine eigenständige Abteilung des Kieler Weltwirtschaftsinstituts gegründet. Der Ökonom Eugen Böhler nahm als erster Bibliotheksleiter am 1. Februar 1919 die Arbeit auf. Das war die Geburtsstunde der ZBW.
1920 zog das Wirtschaftsforschungsinstitut vom Schlossgarten ins Gebäude der sogenannten Seebadeanstalt, einem ehemaligen Hotel, ans Ufer der Kieler Förde. Dort fand die Bibliothek nach umfänglichen Umbauarbeiten genügend Platz. Es gab erstmals ein Magazin zur Lagerung der mittlerweile 35.000 Bände sowie einen großen Arbeitssaal, einen kleineren Lesesaal, eine Bücherausgabe, einen Zeitschriftenraum sowie ein ausgefeiltes Telefon- und Rohrpostsystem.
1924 trat Dr. Wilhelm Gülich an die Spitze - ein Ökonom, unter Bernhard Harms promoviert, der die Bibliothek maßgeblich voranbrachte.[1] Mit Gülich führte ein Mann die Bibliothek, für den die Bibliotheksleitung nicht eine Station auf dem beruflichen Weg war, sondern sein Lebenswerk. Es lohnt sich, die schillernde Figur, die die Bibliothek fast 40 Jahre lang prägte, näher anzuschauen: Fast hätte die ZBW ohne ihn auskommen müssen: 1927 war er bei Vergabe der Leitung der Bibliothek des Völkerbundes in Genf mit tatkräftiger Unterstützung Bernhard Harms’ in die engere Wahl gekommen, hatte die Stelle aber letztlich nicht erhalten.
Stattdessen schuf er in Kiel ein neues differenziertes Katalogsystem, das an den Fragestellungen sozialwissenschaftlicher Forschung ausgerichtet war - Gülich selbst nannte sie „Lebensbereiche“ - und das in die Geschichte des Bibliothekswesens als „Gülichsches System“ einging. Mehrere Dienstreisen, unter anderem führte ihn eine nach New York, gaben Inspirationen dazu.[2]
Das Katalogsystem basierte auf fünf Teilkatalogen - einem Sach-, Personen, Körperschaften-, Regionen- und Titelkatalog. Das System verknüpfte formale und inhaltlich erschließende Elemente, was der Nutzungsfreundlichkeit sehr entgegenkam. Farbige Katalogkarten erlauben in der Nutzung das schnelle Erkennen der Publikationsart.
Herzstück war der Sachkatalog, alphabetisch geordnet, wo aber sachlich zusammengehörende Begriffe unter einem Oberbegriff zu Themenkomplexen vereint werden mit Unterbegriffen, die wiederum in einem neuen Komplex einen eigenen Oberbegriff darstellen. Definitionen, abgrenzende Merkmale, Hinweise auf verwandte Begriffe usw. erleichtern die Einordnung.
Er hatte somit das Thesaurusprinzip als eine systematisch geordnete Sammlung von Begriffen, die in thematischer Beziehung zueinander stehen, verinnerlicht und umgesetzt, ohne dass dieser Begriff schon existiert hätte.[3]
Für Gülich war die „Usability“ seines Katalogs entscheidend:
„Die Ordnung einer Bibliothek - dies gilt für alle Kataloge, vornehmlich für den Sachkatalog - muß jedoch so einfach sein, daß die Benutzung ohne bibliothekarische Vorkenntnisse und ohne individuelle Beratung möglich ist. Wo auch der Fragende seine Fragestellung ansetzen mag, die Kataloge haben die Aufgabe, ihn zur richtigen Antwort hinzuführen.“[4]
Gülich war seit 1949 Abgeordneter des deutschen Bundestages und baute in den 1950er Jahren die dortige Bibliothek mit auf. In der Folge nutzte auch der Deutsche Bundestag das bewährte Katalogsystem.
Aber zurück zu den Anfängen seiner Amtszeit: Um wirtschaftswissenschaftliche Expertise ins Haus zu holen, ermutigte Gülich seine Mitarbeiterinnen, von denen in den 1920er Jahren noch keine eine Hochschulausbildung hatte, sich im Berufsalltag zu qualifizieren und stellte wissenschaftlich geschultes Personal ein.
Als Paradebeispiel mag die Mitarbeiterin der ersten Stunde Hedwig Lund[5] dienen: Als Sekretärin aus dem Institut für Weltwirtschaft war sie 1919 in die Bibliothek eingetreten und nahm schnell Aufgaben wahr, für die sie auf dem Papier nicht qualifiziert war. In den ersten Jahren war sie überwiegend am Katalogausbau beteiligt und im Benutzerdienst tätig. In Zeiten längerer Abwesenheit Gülichs oblag ihr in den 1930er Jahren die Verantwortung für die gesamte Verwaltung, was auch die Überwachung des Etats einschloss. Später übernahm sie klassische Fachreferatsaufgaben für Skandinavien. Diese moderne Form der Personalentwicklung machte Gülich zum Vorgesetzten einer außerordentlich loyalen Mitarbeiterschaft, die teilweise über ihre Pensionierung hinaus weiter Bibliotheksaufgaben verrichteten. Gülich würdigte das in den 1950er Jahren mit dem intensiven Bemühen, seinen Dezernentinnen und Dezernenten Beamtenstellen zu verschaffen, um ihre finanzielle Situation und vor allem ihre Altersversorgung zu sichern. Ein Versuch, der allerdings scheiterte.
Die Bibliothek als Akteurin unter sich wandelnden politischen Rahmenbedingungen
Die Weltwirtschaftskrise 1929 begrenzte den Spielraum, den Gülich für den Bestandsaufbau hatte: Erhebliche Etatkürzungen ließen die Anzahl neu erworbener Monografien einbrechen. In der Folge wurden gezielt Drittmittel zum Beispiel aus Stiftungen und Schenkungen eingeworben und Tauschbeziehungen forciert. 1931/32 wurden nur noch 13 % der Neuzugänge mit den Mitteln aus dem eigenen Haushalt erworben.

Besprechung der wissenschaftlichen Dezernentinnen und Dezernenten im Büro von Dr. Wilhelm Gülich. © ZBW.
Mit der Machtübernahme des NS-Regimes 1933 waren auch die goldenen Jahre der akademischen Freiheit vorbei. Der liberale Institutsgründer Harms, der dem Bibliotheksleiter Gülich stets Rückendeckung gegeben hatte, zog sich von der Institutsleitung zurück. Unter der Leitung von Andreas Predöhl war in den Folgejahren „Anpassung an die herrschenden Verhältnisse“ das Motto. Das Institut für Weltwirtschaft übernahm Forschungsarbeiten im Auftrag der Wehrmacht und erstellte während des 2. Weltkriegs rund 2.000 geheime Gutachten und Ländermappen. Die Bibliothek erhielt umfangreiche Sonderrechte. Bücherverbrennungen und Plünderungen blieben an der Kiellinie aus. Der Zugang zur Literatur wurde jedoch streng kontrolliert und unerwünschte Bücher waren nur noch für Forschende mit Erlaubniskarte einsehbar. Verbotene Bücher bekamen rote Aufkleber, geheime Schriften grüne. Es ist fraglich, welche Forscher insbesondere während des Zweiten Weltkriegs die Genehmigung zur Einsicht sämtlicher eingehender Materialien aus „verbündetem, neutralem und feindlichem Ausland“ bekamen außer der Rüstungswirtschaftlichen Abteilung am Institut für Weltwirtschaft, die für das Oberkommando der Wehrmacht und das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt Daten zusammentrug.
Am augenfälligsten wird die kriegswichtige Bedeutung der Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft, mithin der Einfluss der Regierungsinteressen, bei der Bestandsentwicklung der Kartensammlung. Zu Beginn des Krieges nahm die Anschaffung von Karten exponentiell zu. Während innerhalb von 14 Jahren im Zeitraum 1925-1939 lediglich 505 Karten angeschafft wurden, waren es allein im Geschäftsjahr 1939/40 145 Karten und 286 Karten im Abrechnungsjahr 1940/1941.
Gülichs Dienstreisen 1940 und 1941 in die besetzten Nachbarländer Holland und Belgien waren Teil der Zusammenarbeit des Instituts mit Regierungsstellen und Militär und im Hinblick auf den Reisezweck sehr erfolgreich: Der „Zweck der Reise“, so Gülich freimütig in einem vertraulichen Reisebericht, war die „Beschaffung von Literatur und Materialien für das Institut für Weltwirtschaft und das Oberkommando der Wehrmacht“, um die Bibliotheksbestände „zu den durch den Kriegsverlauf neu aufgeworfenen Problemen“ zu ergänzen und im Bestand fehlende Materialien zu ersetzen, „die durch den Abbruch der Beziehungen im Kriege entstanden sind“.
767 Bücher, 249 Karten, sowie 284 Jahrbücher und Zeitschriften sind nach dieser Reise in den Zugangsbüchern verzeichnet und waren bereits im August 1940 eingearbeitet.
Der Zuwachs des Bibliotheksbestandes und die Lückenergänzung fußte darüber hinaus zu einem Großteil auf Lieferungen der Reichstauschstelle, die während der Zeit des Nationalsozialismus für den Schriftentausch zuständig war und Bücher oder auch ganze Buchbestände aus aufgelösten oder zerschlagenen Bibliotheken verkaufte oder an Bibliotheken mit ähnlicher fachlicher Ausrichtung weitergab. So gelangte das Institut in Kiel in den Besitz der 20.000 Bände der Bibliothek des Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe, die zu dem Zeitpunkt aufgrund verschiedener Umzüge völlig ungeordnet war und deren Makulatur drohte.
Dass auf den beschriebenen Wegen auch Werke in den Bibliotheksbestand gelangten, deren Herkunft bisher nicht geklärt ist und auf Beute-, wenn nicht gar Raubgut schließen lässt, wird momentan in der ZBW durch ein Projekt der Provenienzforschung untersucht.[6]
Während des zweiten Weltkriegs war Kiel als Marinehafen und Werftstandort ein bevorzugtes Ziel für Luftangriffe. Dies wusste auch Wilhelm Gülich und wollte die Bibliothek in Sicherheit bringen. Die Vorbereitungen mussten in aller Stille geschehen und nur zusammen mit den engsten Mitarbeiterinnen, denn eine offizielle Genehmigung für eine Auslagerung gab es nicht. 1942 fand Gülich einen geeigneten Ort im Ratzeburger Dom. Mit mehreren LKW-Fahrten wurden Bücher, Kataloge und Technik nach Ratzeburg gebracht. Die Verlegung aller Bestände nach Ratzeburg und zwei weitere Einlagerungsstätten, wo der Bestand in Kisten lagerte, erforderte 45 Waggons, 6 große Möbelwagen und 24 Lastwagen.
Das Herausragende der Aufstellung im Ratzeburger Dom war aber, dass die Nutzung weiterhin möglich blieb. Die Kataloge und bibliografischen und technischen Einrichtungen, die in Kiel benötigt wurden, standen in Luftschutzkellern und traten erst 1944 ihren Weg nach Ratzeburg an. Der größte Teil des Bestandes war in Regalen in den Seitenschiffen und im Kreuzgang des Doms nutzbar aufgestellt worden, der Katalog befand sich im Kapitelsaal. Was so einfach klingt, war das Ergebnis des Einsatzes vieler. Die Aufstellung der Bücher dauerte zweieinhalb Jahre und beanspruchte neben ca. 30 Bibliotheksangestellten und ihrer beständigen Überstundenbereitschaft rund 60 Personen, die Packarbeiten, Handwerksarbeiten und die Luftschutzwache erledigten. Als Zusatzpersonal für Hilfs- und Handwerksarbeiten forderte Gülich nicht nur Soldaten an, sondern auch Zwangsarbeiter, die zum Beispiel in der örtlichen Tischlerei Regale bauten.

Das zerstörte Institut für Weltwirtschaft nebst Bibliothek. © ZBW.
Bevor das Institut für Weltwirtschaft zerbombt wurde, waren glücklicherweise sämtliche Bücher gerettet.
Nach Kriegsende sollte die Bibliothek umgehend zurück nach Kiel. Doch Wilhelm Gülich stellte sich entgegen, denn es gab keine geeigneten Räume. 4.000 Quadratmeter wurden benötigt, die Größe eines Fußballfeldes. Doch das war 1945 in einem völlig zerstörten Kiel unrealistisch. Und so blieb die Bibliothek noch bis 1949 in ihrem Exil in Ratzeburg. Ein Fahrdienst transportierte wöchentlich Bücher für die Forschenden nach Kiel und wieder zurück.
Im Sommer 1949 schließlich zog die Bibliothek wieder zurück nach Kiel, in eine Kaserne im Stadtteil Kiel-Wik. Die Presse in ganz Deutschland und auch die internationalen Medien (z. B. Svenska dagbladet; Schweizerische Handelszeitung) berichteten über den Umzug und die Bedeutung dieser wirtschaftswissenschaftlichen Spezialbibliothek.

Auslagerung der Bestände 1942 in den Ratzeburger Dom. © ZBW.

Aufstellung der Bibliothek im Ratzeburger Dom. © ZBW.

Bibliothek in der Kaserne Kiel-Wik, Kataloge, o. J. © ZBW.
Die Bibliothek entwickelt und vernetzt sich und wird Zentralbibliothek in der Bundesrepublik
Die Nachkriegsjahre waren geprägt durch intensives Netzwerken. Die Bibliothek nahm alle ihre internationalen Tauschbeziehungen wieder auf, pflegte Kontakte zur Politik und zu nationalen und internationalen Bibliotheken. Prominenz aus Politik und Gesellschaft gaben sich die Klinke in die Hand: Anlässlich der Einweihung des institutseigenen Gästehauses 1952 besuchte Bundespräsident Theodor Heuss das Institut und die Bibliothek. Internationale Professorinnen und Professoren, Botschaftsangehörige, die ZEIT-Herausgeberin Gräfin Dönhoff gehörten in den Folgejahren ebenso zur Besucherschar wie der amerikanische Verleger Garrison K. Hall. Dieser war von Bibliothek und Katalog so beeindruckt, dass er initiierte, den gesamten Kartenkatalog zu verfilmen und in 2.007 Bänden zu veröffentlichen.
Und nicht nur die Nachweise sollten der akademischen Öffentlichkeit zugänglich sein, auch der Bestand sollte dies sein. 1953 schloss sich die Bibliothek an den Leihverkehr der deutschen Bibliotheken an. Räumlich wurde es in der ehemaligen Kaserne schnell wieder zu eng. Die Anmietung weiterer Gebäude wurde erforderlich auf dem Kasernengelände und auf einem Industriegelände, wo ein Außenmagazin eingerichtet wurde.
Mitte der 1950er Jahre arbeiteten 80 Beschäftigte für die Bibliothek. Wilhelm Gülich war mittlerweile Abgeordneter der SPD im Bundestag und Finanz- und Haushaltsexperte seiner Fraktion, nachdem er über ein Jahr lang Finanzminister in Schleswig-Holstein gewesen war. Er starb 1960.
Prof. Dr. Gertrud Savelsberg übernahm für eine Übergangszeit die Leitung. 1961 wurde Dr. Erwin Heidemann, der schon seit 1944 für die Bibliothek tätig war, Bibliotheksdirektor und leitete die Bibliothek 30 Jahre lang.[7]
Die Sammlung der Bibliothek war in den 1960er Jahren nicht nur die größte der Bundesrepublik. Sie war aufgrund ihrer aktuellen und schnell bereitgestellten Werke DIE Forschungsbibliothek für die Wirtschaftswissenschaften. Nach ausführlicher Evaluierung verlieh die Deutsche Forschungsgemeinschaft der Bibliothek an der Förde 1966 den Status der Zentralbibliothek der Wirtschaftswissenschaften in der Bundesrepublik - ZBW. Dies qualifizierte sie gleichzeitig für eine Gemeinschaftsförderung von Bund und Ländern. Ihr offizieller Sammlungsschwerpunkt war nun die Volks- und Weltwirtschaft. Zwei Jahre später wurde der 1.000.000. bibliografische Band katalogisiert.

Institut und Bibliothek wieder vereint am Düsternbrooker Weg. © ZBW.
Dieses „offizielle Gewicht“ legte die Bibliothek in die Waagschale und erhielt 1971 erstmals einen Neubau. Dieses Gebäude entsprach voll und ganz den Bedürfnissen einer wissenschaftlichen Forschungs- und Spezialbibliothek. Zum ersten Mal seit der Auslagerung 1942 befanden sich Forschung und Bibliothek wieder an einem Ort, an der Kiellinie. Das neue Gebäude - der „Kubus“ - war ausgestattet mit neuester Technik und bot Platz für 30 Regalkilometer.
Doch schon wenige Jahre nach dem Einzug in den Kubus reichte der Platz für den wachsenden Bestand nicht mehr aus. 1981 waren die 30 Regalkilometer komplett ausgelastet. Dafür verantwortlich war die zunehmende Publikationsflut bereits in den 1970er Jahren. Schweren Herzens hatten sich Instituts- und Bibliotheksleitung dazu entschlossen, das Sammelgebiet der Bibliothek nach und nach auf die Kernaufgabe der Beschaffung und Vorhaltung von volkswirtschaftswissenschaftlichem Schriftgut zu beschränken. Thematische Randgebiete, die zu Zeiten Wilhelm Gülichs zum Selbstverständnis des Sammelgebietes gehört hatten, waren nun nur noch nachrangig. Auch die Sammlung von Material in unterschiedlichen Sprachen wurde - mit Ausnahme Osteuropas - nach und nach zugunsten englischsprachiger und deutschsprachiger Literatur reduziert, da viele Abhandlungen inzwischen zumindest englischsprachige Zusammenfassungen enthielten. Diese Maßnahmen beschränkten zwar den potentiellen jährlichen Zuwachs, trotzdem wuchs der Gesamtbestand natürlich weiter und der Wissenschaftsrat bemängelte in einem Gutachten explizit die „völlig unzureichende“ Magazinfläche.

1992 löst Horst Thomsen Erwin Heidemann als Bibliotheksleiter ab. © ZBW.
Doch nicht nur der Platzmangel war ein Problem, auch Bauschäden machten die Arbeit zunehmend schwieriger. Ein größerer Neubau musste her.
All dies fiel in eine Zeit, in der die Bibliothek unter ihrem seit 1992 amtierenden Leiter Horst Thomsen auch inhaltlich neue Wege beschritt.[8] Die noch junge Einrichtung der Online-Zugänge, die es seit 1986 gab, hatte den Anfang der Digitalisierung markiert.
Horst Thomsen war nicht mehr wie sein Vorgänger Erwin Heidemann von den Gülichschen Werten geprägt, der die Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft als einen unabhängig agierenden Monolithen in der Landschaft der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Spezialbibliotheken verstand. Thomsen hatte seit Beginn seiner Tätigkeit als Referent in den 1970er Jahren die schrittweise Einführung der Digitalisierung begleitet und setzte nun wie sein Kollege Wolfgang Scherwath am Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA) stärker auf Vernetzung.[9]

Grundsteinlegung des heutigen Bibliotheksbaus der ZBW durch Ministerpräsidentin Heide Simonis am 16. Juli 1998. © ZBW.
Parallel liefen seit 1997 die Vorbereitungen zum Auszug aus dem „Kubus“. Nur für einen Tag schloss die Bibliothek. Am 16. Juli 1998 wurde der Grundstein für das heutige ZBW-Gebäude in Kiel gelegt. Ministerpräsidentin Heide Simonis und der deutsche Wirtschaftsminister Günter Rexrodt mauerten der Tradition entsprechend eine Dokumentenrolle in das Fundament ein.
Am 23. Mai 2001 wurde das jetzige ZBW-Gebäude nach Entwürfen des Kölner Büros Walter von Lom mit einer Gesamtfläche von 15.000 Quadratmetern offiziell übergeben.

ZBW Kiel. Foto: Stefan Vorbeck, © ZBW.
Ein bibliothekarischer Kreis schließt sich
Wie von ihren Gründern angestrebt, war die ZBW zum Ende des 20. Jahrhunderts zu einer der bekanntesten und international am besten ausgestatteten volkswirtschaftlichen Fachbibliotheken aufgestiegen. Für die betriebswirtschaftliche Forschung verteidigte in Deutschland parallel die Bibliothek des Hamburgischen Welt-Wirtschaftsarchivs HWWA ihren guten Ruf. Die Einführung von Forschungsabteilungen ab 1948 führte zu einer erheblichen Aufwertung der Bibliothek, die nun nicht mehr nur eine an der Wirtschaftspraxis ausgerichtete Sammlung aufbaute, sondern auch wirtschaftswissenschaftlich aufgestellt war. Ihr Status als Depotbibliothek verschiedener Organisationen von der UN bis zur Europäischen Gemeinschaft unterstrich ihre Bedeutung als betriebswirtschaftliche Fachbibliothek.
Ab den 1970er Jahren arbeiteten die Bibliothek des HWWA und die Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft in einzelnen Projekten enger zusammen. Die beiden Bibliotheken in Kiel und Hamburg erstellten gemeinsam den Standard-Thesaurus Wirtschaft und stimmten sich beim Ausbau ihrer Bestände eng ab.
2005 schloss sich ein bibliothekarischer Kreis für die Wirtschaftswissenschaften. Nach einer Evaluierung empfahl die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder die Fusion der Bibliothek des HWWA und der Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft zu einer vom Institut für Weltwirtschaft unabhängigen Einrichtung. Erstmals lief ab 2007 die Versorgung von Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft unter einem Dach. Dieses Dach hieß ZBW - Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft.

ZBW Hamburg, Neuer Jungfernstieg 21. Foto: ZBW, © ZBW.
Die ZBW bekam in diesem Zuge nicht nur einen prominenten zweiten Standort. Die ZBW war nun die Bibliothek für alle Wirtschaftswissenschaften in ganz Deutschland.
Eine forschungsbasierte Informationsinfrastruktur
2010 startete die ZBW in eine neue Ära. Mit der Berufung des Informatikers Klaus Tochtermann zum Direktor baute die ZBW 2010 die anwendungsorientierte Forschung in den Bereichen Informatik und Informationswissenschaft auf. Sie wollte sicherstellen, dass die Infrastrukturangebote der ZBW auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren.

Klaus Tochtermann mit der Forschergruppe der ZBW 2017. Foto: Sven Wied, © ZBW.
Inzwischen befassen sich die an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angesiedelten Professuren und eine internationale Gruppe von Doktorandinnen und Doktoranden unter der Leitung von Klaus Tochtermann mit der Frage, wie die Digitalisierung der Wissenschaft Forschungs- und Publikationsprozesse verändert. In diesem Themenkomplex betreibt die ZBW zudem wissenschaftspolitische Beratung auf nationaler und internationaler Ebene.
Die ZBW ist in ihrer Forschung international vernetzt. Hauptsächliche Kooperationspartner kommen aus EU-Großprojekten, aus DFG-Projekten, aus BMBF-Projekten sowie aus dem Leibniz-Forschungsverbund Open Science.
Mit dem Thema „Open Science“ hat die ZBW Agenda Setting betrieben: Die internationale „Open Science Conference“ bietet seit 2012 ein Forum, bei dem Forschende, Fachleute aus Bibliotheken, Infrastrukturanbieter, Entscheiderinnen und Entscheider aus Politik und Wissenschaft neueste und zukünftige Entwicklungen im Umfeld von Open Science diskutieren. Die neue ZBW erforscht nicht nur Forschungsinfrastrukturen, sondern ist selbst eine Einrichtung, die über die Vorstellung von einer Bibliothek als physischem Raum der Magazinierung von Literatur oder auch als Ort des Lernens hinausgewachsen ist.

ZBW-Innenansicht 2019. Foto: Timo Wilke, © ZBW.

ZBW-Innenansicht 2019. Foto: Timo Wilke, © ZBW.
Die heutige Stiftung ZBW - Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft (ZBW) ist die weltweit größte Informationsinfrastruktur für die Wirtschaftswissenschaften. Die Einrichtung beherbergt rund vier Millionen Medieneinheiten und ermöglicht über das Portal EconBiz den Zugang zu Millionen wirtschaftswissenschaftlicher Online-Dokumente.
Die ZBW wurde mehrfach für ihre innovative Bibliotheksarbeit mit dem internationalen LIBER Award ausgezeichnet. Im Jahr 2014 erhielt sie vom Deutschen Bibliotheksverband (dbv) den Innovationspreis „Bibliothek des Jahres“. Die Begründung:
„Die ZBW ist eine radikal moderne Bibliothek, deren Kunden- und Innovationsorientierung als Vorbild für andere Bibliotheken dienen kann.“
Article Note
Der Text basiert auf den Recherchen der Historikerin Claudia Thorn. Ihre Erkenntnisse können Sie in den beiden Bänden „Erst königlich dann weltbekannt. Entwicklungsetappen der ZBW - Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft“ und „Persönlichkeiten. Keine Bibliothek ohne Leidenschaft“ nachlesen. Die Publikationen sind zu finden auf der ZBW-Jubiläumsseite https://100jahre.zbw.eu/geschichte. Auf der Webseite finden Sie darüber hinaus: einen fünfminütigen Film zur Geschichte der ZBW (https://youtu.be/cAKF7SPxLiw), einen Zeitstrahl zur Geschichte und Texte und Filme zur Ausstellung „Open UP! Wie die Digitalisierung die Wissenschaft verändert“.
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Elisabeth Flieger
© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Editorial
- Themenheft: Bibliothekar*innen als Autor*innen
- Nicht nicht schreiben
- Schreiben als Nebentätigkeit eines Bibliothekars - mehr Lust als Last!
- Der Bibliothekar als Autor
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- „Hands-on“ und „connecting tissue“ - Wissenschaftliche Bibliotheken und Digitalisierung in den USA
- Fachinformationsdienst Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft - ein Werkstattbericht
- 100 Jahre ZBW - Entwicklungsetappen einer wissenschaftlichen Bibliothek
- Stellungnahme zur Evaluation des Hessischen Bibliotheksgesetzes
- Notizen und Kurzbeiträge
- Das neue Kulturzentrum der Bürger von Haaksbergen
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